Brasilien. Martin Curi
zum Gedenken an die brasilianische Unabhängigkeit ausgetragen. Wir sind für hundert Jahre Titelverteidiger, erst 2022 werden wir wieder antreten müssen!“
Doch das kurioseste Stück ist ein halber, auf ein Stück Holz geklebter Pokal. „In einer Meisterschaft trafen wir auf unseren Lokalrivalen São Paulo. Das erste Finale endete unentschieden. Man beschloss daraufhin, ein Entscheidungsspiel auszutragen. Das endete wiederum unentschieden, und jedes weitere Spiel auch. Die Fans wollten den Wettbewerb schon nicht mehr sehen, und so dachte man über Lösungen nach. Irgendwann kam man darauf, den Pokal in der Mitte auseinanderzusägen und jeder Mannschaft eine Hälfte zu überreichen.“ Wahrlich ein salomonisches Urteil brasilianischer Art.
Es scheint, als seien die dunklen Geschäftsräume des Sport Club eine unerschöpfliche Schatzkammer voll kurioser und wissenswerter Geschichten rund um den brasilianischen Fußball. Aber gleichzeitig bekommt man dort auch ein bisschen Wehmut über den Niedergang, denn die große Zeit des Vereins und der Stadt liegt lange zurück. Auch der Hafen hat längst nicht mehr die Bedeutung einer internationalen Drehscheibe wie früher. „Fußball ist heute ein Geschäft, und die großen Vereine sind dort, wo das Geld ist. Schau dir nur die erste Liga an: da sind Vereine aus Rio de Janeiro, São Paulo, Belo Horizonte und eben Porto Alegre. Aber ich hoffe, dass es wieder aufwärtsgeht, denn jetzt wird hier ein neuer Superhafen gebaut. Die Einwohnerzahl der Stadt soll sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Die Grundstückspreise schießen wie wild nach oben.“
Helena ist spürbar skeptischer als ihr Präsident: „Ich habe die ganze Dokumentationsarbeit der Briefe und Pokale ehrenamtlich gemacht, und nur aus Liebe zum Verein. Ich bekam nie auch nur einen Centavo dafür. Wir haben hier einen Schatz: die Wiege des Fußballs unseres Landes. Und weder Verband noch Politik interessieren sich dafür. Alles, was es gab, waren Unterstützungsbriefe. Ich habe unseren Verein immerhin als kulturelles Erbe des Landes registrieren lassen können. Aber wir haben immer noch große Probleme: Zum Beispiel müsste man wissen, wie man diese Dokumente richtig lagert. Keiner von uns hat eine museumswissenschaftliche Ausbildung.“
Ihr großer Traum ist es, in Rio Grande ein gut ausgestattetes Museum über den ältesten Fußballverein Brasiliens einzurichten. Und bis dahin zeigt sie die Stücke den Schülern in den örtlichen Schulen oder in Wanderausstellungen auf der Straße. Irgendwie macht sie das Beste aus ihren Möglichkeiten und beweist dabei den alten, unabhängigen Geist der Gaúchos aus der Farroupilha-Revolution. Man ist zwar weit weg vom Zentrum des Landes, aber man hat seinen Stolz und ist immer irgendwie zurechtgekommen, auch und insbesondere gegen den Widerstand der alten Hauptstadt Rio de Janeiro.
Die Familie Lawson ist in Rio Grande geblieben: „32 Jahre lang haben Mitglieder meiner Familie den Präsidenten des Vereins gestellt. Erst mein Großvater, dann mein Vater und jetzt ich. Es ist so etwas wie eine familiäre Verpflichtung.“ Im Gegensatz dazu kümmerte sich Johannes Minnemann vor allem um seine Karriere als Angestellter einer internationalen Spedition. Er kehrte 1912 nach Deutschland zurück und verstarb 1929 in Portugal. Seine Nachfahren leben auf diese drei Länder verstreut. Viele von ihnen haben sich in Sportklubs engagiert. „Kann man also sagen, dass die Deutschen den Brasilianern das Fußballspielen beigebracht haben?“, frage ich zum Abschluss unseres Gesprächs. Statt einer Antwort erhalte ich nur Gelächter.
Der Straßenköterkomplex
MIT FÜNF TITELN IST BRASILIEN REKORDWELTMEISTER. UND WÄHREND EINER WELTMEISTERSCHAFT KOMMT DAS LAND REGELMÄSSIG ZUM STILLSTAND.
Eigentlich war der 15. Juni 2010, ein Dienstag, ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag in einem großen Stahlunternehmen am Stadtrand von Rio de Janeiro. Wäre da nicht um 15.30 Uhr das erste Spiel der brasilianischen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika gegen Nordkorea gewesen. Die Unternehmensleitung hatte der gesamten Belegschaft schon mittags Feierabend gegeben, damit jeder rechtzeitig zum Anpfiff daheim sein konnte. Zudem wurden in der Kantine Fernsehgeräte aufgestellt, falls jemand das Spiel dort gemeinsam mit Kollegen verfolgen wollte.
