Brasilien. Martin Curi
dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzung musste sich die Regierung von Rio Grande do Sul selbst mit Fragen der territorialen Einheit beschäftigen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden aus dem Hinterland Eisenbahnlinien in die Landeshauptstadt Porto Alegre und nach Rio Grande gebaut. Dadurch sollten das Land und seine Ökonomie besser zusammengehalten werden. Insbesondere die Güter nach Übersee kamen nun direkt in der Hafenstadt Rio Grande an und nicht mehr in der Landeshauptstadt Porto Alegre. Der Hafen wurde zu einem der wichtigsten in Südamerika und zog anfänglich vor allem Import-Export-Speditionen aus Deutschland und England an. Später, als nach der Abdankung des brasilianischen Kaisers und der landesweiten Ausrufung der Republik im Jahr 1889 die Stadt in ihrer Blütezeit war, gründeten die Migranten auch Banken und Industrieunternehmen wie beispielsweise die Textilfabrik Rheingantz.
Jedes größere Schiff musste vor seiner Durchreise nach Montevideo oder Buenos Aires in Rio Grande vor Anker gehen. Das zog viele Künstler an, denn die europäischen Unternehmer wollten in ihrer neuen Heimat weiterhin dem bürgerlichen Lebensstil folgen. So baute man in Rio Grande eine Bibliothek und ein Theater, das große Aufführungen sah. Die meisten dieser europäischen Migranten wurden im Übrigen nicht von der brasilianischen Regierung angeworben, sondern von ihren Mutterfirmen auf Zeit nach Rio Grande versetzt. Nur wenige von ihnen wurden dort auch sesshaft.
Unter den Migranten war auch der 25-jährige Hamburger Johannes Minnemann, der zu Beginn des Jahres 1900 in Rio Grande ankam, um seine Dienste bei der Firma Thomsen & Cia aufzunehmen. Minnemann fand sich in einer kosmopolitischen Stadt wieder, in der mehr Deutsch und Englisch als Portugiesisch gesprochen wurde. Er war ein begeisterter Sportler, besonders der Fußball hatte es ihm angetan. Und so machte er sich auf, Gleichgesinnte zu finden. Er entdeckte verschiedene Vereine, zumeist gegründet von Migrantengemeinden, in denen aber vornehmlich Disziplinen wie Rudern oder Turnen gefrönt wurde oder die einfach Versammlungsstätten waren. Einer der ältesten Klubs war der Turnverein Germânia 1863, dessen Mitglieder aus der deutschen Bürgerschicht stammten. Außerdem gab es den populären Schützenverein Tiro Alemão. Keiner der Klubs zeigte sich jedoch bereit, eine Fußballmannschaft aufzunehmen.
Auf einigen leer stehenden Rasenflächen wurden zwar Freizeitkicks der deutschen und englischen Gemeinden veranstaltet, doch Minnemann wollte einen Fußballverein gründen, um den Sport zu institutionalisieren. Deshalb nahm er das Statut eines Hamburger Fußballvereins, das er aus der Heimat mitgebracht hatte, und lud zur Vereinsgründung mit anschließendem Spiel auf dem Gelände des Schützenvereins ein. Weil Engländer dort jedoch keinen Zutritt hatten, platzte das Vorhaben.
Am 19. Juli 1900 lud Minnemann erneut ein. Und diesmal gelang es ihm nicht nur, einen Saal beim TV Germânia zu reservieren, der auch Engländer akzeptierte, sondern ihm gelang vor allem der Durchbruch. Nach einer kurzen Rede des Initiators unterzeichneten 32 Anwesende das vorgelegte Statut: Alfred Kladt, Benz, Legeren, Ernst, Boje Schmidt, Oscar Schmidt, Darley, Dietiker, Ehmer, Schwammerkrug, Reimer, Schneider, Poock, Buhle, Amadeu Schmidt, Bernitt, Kunz, Robinson, Kramer, Lorentzen, Ubatuba, Völkers, Arthur Lawson, Castro, Nieckele, Heuer, Rud Kladt, Lohmann, Sequeira, Gustav Kladt, Gerdau und Stewart.
Damit war der älteste noch heute bestehende brasilianische Fußballklub gegründet: der Sport Club Rio Grande. Es gibt zwar noch ältere deutsche Sportklubs in Brasilien, wie zum Beispiel die Sociedade Germania von 1821 in Rio de Janeiro, die aber nie Fußball anbot. Ein anderer wichtiger Verein der Frühzeit ist die Germania aus São Paulo, die von dem deutschen Fußballpionier Hans Nobiling 1899 gegründet wurde und sich dabei auf die Vereinssatzung eines Vorgängerklubs des HSV stützte.
Germania São Paulo errang eine gewisse Berühmtheit durch den Deutsch-Brasilianer Arthur Friedenreich, der lange Zeit als erfolgreichster Torschütze überhaupt galt und seine Karriere bei Germania begann. Der Verein schloss jedoch 1930 nach Streitigkeiten über die Frage der Professionalisierung seine Fußballabteilung. Später musste er seinen Namen zudem in Pinheiros ändern, da deutsche Institutionen in Brasilien während des Zweiten Weltkriegs nicht erwünscht waren. Bis heute trägt Pinheiros die blau-weiß-schwarzen Farben des HSV und konzentriert sich auf den Amateur- und Breitensport – also nicht auf Fußball. Deutsche Migranten, die häufig aus Hamburg stammten, weil sich dort der größte deutsche Hafen befand, hatten also in der Gründerzeit des brasilianischen Sports einen entscheidenden Einfluss.
