Brasilien. Martin Curi

Brasilien - Martin Curi


Скачать книгу
Turnierverlauf der brasilianischen Nationalmannschaft waren schlecht. Nach dem 1:2 zum Auftakt gegen Jugoslawien gab es zwar ein 4:0 gegen Bolivien, doch nach nur zwei Spielen war die erste WM-Teilnahme Brasiliens bereits wieder beendet.

      Nur wenige Monate nach dem Weltturnier kam es zu einem politischen Umsturz in Brasilien. Getúlio Vargas, seinerzeit Gouverneur des südlichsten Bundesstaates Rio Grande do Sul, nutzte die Schwäche der traditionell starken Politiker der zentralen Bundesstaaten Brasiliens. Indem er volksnahe Forderungen stellte, gelang es ihm, die unzufriedenen Kräfte in Industrie und Militär zu bündeln. Am 3. Oktober begann er mit Unterstützung dieser Bevölkerungsschichten einen öffentlichkeitswirksamen Marsch aus seinem Heimatstaat in die Hauptstadt Rio de Janeiro, wo er Washington Luís aus dem Amt putschte und sich selbst zum Präsidenten Brasiliens erklärte. Damit begann die Zeit einer autoritären national-populistischen Regierung, die bis 1945 dauern sollte.

      1934: Streit um Profispieler

      Vargas gilt als Gründer des modernen Brasiliens. Er strukturierte den Staatsapparat mit seinen Ministerien um, verabschiedete auf Druck der Industriearbeiter neue Sozialgesetze und erweiterte das Wahlrecht. Unter ihm wandelte sich Brasilien von einem Agrar- zu einem Industriestaat. Das hatte auch Konsequenzen für die Organisation des Fußballs, denn in Vargas Amtszeit fällt die gesetzliche Zulassung des Profifußballs im Jahr 1933 ebenso wie im Jahr 1941 die Bildung einer zentralen staatlichen Verwaltung des Sports durch die Gründung des Nationalen Sportbeirats.

      Während der Weltmeisterschaft 1934 in Italien diskutierte man in Brasilien noch immer, ob Fußball nun ein Amateursport sei oder die Bezahlung der Spieler erlaubt werden solle. Obwohl am 23. Januar 1933 die Professionalisierung beschlossen worden war, hatten die alten Eliten noch einmal ihre Macht bewiesen und ein Amateurteam als Nationalmannschaft erzwungen. Es konnten zwar auch Profispieler nominiert werden, diese durften aber während der WM keinen Lohn erhalten. Weil sich die Arbeiterteams um das Wohl ihrer Spieler sorgten und diese den Einkommensausfall fürchteten, war kein Profi unter den WM-Spielern der Seleção. Einige Klubs sollen sogar ihre Spieler auf Fazendas im Hinterland versteckt haben – vermutlich, um eigenmächtige Abreisen der Spieler nach Italien zu verhindern.

      Erneut konnte Brasilien also nur eine von Ausfällen gebeutelte Auswahl zur WM entsenden, und aufgrund des damaligen Regelwerks, das keine Gruppenphase, sondern nur K.-o.-Spiele vorsah, schied man nach nur einem Spiel (1:3 gegen Spanien) aus. Vargas beschloss daraufhin, in den Fußball zu investieren, um über ihn eine brasilianische Identität zu formen. Es war ihm wichtig, nationale Symbole zu stärken, um eine Einheit zu fördern.

      War Brasilien vor Vargas Machtergreifung noch durch den tiefen Gegensatz zwischen weißer Elite und von ehemaligen Sklaven abstammenden schwarzen Arbeitern gekennzeichnet, so sollte dieser nun überwunden werden. Den intellektuellen Unterbau dafür lieferte der brasilianische Soziologe Gilberto Freyre, der in seinem 1933 veröffentlichten Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte“ die Ansicht vertrat, dass die Präsenz der afrikanischstämmigen Bevölkerung nicht mehr als Nachteil, sondern als Vorteil interpretiert werden sollte. Vargas nahm diese Idee auf und machte sie zu einem wichtigen Bestandteil der nationalen Identität.

      1938: Exzellente Förderung seitens der Politik

      Der Fußball war für diese Politik exakt das richtige Instrument. Mit der Aufhebung des Amateurstatus kamen immer mehr dunkelhäutige Spieler aus der Unterschicht in die obersten Fußball-Ligen. Diese begannen nach 1934 auch das Bild der Nationalmannschaft zu bestimmen und konnten so die von Vargas gewünschte Einheit des Landes symbolisieren. Für die WM 1938 in Frankreich wurden zudem finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. So konnten die besten Spieler unabhängig von ihrer Herkunft in aller Ruhe aus den verschiedensten Vereinen ausgewählt werden. Die Mannschaft versammelte sich zunächst zu einem intensiven Trainingslager im Wasserkurort Caxambú, der, unweit von Rio und São Paulo gelegen, ein beinahe europäisches Klima aufweist.