Weil das Unternehmen seinerzeit deutsche Übersetzer benötigte, fand ich mich während der WM zwischen Hochofen und Sinteranlage wieder und studierte gemeinsam mit anderen Mitarbeitern den Aushang mit den WM-Informationen am Schwarzen Brett. „Gar nicht so schlecht“, dachte ich, „das Weltturnier bringt mir mindestens drei zusätzliche Feiertage, da alle Spiele wegen der Zeitverschiebung während der normalen Arbeitszeit ausgetragen werden.“
Ein Land im Stillstand
Am Tag des Auftaktspiels gegen Nordkorea stehen kurz nach Mittag etwa 50 Reisebusse auf dem sandigen Platz vor den Fabriktoren bereit, die uns nach Hause bringen sollen. Fröhlich verabschieden sich die Kollegen. Viele von ihnen haben die blaue Arbeitskleidung gegen das berühmte kanariengelbe Trikot getauscht. Die meisten gehen direkt zu einer Grillparty mit der Familie oder Freunden.
Um halb eins machen sich die Busse auf den Weg ins Stadtzentrum. Eine Fahrt, die normalerweise etwa eine Stunde dauert. Doch schon kurz nach der Auffahrt auf die Stadtautobahn beginnt das Problem: Weil alle Arbeitgeber ihren Mitarbeitern früher freigegeben haben, machen sich alle gleichzeitig auf den Heimweg, und wir stehen fast durchgehend im Stau. Der Stimmung tut das zunächst keinen Abbruch, denn man ist in Feierlaune. Brasiliens Gegner heißt Nordkorea, und der Sieg scheint reine Formsache zu sein. Man winkt den Insassen anderer Busse zu, macht Witze, diskutiert die Aufstellung.
„Wenn du ein bisschen Druck gegen die Koreaner machst, dann könnte das heute sogar ein Torfestival geben“, sagt Rodrigo aus der Verwaltung.
„Aber Dunga ist so ein defensiver Trainer, der hat sicher nicht den Mut, drei Stürmer zu bringen“, zweifelt sein Kollege Marcelo.
Der Ingenieur Assad ergänzt: „Dunga ist bisher nur durch seine Kleidung aufgefallen, aber nicht durch sein Spiel. Warum hat er Ronaldinho und Neymar daheim gelassen? Das wäre doch die offensive brasilianische Spielweise.“
„Heute wird’s einfach, aber in der K.-o.-Runde werden uns diese Spieler fehlen! Ohne diese besonderen Spieler, die Genies, wird man nicht Weltmeister. Warum versteht er das nicht? Ich mag diese grobschlächtige, defensive Art nicht“, schaltet sich Rodrigo wieder in die Unterhaltung ein.
„Sei nicht so pessimistisch“, unterbricht ihn die Sekretärin Juliana, „wir sind Brasilien, wir sind das Land des Fußballs, wir gewinnen! Hauptsache, Kaká spielt.“
Und so scherzt man noch eine Weile weiter. Als der Bus gegen drei Uhr noch immer nicht an seinem Ziel angekommen ist, werden die Angestellten unruhig und der Fahrer nervös. Er fragt: „Kann ich eine Abkürzung fahren, um zu versuchen, den Stau zu umgehen?“ Sein Vorschlag wird angenommen. Für mich bedeutet das allerdings, dass ich relativ weit von meiner Wohnung abgesetzt werde. Zehn Minuten vor dem Anpfiff kommen wir endlich im Stadtteil Laranjeiras an. Weil ich es nun nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffe, schaue ich mir das Spiel in einer Kneipe an.
In der Stadt herrscht Karneval. Pärchen und kleine Gruppen eilen mit Fahnen, Trikots und bemalten Gesichtern durch die Straßen. Die Rua das Laranjeiras ist mit Autos verstopft. Die Menschen tragen Six-Packs unter ihren Armen. Der Trubel ist enorm. Zehn Minuten später ist dann alles vorbei. Von einem Moment auf den anderen ist die Straße wie ausgestorben. Ich geselle mich zu einer Traube von Fußballbegeisterten vor einem Fernseher in einer dieser typischen brasilianischen Snackbars, deren Straßenseite komplett geöffnet ist. Auf dem Gehsteig sieht man niemanden mehr, und Autos fahren auch keine mehr. Nach zehn Minuten Spielzeit kommt ein Linienbus angerattert. Abgesehen vom Fahrer und dem Kontrolleur ist er völlig leer. „Die Armen!“, denke ich mir.
Nicht nur Rio de Janeiro, sondern ganz Brasilien gibt sich für 90 Minuten seinem nationalen Ritual hin. Banken und Geschäfte sind geschlossen, Regierung und Militär außer Kraft gesetzt. Kurzum: Das Land befindet sich im Ausnahmezustand. Gerade hat sich mein Bus noch knapp drei Stunden über die Stadtautobahn gequält – nun würde ich den Weg in einer knappen halben Stunde schaffen, weil sich absolut niemand mehr auf der Straße befindet. Mehr noch als Karneval, Weihnachten und der Unabhängigkeitstag ist die alle vier Jahre stattfindende Weltmeisterschaft