Besuch im Vereinsbüro
Eines der aktivsten Gründungsmitglieder des Sport Club Rio Grande war allerdings ein Engländer: Arthur Lawson, der von 1908 bis 1917 auch als Vereinspräsident amtierte.
Ich gehe von meinem Hotel im Stadtzentrum aus in die Parallelstraße und treffe in der Geschäftsstelle des Vereins den aktuellen Vereinspräsidenten: Michael Lawson, ein Enkel des Vereinsgründers, der mir mehr über die Geschichte des Vereins erzählen will.
Eingepackt in warme Wollpullis tritt mir ein rüstiger älterer Herr gegenüber, der bereitwillig vom Lebenswerk seiner Familie erzählt. Die Geschäftsstelle ist eng und dunkel. Man betritt sie durch ein spärlich eingerichtetes Vorzimmer, in dem zwei Sekretärinnen die täglichen Anfragen bearbeiten. Im Zimmer links daneben gibt es eine kleine Bude für den Verkauf von Fanartikeln mit einem überschaubaren Sortiment aus Trikots, Stiften und Wimpeln in den Vereinsfarben Gelb-Rot-Grün. Der große Kommerz mit Stofftierchen, Unterhosen und Biergläsern ist in Rio Grande noch nicht angekommen.
Lawson begleitet mich durch die hinteren Räume, in denen ungeordnet Pokale und Gedenkteller stehen, zu seinem Büro. „Unser Verein ist finanziell gesund, besonders wegen der Grundstücke, die wir haben, aber es reicht eben nicht, ein gut sortiertes Museum einzurichten. Deshalb steht hier alles etwas durcheinander. Sie können ja später noch mit unserer Historikerin Helena über dieses Thema sprechen“, erklärt er entschuldigend.
Wir setzen uns an einen Glastisch in der Mitte des bescheidenen Präsidentenbüros, und Lawson beginnt, mit starkem südbrasilianischem Akzent von seinen Vorfahren zu erzählen: „Mein Urgroßvater George Lawson kam 1866 in Rio Grande an und gründete eine Import-Export-Spedition. Er heiratete die Tochter des Barons von São José do Norte, einem der wichtigsten Adligen dieser südlichen Region während des Kaiserreichs. Den Eheleuten wurden mehrere Kinder geboren, unter ihnen auch Arthur Lawson, der mit zwölf Jahren nach Europa zum Studium geschickt wurde. Auf Schulen und Universitäten in England und Deutschland absolvierte er sein Ingenieursstudium. Außerdem kam er dort mit dem Fußball in Berührung, einer Sportart, der er sich auch in Brasilien widmen wollte. Dort kam er auch auf die Idee, einen Verein zu gründen.“
Die Geschichten der Fußballpioniere aus anderen Städten in Brasilien klingen ähnlich. Charles Miller aus São Paulo oder Oscar Cox aus Rio de Janeiro stammten ebenfalls aus der englischen Oberschicht, die sich in den Städten aufhielten, um Eisenbahnverbindungen einzurichten und Telegrafenleitungen zu verlegen. Auch sie hatten in Europa studiert und brachten von dort ihr Fußballequipment mit. Cox gründete 1902 in Rio de Janeiro den bis heute existierenden Erstligaklub Fluminense FC.
Miller hingegen gilt allgemein als der Vater des brasilianischen Fußballs, da er 1894 bei dem Cricketverein São Paulo Athletic Club (SPAC) eine Fußballabteilung ins Leben rief. Dieses Team konnte während seines Bestehens bis 1912 viermal die Stadtmeisterschaft von São Paulo erringen und war damit eines der erfolgreichsten der Zeit. Als elitärer Verein duldete der SPAC jedoch kein Profitum und zog sich schließlich aus dem Spielgeschehen zurück, weil immer mehr bezahlte Spieler aus unteren Schichten in die Mannschaften drängten.
Rio Grande war nicht der erste Ort in Brasilien, an dem Fußball gespielt wurde, und der Sport Club nicht der erste Verein Brasiliens. Lawson ist sich dessen bewusst und argumentiert: „Natürlich wurde schon vorher in unorganisierter und spontaner Weise Fußball gespielt, zum Beispiel in Firmen oder unter Matrosen. Es gab auch Vereine, die sich anderen Sportarten widmeten, wie zum Beispiel der SPAC in São Paulo, in dem Cricket gespielt wurde, oder Flamengo in Rio de Janeiro, der ein Ruderverein war. Aber der erste Verein, der mit dem Ziel gegründet wurde, Fußball zu spielen, war der Sport Club Rio Grande. Deshalb begehen wir in Brasilien auch am 19. Juli, unserem Gründungsdatum, den ,Tag des Fußballs‘. Dieser Termin ist vom Verband CBF auch anerkannt.“
Streit