Brasilien. Martin Curi

Brasilien - Martin Curi


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würden aber für Geld die französischen Farben verteidigen. Sie hätten also ihre Heimatliebe verkauft. Viele Brasilianer befürchten Ähnliches von ihren Spielern, und Fälle wie Paulo Rink, Kuranyi oder Cacau bestärken diese Angst.

      2002: Spagat zwischen Disziplin und Leichtigkeit

      Die Bedrohung durch den Markt wurde zum bestimmenden Thema der Weltmeisterschaften des 21. Jahrhunderts. Nach dem emotionalen und abergläubischen Zagallo wurde 2002 in Japan und Südkorea der Hardliner Luiz Felipe Scolari, kurz Felipão, zum Nationaltrainer berufen. Er war die vielleicht entscheidende Figur dieses Turniers.

      Die Seleção spielte bei Weitem kein herausragendes Turnier und konnte in keiner Weise den fußballkünstlerischen Ansprüchen des Publikums gerecht werden.

      Aber Felipão gelang der Spagat zwischen professioneller Disziplin in Training und Spiel sowie emotionaler Fröhlichkeit in der Öffentlichkeitsarbeit. In Brasilien ist es bis heute unvergessen, dass ein Kamerateam nach einem Sieg mit ins Flugzeug der Nationalmannschaft durfte und dort die Stars beim Singen und Tanzen des Liedes „Ich lass mich vom Leben treiben“3 filmte. Das Lied kommt in etwa einer Hymne des brasilianischen Selbstverständnisses von Improvisation, Flexibilität und Unbekümmertheit gleich. Außerdem begann Felipão von der „Familie Scolari“ zu sprechen, wenn er sich auf die Seleção bezog. Das hatte ebenfalls einen äußerst positiven Einfluss auf seine Außendarstellung. Mit diesem guten Marketing gelang es ihm trotz der nur durchschnittlichen Leistungen, das Team zu formen und die Öffentlichkeit hinter sich zu bekommen.

      Im Finale wartete mit Deutschland erneut eine europäische Mannschaft, die mit Spielern wie Klose, Neuville und besonders Asamoah unter Verdacht stand, den Erfolg kaufen zu wollen. Brasilien stand 60 Minuten in der Abwehr und schlug in der letzten halben Stunde gegen die inzwischen erschöpften Deutschen zweimal eiskalt zu. Der fünfte Titel wurde mit einer fast italienisch anmutenden Taktik und den Manndeckern Lúcio und Roque Junior gewonnen. In der Öffentlichkeit standen jedoch die „drei Stürmer-Rs“: Ronaldo, Rivaldo und Ronaldinho Gaucho, im Zentrum. Brasilien konnte sich endlich wieder als überlegene Offensivkraft wahrnehmen, die durch Angriffsfußball zu verzaubern weiß. Außerdem hatte man vier Jahre nach dem Frankreich-Trauma gezeigt, dass es möglich war, eine europäische Mannschaft zu besiegen. Cafu zeigte seine Heimatverbundenheit bei der Pokalvergabe, indem er seinen Geburtsort Jardim Irene auf seinem Trikot verewigte.

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      Brasilianische Fans bei der WM 2006 in Deutschland: Nur die weiße Oberund Mittelschicht kann sich solche Europareisen leisten.

      2006: Brasilianischer Fußballzirkus

      Zu diesem Zeitpunkt lebte ich schon in Brasilien und konnte zusehen, wie das nationale Selbstbewusstsein von Tag zu Tag wuchs. Die Titelverteidigung bei dem nächsten Turnier wurde eigentlich nur als Formsache betrachtet. Mit diesem aufgeblähten Nationalstolz kamen die Brasilianer zur WM 2006 nach Deutschland. Zunächst aber kamen sie nach Weggis, einem kleinen Ort in der Schweiz. Dort fand ein Trainingslager unter der Leitung von Coach Parreira statt. Der Weltmeister von 1994 stand eigentlich für Taktik und Disziplin. Doch auch er konnte sich der Euphorie im eigenen Land nicht erwehren. Zu den Trainingseinheiten wurde nicht nur die einheimische Bevölkerung zugelassen, sie wurden sogar live im brasilianischen Fernsehen übertragen.

      Eine ernsthafte Vorbereitung sieht sicher anders aus, doch Team, Verband und Fans waren so von sich überzeugt, dass sie die Übertragung der Trainingseinheiten regelrecht forderten. Der Verband sah darin zudem die Gelegenheit einer kleinen Zusatzeinnahme. Folge war jedoch, dass die Seleção unkonzentriert und schlecht vorbereitet zur WM nach Deutschland reiste. Entsprechend pomadig absolvierte man die Vorrunde mit drei lustlosen Siegen gegen Kroatien (1:0), Australien (2:0) und Japan (4:1). Auch Ghana (3:0) im Achtelfinale war kein Problem. Im Viertelfinale jedoch wartete der Angstgegner Frankreich.

