Brasilien. Martin Curi

Brasilien - Martin Curi


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welcher nun der Geburtsort des Nationalsports Nummer eins ist. Rio Grande leidet dabei unter strukturellen Nachteilen, da alle wichtigen Sportverbände, Medienanstalten und Universitäten im sogenannten Zentrum des Landes, also in Rio oder São Paulo, ihren Sitz haben und die dortige Sportgeschichte besser erforscht ist und umfassender darüber veröffentlicht wird. Die „Gaúchos“ hingegen wirken, wie schon in der Farroupilha-Revolution, ähnlich dem umzingelten Gallierdorf von Asterix und Obelix, das sich gegen das Imperium wehrt. Ein wichtiger Teilerfolg war dabei sicherlich die erwähnte Anerkennung des Sport-Club-Gründungstages als „Tag des Fußballs“ durch den CBF.

      Zentraler Punkt in Lawsons Argumentation ist die Behauptung, der SC Rio Grande sei der erste reine Fußballklub Brasiliens gewesen. Das stimmt allerdings nicht ganz, denn in São Paulo waren schon 1899 der Sport Club Internacional sowie Nobilings SC Germania als reine Fußballklubs gegründet. Auf meinen Widerspruch antwortet Lawson: „Ich bezweifle ja nicht, dass schon früher Vereine gegründet wurden, aber sie existieren heute nicht mehr oder zumindest nicht mehr als Fußballklubs. Eine wichtige Charakteristik des SC Rio Grande ist, dass er nie den Spielbetrieb eingestellt hat. Wir hatten unsere Probleme. Wir hatten schlechte Mannschaften. Im Moment sind wir zum Beispiel nur in der zweiten Liga von Rio Grande do Sul. Aber wir haben immer gespielt.“

      Damit wiederum hat er recht, denn alle Vereine des ersten brasilianischen Fußballwettbewerbs, also der Stadtmeisterschaft von São Paulo, haben spätestens mit der Freigabe des Profitums in den 1930er Jahren ihren Spielbetrieb eingestellt.

      „Gut, es kommt natürlich auf den Standpunkt an. Der eine sagt, entscheidend sei das erste Spiel, der andere sagt, es sei der Tag der Vereinsgründung. Ponte Preta aus Campinas wollte uns zum Beispiel den Titel streitig machen. Aber die Forscher vom Fernsehsender History Channel waren hier und fanden Dokumente, die beweisen, dass wir 23 Tage älter sind“, führt Lawson aus.

      Es wäre also korrekter zu sagen, dass der Sport Club Rio Grande der „älteste noch aktive Fußballverein Brasiliens“ ist. Als solcher hat er über die Jahre sicherlich große Pionierleistungen vollbracht. Denn Johannes Minnemann und Arthur Lawson versuchten von Anfang an, die Gründung anderer Fußballklubs zu fördern. Das war durchaus Selbstzweck, denn wäre der Sport Club alleine geblieben, also ohne Gegner, hätte er sicher nur schwer überleben können.

      Lawson: „Die Stadt Rio Grande hatte sogar einmal sechs Fußballvereine: den Sport Club, São Paulo, Rio-Grandense, Americano, Osório und Brasil. Zum Derby wurde das Duell mit São Paulo, unserem großen Rivalen. Wir waren auch hier Geburtshelfer, indem wir Bälle und andere Ausrüstungen verschenkten. Mein Großvater schlug damals vor, der neue Verein solle sich ,São Paulo‘ nennen, da sein Gründer aus dieser Stadt stammte.“

      Doch viel wichtiger ist, dass die heutigen Erstligaklubs Grêmio und Internacional, die beide schon den Weltpokal gewinnen konnten, ohne den Sport Club Rio Grande nicht existieren würden. Minnemann und Lawson organisierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts anstrengende Reisen zu Vorführungsspielen. Darunter auch nach Porto Alegre, wo es Kontakte zur dortigen deutschen Gemeinde gab. Es existierte damals keine direkte Bahnstrecke in die Landeshauptstadt, und so mussten die Fußballmissionare 16 Stunden mit dem Boot reisen. Am 7. September 1903 fand auf einer Auwiese in Porto Alegre ein Spiel zwischen zwei Mannschaften des SC Rio Grande statt. Das Spiel zog große Aufmerksamkeit auf sich, und nur wenige Tage später wurde Grêmio Porto Alegre gegründet.

