Brasilien. Martin Curi
erscheinende Nadelbäume prägen das Landschaftsbild. Zwischen ihnen stehen einige Mandarinenbäume, die jetzt im Juli volle Frucht tragen und so mit lustigen orangenen Punkten Farbakzente setzen. Die Natur erinnert eher an Norditalien oder die ungarische Puszta.
Auf Spurensuche in Rio Grande do Sul
Ich habe mich auf eine fast archäologische Suche begeben. Ich will die Anfänge des brasilianischen Fußballs ausgraben. Wie allgemein bekannt ist, wurde dieser heute so urbrasilianisch anmutende Sport von den Engländern erfunden. Doch wann hat man in Brasilien zum ersten Mal gegen den Ball getreten? Um diese Frage zu klären, muss ich mich in den äußersten Süden des Landes begeben. Ganz in der Nähe Uruguays im Bundesstaat Rio Grande do Sul liegt die kleine Hafenstadt Rio Grande mit knapp 200.000 Einwohnern. Von der Landeshauptstadt Porto Alegre sind es fast fünf Stunden Busfahrt. Rio Grandes Sport Club, ein von Deutschen gegründeter Fußballverein, gilt als der älteste aktive seiner Art in Brasilien. Was hat ausgerechnet Deutsche gegen Ende des 19. Jahrhundert in dieses abgelegene Städtchen getrieben? Und wie war es möglich, dass sie einen Fußballklub gründeten? Bisher hatte ich immer gedacht, Engländer seien die Fußballmissionare gewesen.
Die Bewohner des brasilianischen Südens haben den Ruf, etwas eigen zu sein. Sie werden, wie ihre Nachbarn in Argentinien, Gaúchos genannt, und auch ihre Bräuche sind sehr ähnlich. Auf der Straße sieht man Männer mit Ponchos, Lederhüten und kniehohen Reiterstiefeln. Es ist normal, dass jemand sein Matetrinkgefäß, mit Trinkrohr und Thermoskanne, unter den Arm klemmt und mit sich führt. Selbst der hier gesprochene Dialekt erinnert stark ans Spanische.
Der Bus nähert sich Rio Grande und der Mündung des Flusses, welcher der Stadt ihren Namen gab. Die Landschaft ändert sich nun ein wenig. Man sieht schon die ersten Seen und Flussarme, die alles in ein riesiges Sumpfgebiet verwandeln. Zwischen den Schilfblättern und den Seerosen blitzt immer wieder die sich im Wasser spiegelnde, tiefstehende Wintersonne. Draußen ist es schneidend kalt, ganz unbrasilianisch. Vereinzelt sieht man auf den Inseln Schweine oder Schafe, die in voller Wolle stehen. In wenigen Wochen werden sie geschoren. Das Bild wird jedoch bestimmt von unzähligen Vögeln, die von dem Nahrungsreichtum des Feuchtgebietes angezogen werden. Ich sehe Störche, Reiher, Schnepfen und viele kleine Schwärme von Vögeln, die Pirouetten drehen. An fast jedem Strommast kleben die aus Lehm gebauten, charakteristischen Nester des João-de-barro, des Rosttöpfers bzw. Lehmhans.
Eine mächtige geschwungene Brücke führt über die Sümpfe auf die Halbinsel von Rio Grande. Kurz nach den ersten Häusern erblickt man auf der rechten Seite das grün-gelb-rot gestrichene Stadion des Sport Clubs. Von Weitem leuchtet die riesige stolze Inschrift der Tribünenrückseite: „Erster Fußballverein Brasiliens!“ Ich bin am Geburtsort des brasilianischen Fußballs.
Der Bus setzt seine Fahrt fort durch die enge Hauptstraße. Vorbei an bunten kleinen Reihenhäusern aus dem 19. Jahrhundert, wie sie auch in Uruguay gang und gäbe sind, geht es zum Busbahnhof. Das historische Zentrum mit seinen beeindruckenden Gebäuden erzählt von vergangenen Tagen, in denen der Hafen von Rio Grande einer der wichtigsten Brasiliens war. Die Stadt hatte eine Zollstation, eine Bücherei und ein Theater. Unternehmer, die mit ihren Im- und Exportaktivitäten zu Geld gekommen waren, bauten sich kleine Paläste. Heute wirkt alles etwas heruntergekommen und verlassen. Es gibt kein Gebäude, von dem nicht der Putz bröckelt.
Hotel Paris in Rio Grande: Hier übernachtete schon Kaiser Pedro II.
Das Hotel Paris, in dem ich residiere, fügt sich nahtlos ein. Man sagt, dass hier schon Pedro II., der Kaiser Brasiliens, übernachtet habe. Ich betrete das zweistöckige Gebäude im portugiesischen Kolonialstil durch mächtige Holztüren. Die Lobby des Hotels, in deren Mitte ein funkelnder, schwerer Kristallleuchter hängt, ist eine weiträumige Eingangshalle mit schweren, barocken Möbeln. Links und rechts führen verschnörkelte Holztreppen hinauf zu den Zimmern. Am Ende der Lobby öffnet sich eine weitere Holztür zu einem Innenhof mit Pflanzentöpfen und Mosaikboden.