      Brasiliens viertes WM-Spiel gegen Frankreich bedeutete zum dritten Mal das Ende der brasilianischen Titelträume. Ein alles überragender Zinedine Zidane dirigierte sein Team zum Sieg und gab die entscheidende Vorlage zu Henrys 1:0-Treffer in der 57. Minute. In der brasilianischen Trauerverarbeitung wurde später kein Wort über die mangelhafte Vorbereitung gesagt. Stattdessen schob man Roberto Carlos die Schuld in die Schuhe. Er wäre für Henry zuständig gewesen, hatte es aber vorgezogen, im entscheidenden Augenblick seine Socken zu richten.

      Nach dem Spiel zeigten die TV-Kameras, wie Robinho und Zidane, beide bei Real Madrid unter Vertrag, und Zé Roberto und Willy Sagnol, beide beim FC Bayern München, sich in den Armen lagen. Für die brasilianischen Fans war die Sache klar: Ihr Favorit hätte niemals verlieren dürfen. Der Grund für die Niederlage konnte also nur darin liegen, dass die Spieler sich verkauft hätten. Sie waren durch ihre langjährigen Europaaufenthalte schon mehr Ausländer als Brasilianer. Heimatliebe schien käuflich.

      2010: Disziplin und harte Hand unter Dunga

      Anschließend entschied der brasilianische Fußballverband, die Nationalmannschaft wieder mit harter Hand und Disziplin zu führen. Damit gestand man indirekt ein, dass das öffentliche Trainingslager in Weggis mitverantwortlich für den enttäuschenden Turnierverlauf war. Schon kurz nach der WM in Deutschland wurde mit Dunga der neue Nationaltrainer präsentiert. Eine äußerst umstrittene Entscheidung, denn Dunga war selbst als erfolgreicher Spieler ziemlich unbeliebt.

      Das Verhältnis zwischen Dunga und der Presse war vom ersten Tag an belastet. Im Grunde genommen stand er auf verlorenem Posten, und es stellt sich die Frage: „Warum tut sich jemand so etwas an?“ Vermutlich wollte er vor allem beweisen, dass er Brasilianer ist und erfolgreich sein kann. Dungas Statistik liest sich beeindruckend: Von den 60 Spielen unter seinem Kommando wurden 42 gewonnen, und man musste sich nur sechsmal geschlagen geben. Er gewann 2007 die Copa America und 2009 den Confederations-Cup. Doch jedem Sieg folgte die gleiche Analyse: Es wäre kein „brasilianisches“ Spiel gewesen; und lieber würde man verlieren, als mit solch hässlichen Methoden Weltmeister zu werden. Dunga konnte sich seines Images als Kraftfußballer einfach nicht entledigen.

      Während der WM 2010 in Südafrika eskalierte der Konflikt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hielt Dunga alle Trainingseinheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Und auch sonst machte er den Journalisten das Leben schwer, wenn sie die Spieler treffen wollten. In der Vorrunde versperrte er einem Kamerateam von TV Globo, der größten und einflussreichsten Fernsehanstalt Brasiliens, sogar den Zugang zum Hotel, was die Betroffenen als Zensur interpretierten und dementsprechend öffentlich ausschlachteten.

      In einer der folgenden Pressekonferenzen zischte Dunga leise Schimpfwörter durch die Zähne, als ein Journalist von TV Globo Fragen stellte. Die Fernsehmikrophone fingen diese Beleidigungen jedoch auf, und Dunga wurde als ungezogen und unkontrolliert abgestempelt. Niemand berücksichtigte, dass er seit Jahren schlecht behandelt wurde und einfach mit den Nerven am Ende war. Wobei die brasilianische Presse einen hohen Anteil daran hatte, dass die Situation so verfahren war. Auf der anderen Seite verstand es Dunga aber auch nicht, mit dieser Situation umzugehen, während sein Vorgänger Felipão eine vorbildliche Öffentlichkeitsarbeit geleistet hatte.

      Die Seleção spielte auch 2010 eine pomadige Vorrunde, setzte sich aber gegen Nordkorea (2:1), die Elfenbeinküste (3:1) und Portugal (0:0) durch. Das beste Spiel war das 3:0 gegen Chile im Achtelfinale. Im Viertelfinale wartete gegen Holland erneut das vorzeitige Aus. In der ersten Halbzeit dominierte Brasilien das Spiel und konnte durch Robinho nach genialem Pass von Felipe Melo 1:0 in Führung gehen. In der zweiten Halbzeit zeigte man jedoch ein komplett anderes Gesicht. Erst behinderte Felipe Melo den eigenen Torwart und verursachte so den Ausgleich, dann gelang Sneijder der 2:1-Siegtreffer für die Niederlande. Zudem wurde Felipe Melo vom Platz gestellt und avancierte damit zum Sündenbock für die Fans. Die brasilianischen Spieler verloren zwischenzeitlich völlig die Fassung und schrien sowohl sich als auch ihre Gegenspieler an. Unmittelbar nach dem Spiel erklärte Dunga seinen Rücktritt.

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      Brasilianische


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