      Ähnliches wiederholte sich 1909, als in Porto Alegre der SC Internacional entstand. Ein Original vom Einladungsschreiben zum Gründungsspiel dieses später so ruhmreichen Vereins befindet sich im Museum des SC Rio Grande und wird dort eifersüchtig gehütet. „Natürlich hätten sie gern das Dokument. Als ihr Präsident von dessen Existenz erfuhr, begann er am Telefon zu heulen und bot dafür Höchstsummen. Er wurde wütend, als wir dieses Angebot ablehnten. ,Was will so ein kleiner Verein wie Rio Grande damit?‘, fragte er. Aber das ist uns egal. Der Brief bleibt hier.“

      Auf ähnliche Art und Weise formierten sich viele Fußballvereine an der Küste und in der nördlichen Bergregion von Rio Grande do Sul. Vor allem die zahlreichen deutschen Migranten griffen den Fußball begeistert auf. Deutschland war seinerzeit eine der wohl am besten organisierten Sportnationen Europas. Die Vereine boten den nach Brasilien emigrierten Menschen die Möglichkeit, sich zumindest symbolisch mit dem Land ihrer Vorfahren in Verbindung zu fühlen. Außerdem konnten sie über den Sport Erfahrungen austauschen und Geschäfte machen. Schnell wurden die Vereine dadurch zu einem wichtigen sozialen Netz und Identifikationsfaktor.

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      Karte von Rio Grande do Sul: Städte mit Vereinen in der Gaúchomeisterschaft von 1920. Quelle: Mascarenhas, 2012

      Zur selben Zeit war die territoriale Einheit von Rio Grande do Sul erneut bedroht, denn in den von der Tierhaltung bestimmten Landstrichen an der Grenze zu Uruguay gab es eine direkte Bahnverbindung in die uruguayische Hauptstadt Montevideo. Diese war von den Engländern gebaut worden, um Wolle, Felle und Fleisch zu transportieren. Die Engländer brachten auch den Fußball in die Region.

      Schon früh wurden Vereine in den Städten der Pampa Gaúcha gegründet – darunter Guarany aus Bagé (1907), Esporte Clube aus Uruguaiana (1912), Guarani aus Alegrete (1912) und Riograndense aus Santa Maria (1912). Aufgrund der besseren Verkehrsanbindung spielten diese Klubs allerdings häufiger gegen Mannschaften aus Uruguay als gegen Teams aus Porto Alegre. Das missfiel den politischen und sportlichen Entscheidungsträgern in der Landeshauptstadt Porto Alegre. Am liebsten hätte man wohl die Eisenbahnstrecke nach Montevideo unterbrochen, was aber aus wirtschaftlichen und politischen Gründen undenkbar war.

      1919 Einrichtung einer Regionalmeisterschaft

      Als Lösung bot sich die Gründung einer Fußballmeisterschaft für Rio Grande do Sul im Jahr 1919 an. Mannschaften aus der Pampa waren damit gezwungen, nicht nur in die Hauptstadt, sondern auch in andere Regionen des Bundeslandes zu reisen. So versprach man sich eine stärkere Anbindung des Hinterlandes an den Rest des Staates und eine Stabilisierung der Einheit. Die Maßnahme trug offenbar Früchte, denn Rio Grande do Sul existiert bis heute in denselben Grenzen.

      Während ich mit Michael Lawson über die Geschichte Rio Grande do Suls – und insbesondere über den Anteil des SC Rio Grande und seiner Familie an dieser Geschichte – plaudere, trifft die Vereinshistorikerin Helena Portela im Büro des Präsidenten ein. Sie entpuppt sich als lebhafte Frau, die, wie ihr lila Hut verrät, Wert auf modische Accessoires legt. Mit ihrem unwiderstehlichen Charme übernimmt sie sofort das Gespräch – kaum verwunderlich, schließlich ist Geschichte ihr Metier.

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      Vereinspräsident Michael Lawson und die Historikerin Helena Portela mit den Pokalen der Gaúchomeisterschaft und der Jahrhundertmeisterschaft.

      In den ersten Jahren der Gaúcho-Meisterschaft spielten die Mannschaften aus der Pampa erwartungsgemäß eine wichtige Rolle. Mehrere Titel gingen an Vereine aus Orten an der Grenze zu Uruguay. Aber auch der SC Rio Grande konnte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Erfolge feiern: Zweimal wurde er Vizemeister. 1936 gelang sogar die Meisterschaft. Helena sucht für mich die Erinnerungsstücke an jenen Erfolg heraus.

      Da ist zum einen der große, stolze Silberpokal, der in einer Glasvitrine aufbewahrt wird, und zum anderen – mythologisch betrachtet viel wichtiger – ein Ball aus jener Zeit. „Im letzten und entscheidenden Spiel musste Rio Grande gegen Internacional antreten und das Spiel unbedingt gewinnen, um die Meisterschaft zu erlangen. Es war ein schweres und brutales Spiel. Einer unserer wichtigsten Spieler war Fruto, einer der ersten Schwarzen in unserem Fußball. Er wurde bei einer Kopfballabwehr so schwer verletzt, dass er stark zu bluten begann. Er spielte dennoch weiter, und dieser Lederball ist nun mit seinem Blut getränkt. Deshalb heben wir ihn auf. Fruto ist ein Held für uns“, erzählt Helena voller Leidenschaft. Sie zeigt mir auch ein nachkoloriertes Foto der Mannschaft und deutet auf Fruto: „Das ist er.“

      Die Jahrhundertmeisterschaft

      Währenddessen


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