Brasilien. Martin Curi
in die Duschen der Umkleidekabine und bedeckte Garrincha inmitten seiner nackten Mitspieler mit Küssen.
Die Weltmeisterschaft 1962 in Chile gilt als die WM Garrinchas. Er befand sich auf seinem Karrierehöhepunkt. Nach der Rückkehr nach Rio de Janeiro spielte er eine brillante Saison in der Stadtmeisterschaft von Rio de Janeiro. Das Finale gegen Flamengo gilt als das beste Spiel seiner Laufbahn und läutete zugleich das Ende seiner Karriere ein. Die krummen Beine belasteten die Knie zu sehr, und er musste operiert werden. Anschließend fand er nie mehr zu alter Form zurück.
Gleichzeitig wuchsen seine Probleme außerhalb des Spielfeldes. Noch heute gilt Garrincha in Brasilien als das Schmuddelkind des Fußballs und wird eher kritisch beurteilt, ja oft sogar in den Bestenlisten vergessen. Mit seiner naiven und unbekümmerten Art verkörpert er die ungebildete und instinktgetriebene Seite Brasiliens, die von Lyra so kritisiert wurde. Seine Frauenaffären, besonders die mit Elza Soares, wurden ihm zum Verhängnis. Nach dem Militärputsch 1964 wurde das Paar vom Geheimdienst beobachtet, später durchsuchte man sogar ihr Haus. 1970 sahen sich beide gezwungen, zwei Jahre in Rom zu verbringen, um dem Rummel zu entfliehen.
Dazu kam Garrinchas Alkoholismus, der ihm quasi in die Wiege gelegt worden war, denn seine Eltern gaben ihren Kindern Schnuller, die mit Honig und Schnaps gefüllt waren. Nach einem von Garrincha verschuldeten Autounfall, bei dem Elzas Mutter starb, fiel er in eine Depression. An Fußballspielen war nicht mehr zu denken. In den frühen 1980er Jahren wurde er mehrfach volltrunken auf der Straße gefunden und verstarb am 20. Januar 1983 nach einer letzten durchzechten Nacht.
Damit verfügte das Leben Garrinchas über sämtliche Elemente, die ihn als exotischen Vertreter des südamerikanischen Fußballs interessant machen. Diese Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn mag für Europäer attraktiv sein, für Brasilianer ist sie Ausdruck von Unprofessionalität und Unsportlichkeit und wird als primitiv abgelehnt. Garrincha wurde für seine Landsleute zu einem neuen Barbosa. Ein Mann, der vom Ruhm in die Asche gefallen ist.
1966: Frühes Aus in England
Brasilien sehnte sich nach einem Aschenputtel, das den Weg in die andere Richtung geht. Einen dunkelhäutigen Brasilianer, möglichst aus armen Verhältnissen, der zum Weltstar wird und von allen als Vorbild anerkannt wird. Diese Geschichte wurde von Garrinchas Nationalmannschaftskollegen Pelé geschrieben. Er wurde 1940 in dem kleinen Ort Três Corações im Bundesstaat Minas Gerais geboren und lernte sein Handwerk von seinem Vater, einem Fußballprofi, in Baurú (São Paulo), einem der jungen industriellen Zentren des aufstrebenden Brasiliens. Pelé erfuhr von klein auf, dass Fußballspielen ein Job ist, bei dem man Disziplin und Durchhaltevermögen braucht. Mit 15 Jahren wurde das Ausnahmetalent vom Santos FC (bei São Paulo) unter Vertrag genommen, mit 17 spielte er 1958 an der Seite Garrinchas seine erste WM. 1962 verletzte er sich im zweiten Spiel und kam nicht mehr zum Einsatz.
Auch bei der Weltmeisterschaft 1966 in England lief es nicht besonders: Pelé wurde praktisch aus dem Turnier getreten, und Brasilien schied nach einem Sieg gegen Bulgarien (2:0) und Niederlagen gegen Ungarn (1:3) und Portugal (1:3) bereits in der Vorrunde aus.
1970: „Futebol Arte“
1970 konnte Pelé diese Scharte auswetzen, denn in Mexiko zelebrierte nicht nur er, sondern die gesamte brasilianische Nationalmannschaft Fußball in einer Art und Weise, die zu einem seitdem nicht mehr erreichten Ideal wurde.
Der von der Seleção bei der WM 1970 gezeigte Stil gilt in Brasilien als Aushängeschild des „Futebol Arte“, der artistischen Fußballkunst und des schönen Spiels, für das man berühmt ist. Spieler wie Tostão, Rivelino, Jairzinho oder Paulo Cézar Caju stehen für die brasilianische Überlegenheit. Die Seleção gewann sämtliche sechs Turnierspiele und erkämpfte sich dabei ein Torverhältnis von 19:7. Unvergessen eine Szene aus dem Halbfinale, als Pelé den uruguayischen Torwart Mazurkiewicz austrickste. Beide stürmten auf einen langgeschlagenen Ball zu, als Pelé antäuschte, den Ball mitzunehmen, ihn tatsächlich aber ohne Berührung vorbeilaufen ließ. Mazurkiewicz rutschte ins Leere, und Pelé konnte das Leder freistehend vor dem leeren Tor annehmen. Der Winkel war allerdings zu spitz, um ein Tor zu erzielen. In Brasilien nennt man diesen Trick „das Kuhdribbling“.
