Brasilien. Martin Curi
und andere Metaphern sind legendär. Sie zeigen, wie sehr der brasilianische Alltag „fußballisiert“ ist. Auch wenn man sich nicht für Fußball interessiert, entkommen kann man ihm nicht. Der Fußball ist eine allgegenwärtige Kommunikationsplattform. Mit seiner Hilfe werden in einem Land von kontinentaler Größe gesellschaftliche Fragen und Probleme thematisiert und überall verstanden. Diese Kommunikation und ihre Inhalte sind der Gegenstand des vorliegenden Buches.
Die immense Bedeutung des Fußballs für Brasilien dürfte kaum überraschen: Bekanntlich ist die brasilianische Nationalmannschaft, die Seleção („Auswahl“), mit fünf Titeln Rekordweltmeister. Pelé und Garrincha, zwei der größten Fußballgenies aller Zeiten, wurden hier geboren. Mit ihnen verbinden wir Spielwitz und individuelle Technik, die unser Brasilienbild prägen. Romantisierende Geschichten von kickenden Kindern am Strand, die mit Leichtigkeit die Ballführung erlernen, gehören zu diesen typischen Vorstellungen. Als ob man sich in dem tropischen Paradies nur mit Samba, Strand, Karneval und guter Laune beschäftigen müsse, um ohne Anstrengung ein millionenschwerer Fußballstar zu werden.
Weltweit findet der Stil der Seleção Bewunderer und begeisterte Fans. Die Brasilianer wissen um die globale Bekanntheit und Beliebtheit ihres Nationalsports, deshalb nennen sie Brasilien gern „Das Land des Fußballs“. Dass der Fußball eigentlich in England erfunden wurde, wird dabei schon mal verdrängt.
Während Fußballfans auf der ganzen Welt verwundert registrierten, dass die FIFA Länder wie die USA, Korea oder Katar als Austragungsorte für Fußball-Weltmeisterschaften auswählt, freute sich jedermann über die Vergabe der WM 2014 nach Brasilien. Es scheint, als ob das Weltturnier in seine Heimat zurückkommt. Die Brasilianer sehnen sich danach, endlich wieder eine WM organisieren zu dürfen. Die letzte fand hier 1950 statt. In andere Länder zu reisen, um dort die eigene Nationalmannschaft zu unterstützen, ist für die meisten Brasilianer unerschwinglich. So hoffen die einheimischen Fans, 2014 endlich einmal ein WM-Spiel live im Stadion miterleben zu können. Die Austragung der WM wird von der Bevölkerung massiv unterstützt. Insofern überrascht es auch nicht, dass der ehemalige Präsident Lula eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Bewerbung des Landes spielte.
Obwohl Brasilien weltweit als „Land des Fußballs“ gilt, weiß man in Europa nur wenig über den regionalen Fußball im Land, seine nationale Liga, die Vereine, deren Anhänger und lokale Geschichten. Einer der ersten deutschsprachigen Berichte aus kulturwissenschaftlicher Sicht zum Thema stammt aus dem Jahr 1956 und wurde von Anatol Rosenfeld im Jahrbuch des Hans-Staden-Instituts São Paulo veröffentlicht. Spätere Veröffentlichungen konzentrierten sich auf die Nationalmannschaft. So beispielsweise Karin Sturm und Carsten Bruder in ihrem Buch „Zwischen Strand und Stadion – Das Fußballwunder Brasilien“ oder Gerd Fischer und Jürgen Roth in „Ballhunger – Vom Mythos des brasilianischen Fußballs“. Die Stärke des Werkes von Fischer und Roth ist die Dokumentation der Brasilianer, die schon in Deutschland gespielt haben.
Die Konzentration auf die Nationalmannschaft endete mit Alex Bellos’ Werk „Futebol – Die brasilianische Art zu leben“. Der Engländer berichtet in seiner auch ins Deutsche übersetzten Reportagesammlung direkt aus der lokalen Fußballszene in Brasilien. Dieses Werk, dessen Erstveröffentlichung aus dem Jahr 2002 datiert, war eine wichtige Inspiration für das vorliegende Buch. Seit der Recherche von Bellos ist jedoch viel Zeit vergangen, in der eine Menge passiert ist. 2002 dachte noch niemand daran, dass Brasilien jemals wieder Austragungsort einer Fußballweltmeisterschaft werden könnte. Der nationale Fußballverband CBF war tief zerstritten mit der Regierung Lula, und die Stadien befanden sich in beklagenswertem Zustand.
Das hat sich geändert. Heute zählt Brasilien als Teil der BRICGruppe zu den aufstrebenden Wirtschaftsmächten, denen man ohne Weiteres die Durchführung von Sportgroßereignissen zutraut. Auf diese Veränderungen will das vorliegende Buch eingehen und dabei besonders auf Verbindungen zwischen dem deutschsprachigen Raum und Brasilien eingehen.