      Das nächste Ziel war eine frühe Ankunft im WM-Land Frankreich, um auch dort die bestmögliche Vorbereitung zu absolvieren. Es gab Testspiele in Paris und in Straßburg. Am 5. Juni kam es dann zu einem spektakulären Auftaktspiel, das Brasilien mit 6:5 gegen Polen gewann. Im Viertelfinale folgte zunächst ein 1:1 gegen die Tschechoslowakei, ehe der 2:1-Sieg im Entscheidungsspiel zum Einzug ins Halbfinale berechtigte. Die brasilianische Öffentlichkeit jubelte. Man konnte es kaum glauben: Das dunkelhäutige Team aus Brasilien hatte tatsächlich die für so überlegen gehaltenen weißen Europäer geschlagen.

      Gilberto Freyre schrieb daraufhin einen Kommentar in einer brasilianischen Tageszeitung, der Berühmtheit erlangen sollte. Er argumentierte, dass die Brasilianer nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer ethnisch gemischten Mannschaft gewonnen hätten. Die Vorzüge der Rassen hätten sich in der Mannschaft addiert. Ihre größte Stärke sei jedoch das individuelle Können, die Spontanität, die künstlerischen Dribblings und der lyrische Tanz, den die afro-brasilianischen Spieler auf dem Platz zelebrierten. Das sei die wahre Charakteristik nicht nur des brasilianischen Fußballs, sondern der brasilianischen Nationalität.

      Vargas hatte nun jenes nationale Symbol, das die Einheit des Landes in einer positiven Art und Weise darstellte. Aushängeschild war der farbige Spieler Leônidas, der mit acht Treffern WM-Torschützenkönig wurde. Obwohl Brasilien das Halbfinale mit 1:2 gegen Italien verlor (und anschließend mit einem 4:2 gegen Schweden immerhin den dritten Rang erreichte), wurde die Seleção bei ihrer Rückkehr frenetisch gefeiert. Man hatte einen großen Erfolg errungen und wusste nun, dass der Titel durchaus im Bereich des Möglichen lag.

      Damit waren die beiden wichtigsten Argumentationslinien der brasilianischen Diskurse über Fußball geboren, mit denen man die Lage der Nation diskutieren konnte. Die „Institution Null“ konnte als europäische Sportart angesehen werden, die die Überlegenheit der weißen Rasse beweist, oder auch als Ausdruck einer ganz eigenen brasilianischen Identität, die weniger durch die rationalen als vielmehr durch die spielerischen Qualitäten seiner dunkelhäutigen Bevölkerung bestimmt wird. Das Pendel sollte in den nächsten Jahrzehnten mehrfach zwischen den beiden Extremen schwanken, und vor allem Niederlagen sollten eine besondere Bedeutung erfahren. Es scheint beinahe, als seien Enttäuschungen für das kollektive Bewusstsein der erfolgreichsten Fußballnation der Welt wichtiger als Siege.

      1950: Tragisches „Endspiel“ im eigenen Land

      Da Brasilien 1942 nicht zeigen konnte, ob man ein titelreifes Team beisammen hatte, weil die WM wegen des Zweiten Weltkriegs ausfiel, musste man sich bis 1950 gedulden. Als Austragungsland wurde diesmal Brasilien gewählt. Für das Land war dies die große Chance, sich nicht nur mit seiner Fußballmannschaft, sondern auch durch die Organisation des Wettbewerbs darzustellen.

      Insofern kam es gerade recht, dass Brasilien sich bei der WM 1938 den Ruf einer „Rainbow-Nation“ erworben hatte, also einer ethnisch gemischten Nation. Nachdem die diktatorisch-rassistische Ideologie der Nazis in Deutschland Europa in einen Krieg getrieben hatte, der in seiner zerstörerischen Kraft kaum zu überbieten war, konnte Brasilien nun ein neues, modernes Gegenbild entwerfen und sich als tolerantes und demokratisches Land präsentieren.

      Dies sollte unter anderem durch den Bau des Maracanã in Rio de Janeiro als größtes Stadion der Welt geschehen. Es sollte allen Brasilianern, unabhängig von Beruf, Geschlecht, Alter oder Hautfarbe, einen Platz bieten. Mit 200.000 Plätzen fasste es rund zehn Prozent der Einwohner Rio de Janeiros. Im Gegensatz zu den schon bestehenden Stadien Brasiliens wurde das Maracanã kreisförmig gebaut. Jeder Fan sollte den gleichen Blickwinkel auf den Rasen haben, und der Unterschied zwischen billigen und teuren Plätzen sollte verringert werden. Insofern ist das Maracanã ein aus Beton gegossenes Manifest des brasilianischen Demokratieverständnisses.

      Es wurde der Begriff der „Rassischen Demokratie“ entworfen, der aussagen sollte, dass es in Brasilien keinen Rassismus gibt und alle Bürger, unabhängig von ihrer Hautfarbe, die gleichen Chancen haben. Zum entsprechenden Aushängeschild wurde die „bunte“ Nationalmannschaft, die als haushoher Favorit in das Turnier startete. Das war im Übrigen das einzige Turnier in der WM-Geschichte, dass nicht mit einem Finale endete, sondern komplett im Gruppenmodus ausgespielt


Скачать книгу