Beim 4:1-Finalsieg gegen Italien erklommen die Spieler in Gelb und Grün den Olymp des Fußballs. Die heutigen Erzählungen suggerieren, dass sich einige Fußballgenies trafen, die leichtfüßig, instinktiv und ohne große Vorbereitung ihre Kreativität ausleben konnten. Der brasilianische Hüftschwung, den man im Blut haben muss und den man nicht trainieren kann, hatte sich gegen europäische Kraft und Wissenschaft durchgesetzt.
Betrachtet man diesen Diskurs, so überrascht es, dass der brasilianische Fußballverband wie schon bei den vorangegangenen Turnieren einen kompletten Trainerstab anheuerte, der einen detaillierten Vorbereitungsplan entwarf. Kernstück war eine langsame, etappenweise Gewöhnung der Spieler an die mexikanische Höhenluft. In dieser Planung war der Tag des Finales als Höhepunkt der Leistungsfähigkeit vorgesehen.
Nie spielten Brasilien und Pelé schöner als 1970.
Der Plan war 1969 von Professor Lamartine und Nationaltrainer Saldanha ausgearbeitet worden. Beide waren der Meinung, dass die Leistungsminderung in der Höhenluft größtenteils auf psychologische Faktoren zurückzuführen sei. Also ließ man die Spieler in Unkenntnis über die wahren Motive des Trainings. Gegen Ende des Jahres wurde Saldanha, der im Ruf stand, Kommunist zu sein, auf Geheiß der Militärregierung entlassen und Zagallo als neuer Trainer berufen. Laut Professor Lamartine wurde selbst Zagallo in Unkenntnis gelassen.
Interessanterweise veränderten sich die Berichte über die Ereignisse von 1970 im Laufe der Jahre. Dem Sportsoziologen Antonio Jorge Soares zufolge betonten brasilianische Tageszeitungen im Jahr 1970 den wissenschaftlichen Diskurs rund um die Nationalmannschaft. Nach seiner Analyse bezogen sich 1970 62 % der untersuchten Zeitungsartikel auf die wissenschaftliche Vorbereitung und nur 13 % auf die Fußballkunst. In rückblickenden Artikeln im Jahr 1998 hat sich dieses Verhältnis umgedreht: 79 % über Fußballkunst und 4 % über Wissenschaft. Im Jahr 2002 ist der Diskurs zum Thema Wissenschaft schließlich komplett verschwunden.
1974: Altherrenmannschaft mit lauem Auftritt
Pelé ist das bekannteste Gesicht dieser artistischen Mannschaft. 1970 hatte er mit seinem Verein Santos FC schon alles gewonnen, was es zu gewinnen gab – selbst den Interkontinentalpokal (1962 gegen Benfica Lissabon und 1963 gegen den AC Mailand). 1971 verabschiedete sich Pelé aus der Nationalmannschaft und konnte seinen Kollegen bei der WM 1974 in Deutschland nicht mehr helfen. In der Zwischenrunde verlor man mit 0:2 gegen Holland und zog schließlich auch im Spiel um den dritten Platz gegen Polen mit 0:1 den Kürzeren. In Brasilien gilt diese Seleção als eine Altherrenmannschaft, die einen eher lauen Auftritt hatte.
Pelé hingegen ließ in den Jahren von 1975 bis 1977 seine aktive Laufbahn in den USA bei Cosmos New York ausklingen. Das mag, sportlich gesehen, nicht mehr die größte Herausforderung gewesen sein, aber es war der entscheidende Schritt zu seiner gesellschaftlichen Anerkennung. Der arme, dunkelhäutige Junge aus der Dritten Welt lernte Englisch und zog in die USA, also in die Erste Welt, wo er sich durchsetzte. Pelé erlebte sein persönliches Aschenputtelmärchen. Bis heute wohnt er in New York, wo er regelmäßig Schirmherrschaften für soziale Projekte und Kampagnen, zum Beispiel der UNESCO, übernimmt. Pelé wurde vielfach ausgezeichnet. So ist er „Lord des Britischen Empires“ und „König des Fußballs“. Von 1995 bis 1998 war er brasilianischer Sportminister. Er verkörpert die brasilianische Version des Traums „vom Tellerwäscher zum Millionär“.
1978: Vorzeitiges Aus unter dubiosen Umständen
Sowohl Garrincha als auch Pelé standen für den Gegensatz von brasilianischer Fußballkunst und europäischem Kraftfußball. Mit der WM 1978 in Argentinien kam zu dieser Kategorisierung noch eine innerlateinamerikanische Standortbestimmung. Der südliche Nachbar von Brasilien hatte bis dato keine nennenswerten Erfolge