Anhand folgender Themen soll ein möglichst reales Bild des Fußballs, wie er in Brasilien gespielt, gesehen, und gelebt wird, dargestellt werden:
Migration
Brasilien ist ein Einwanderungsland und der Fußball ein Importprodukt. Die ersten brasilianischen Vereine waren eng mit ethnischen Kolonien verbunden. So ist der älteste Klub des Landes, der Rio Grande SC, deutschen Ursprungs. Die aktuellen Erstligavereine Palmeiras und Vasco da Gama haben italienische beziehungsweise portugiesische Wurzeln. Das Vereinsleben wurde zu einem Abbild des brasilianischen Melting-Pots, mit all seinen Konflikten und Lösungsversuchen. Ein besonderes Augenmerk soll in der Berichterstattung auf den südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul gelegt werden, wo in erster Linie deutsche und italienische Migranten siedelten. Eine Bahnlinie in das uruguayische Montevideo bedrohte dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einheit der Region, und die Gründung einer regionalen Fußballmeisterschaft wurde als geeignetes Mittel gesehen, um die lokale Identität zu stärken.
Brasilianischer Stil und Identität
Die Mischung der Ethnien ist heute ein wichtiger Bestandteil der brasilianischen Nationalidentität und findet auch im Fußball ihren Ausdruck. Historisch ist das allerdings noch komplexer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde aufgrund einer fehlerhaften Auslegung der Fußballregeln der Körperkontakt in Brasilien komplett verboten. Das war der Ursprung des verspielten und leichten Spielstils in Brasilien. Heute bieten vor allem Weltmeisterschaften eine Gelegenheit, die Lage der (Fußball-)Nation öffentlich zu diskutieren. Während der WM 2010 wurde der damalige brasilianische Nationaltrainer Dunga einer europäischen Spielweise bezichtigt. Das führte zu einer erregten öffentlichen Debatte, bei der Dunga die Nerven verlor und sich öffentlich mit Journalisten anlegte. Den Spielern wird ebenfalls häufig vorgeworfen, sie würden sich nicht mehr brasilianisch fühlen und hätten sich an europäische Vereine und Firmen verkauft.
Spielerausbildung und -handel
Brasilien scheint ein unerschöpfliches Potenzial an jungen und talentierten Fußballspielern zu haben. Doch auch wenn das brasilianische Spiel oft durch Leichtigkeit gekennzeichnet ist, müssen die jungen Talente viele Qualen und Risiken auf sich nehmen. Ihr Traum ist eine Profikarriere in Europa. Dabei bleiben jedoch viel mehr Spieler auf der Strecke, als man oft annimmt. Überraschenderweise sind die großen Klubs in Brasilien schlecht auf den internationalen Spielerhandel eingestellt. In den letzten Jahren entstanden sogar diverse neue Vereine, die weder Titel gewinnen noch aufsteigen wollen, sondern sich durch den Spielerhandel finanzieren möchten und damit Erfolg haben. Häufig wechseln Spieler aus dem brasilianischen Hinterland zu unterklassigen Vereinen in Europa. So waren beispielsweise die inzwischen aufgelösten Prignitzer Kuckuck Kickers aus der Brandenburger Landesliga einer der größten Importeure brasilianischer Fußballer in Deutschland. Der Spielerhandel ist das entscheidende Thema zum Verständnis des brasilianischen Fußballs.
Frauenfußball
Während männliche Spieler von der großen Karriere träumen können, werden ihre weiblichen Kollegen von Verband, Presse und Öffentlichkeit vernachlässigt. Schon in jungen Jahren nehmen sie große Strapazen und soziale Vorurteile in Kauf. Unter äußerst prekären Bedingungen haben sich in den Vororten der großen Städte dennoch Frauenmannschaften gebildet, die aber noch immer um Anerkennung ringen. Der Fußballverband hat große Schwierigkeiten, einen nationalen Ligabetrieb auf die Beine zu stellen. Angesichts dessen muten die Erfolge der brasilianischen Frauen-Nationalmannschaft wie Wunder an.
Indianerfußball
Eine andere Gruppe der Ausgeschlossenen sind die Indianer. Sie führen eine Art Eigenleben in der brasilianischen Gesellschaft, denn sie werden in Reservaten abgegrenzt, in denen sie sogar eigene Gesetze haben. Auch sie spielen Fußball und sind dabei inzwischen gut organisiert. Es gibt nicht nur Indianermeisterschaften, sondern auch eine Indianerolympiade, die von der Regierung unterstützt wird. Trotzdem haben es Spieler aus diesen Ethnien schwer, in die Profimannschaften zu kommen.