In meinem Zimmer stelle ich fest, dass das Hotel offenbar in der Kaiserzeit stehen geblieben ist. Es gibt weder Heizung noch warmes Wasser, und die Zimmerwände sind fast fünf Meter hoch. Kommende Nacht soll die Temperatur auf zwei Grad fallen, da könnte ich eine Modernisierung mit Einbau einer Heizung also durchaus vermissen. Aber irgendwie passt alles zusammen: die prunkvolle Schale, der bröckelnde Putz und das durchgelegene Bett. Genauso wie Rio Grande.
Deutsche Einwanderer in Rio Grande
1739 begannen die Portugiesen, ihre kolonialen Ansprüche in Stein zu meißeln, und gründeten eine Stadt, indem sie eine Verteidigungsanlage auf der Halbinsel bauten, um die Angriffe der Spanier abzuwehren. Der Ort war strategisch wichtig, da er geschützt in einer Flussmündung lag, die sich zu einer riesigen Lagune öffnete (die heute bis nach Porto Alegre reicht), und zudem den Bau eines Hafens mit direktem Zugang zum Meer ermöglichte. Rio Grande wurde später auch die erste Hauptstadt des südlichsten brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul.
Die Wirtschaft des Staates konzentrierte sich von Anfang an auf die Landwirtschaft, wobei der bergige Norden vom Ackerbau und der flache Süden von der Viehhaltung lebte. Rio Grande wurde schnell zu einem wichtigen Zentrum für die Versorgung Brasiliens mit Fleisch und Fellen. Während die großen Rinderherden auf den Fazendas in der brasilianischen Pampa den Reichtum brachten, musste das nördlichere Gebirge allerdings erst noch erschlossen werden. Dazu warb die portugiesische Regierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Einwohner der Azoren an, die diese Arbeit übernahmen.
Nach der Unabhängigkeit Brasiliens im Jahr 1822 trieb Kaiser Pedro I. in mehreren südlichen Bundesstaaten die Besiedlung und die landwirtschaftliche Nutzung voran, um die nationale Einheit zu stärken. Ab 1824 wurden in Deutschland und später auch in Italien Auswanderwillige angeworben, denen die Überfahrt bezahlt wurde. Sie ließen sich in den Bundesstaaten Espirito Santo, São Paulo, Paraná, Santa Catarina und eben auch in Rio Grande do Sul nieder. Diese Migranten kamen im Hafen von Rio Grande an und wurden dann im Gebirge angesiedelt. Bald blühte der Ackerbau, dessen Erzeugnisse über den Flusshafen der neuen Hauptstadt Porto Alegre vertrieben wurden.
Allerdings führte diese Siedlungspolitik zu Spannungen zwischen dem Kaiser und den Großgrundbesitzern im Süden, die ihre Einkünfte und ihre Macht bedroht sahen. Als Kaiser Pedro II. die Preise für Fleisch festlegte, war das Fass übergelaufen. Die Maßnahme wurde als „nicht gerechtfertigtes Eingreifen“ interpretiert, und die Großgrundbesitzer mobilisierten zum Krieg. In den Jahren 1835 bis 1845 stellte die „Farroupilha-Revolution“ genannte blutige innerbrasilianische Auseinandersetzung die nationale Einheit auf einen schweren Prüfstand.
Rebellengeneral Bento Gonçalves griff am 20. September 1835 die Stadt Porto Alegre an und führte seine Armee in die Schlacht gegen die kaiserlichen Truppen. Zunächst konnten die Aufständischen außergewöhnliche Erfolge verzeichnen und fast den ganzen Staat Rio Grande do Sul einnehmen. Der junge Staat war nicht auf einen Krieg vorbereitet und musste erst seine Truppen ordnen. Am 11. März 1836 wurde die unabhängige Republik Rio Grande do Sul ausgerufen, und Bento Gonçalves wurde ihr erster Präsident.
Ausgerechnet die Stadt Rio Grande blieb jedoch während des gesamten Krieges in den Händen der kaiserlichen Truppen. Die Rebellen verfügten daher über keinen Zugang zum Meer, während das Kaiserreich über den einzigen Seehafen Waffen und Truppen per Schiff nachliefern konnte. Zwar wurden Kriegsschiffe in geheimen Werften auf dem Land gebaut und dann auf Rollen übers Land zum Meer gezogen, doch das erwies sich als wenig erfolgreich. Am 1. März 1845 mussten die Unabhängigkeitskämpfer kapitulieren, wurden aber immerhin begnadigt.
Bento Gonçalves verstarb am 18. Juli 1847. Als im Jahr 1900 eine Verlosung seiner sterblichen Überreste veranstaltet wurde, gewann kurioserweise Rio Grande. So ruht der General nun ausgerechnet in der Stadt, die er nie erobern konnte. Die Farroupilha-Revolution wurde einerseits zum Symbol der brasilianischen Einheit, andererseits aber auch zum Ausdruck der Gaúcho-Identität des brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul, der bis heute den Namen Republik Rio Grande do Sul trägt.