Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!. Tor Åge Bringsværd

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd


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      Tor Åge Bringsværd

      Das Frühstück der Langschläferin

      Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!

      Aus dem Norwegischen von

      Lothar Schneider

      Saga

Erster Teil

      1

      Jedesmal, wenn ich mich hinsetze, um eine neue Geschichte zu schreiben oder etwas, von dem ich hoffe, es könnte der Beginn eines Buches werden, denke ich: Werde ich diesmal anfangen mit Nebelschwaden, die über die Heide treiben, und einem Reiter mit wehendem Umhang auf dem Weg zu einem blassen, gespenstischen Schloß auf der Spitze von Pappmaché-Felsen, und der Donner rollt, und die Blitze zerreißen den Himmel wie der schreckliche Dreizack des Satans?

      Bisher war die Antwort immer nein.

      Ich verstehe nicht genau, warum. Das wäre ein toller Anfang.

      Doch jedesmal drängt sich etwas dazwischen.

      Diesmal ist es Felix Bartholdy.

      »I can’t believe that!« said Alice.

      »Can’t you?« the Queen said in a pitying tone. »Try again: draw a long breath, and shut your eyes.«

      Alice laughed. »There’s no use trying,« she said: »one can’t believe impossible things.«

      »I daresay you haven’t had much practice,« said the Queen. »When I was your age, I always did it for half-an-hour a day. Why, sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast ...«

      Lewis Carroll: Through the Looking Glass

      Jeder, der Felix Bartholdy auch nur ein bißchen gekannt hätte, würde geschworen haben, daß das unmöglich war, aber da stand er – mit einer Plastiktüte voll von eben gekauften Büchern und einem Kassenbon in der Tasche – auf dem Bürgersteig vor Brentano’s Filiale in der 8. Straße, New York, USA, Erde, Sonnensystem, Milchstraße – und spuckte innerlich vor sich aus, wenn er an weitere Druckerzeugnisse dachte. »Schaut her«, rief er Passanten zu und öffnete seine Plastiktüte. »Schaut her. Das ist doch Wahnsinn, oder?«

      Die Tüte enthielt:

      Jean Cocteau: Three Screenplays (Grossman 1972)

      Ray Bradbury: The Halloween Tree (Bantam 1974)

      Roger Shattuck & Simon Watson Taylor (Ed.): Selected Work of Alfred Jarry (Grove 1965)

      John Dickson Carr: The House at Satan’s Elbow (Award 1974)

      Jim Harmon & Donald F. Glut: The Great Movie Serials (Doubleday 1972)

      Richard Brautigan: The Pill versus the Springhill Mine Disaster (Dell 1973)

      Stan Lee: Origins of Marvel Comics (Simon and Schuster 1974)

      Walt Kelly: Ten ever-lovin’ blue-eyed years with Pogo (Simon and Schuster 1959).1

      »Die habe ich alle heute abend gekauft«, schrie Felix Bartholdy. »Ich habe sie da drin gekauft.« Er deutete über die Schulter. »Aber kann mir jemand sagen, wo zum Teufel ich die Zeit hernehmen soll, das alles zu lesen?« Er fing an, Leute am Arm zu packen, wollte sie festhalten. »Ich besitze schon über zehntausend Bände. Circa viertausend davon habe ich noch gar nicht gelesen. Gewöhnlich lese ich zwei Bücher pro Woche. Zwei Bücher in der Woche, das macht 104 Bücher pro Jahr. Um viertausend Bände durchzuackern, brauche ich ca. 40 Jahre. Ich bin 43 Jahre alt. Wenn ich mit allen Büchern, die ich bereits gekauft habe, fertig bin, werde ich 83 Jahre alt sein. Und nicht genug damit ...« Ihm wurde schwarz vor Augen, und er mußte sich an die Hauswand lehnen. »Und nicht genug damit«, flüsterte Felix Bartholdy dem Mauerputz zu. »Ich kaufe neue Bücher. Ich hamstere. Ich raffe zusammen, was mir unter die Augen kommt. Ich bin krank. Ich kaufe mindestens fünfmal soviele Bücher wie ich lese. Meine Regale stehen voller Bücher, die ich niemals öffnen werde. Sie vermehren sich unaufhörlich. Ich kann an keinem Buchladen vorbeigehen. Im Bett lese ich Kataloge, auf dem Klo Kritiken, und meine Tasche ist stets voll von literarischen Zeitschriften. Und ich kann nicht aufhören. Ich kann nicht aufhören!«

      Er wollte sich übergeben. Der Griff an seiner Plastiktüte riß, und der Inhalt verteilte sich auf dem Bürgersteig.

      Freundliche Menschen hoben ihm die Bücher auf.

      »Laßt sie liegen«, flüsterte Felix. »Liegenlassen, bitte.«

      Doch niemand hörte auf ihn.

      Bald werde ich gezwungen sein, 100 Jahre zu werden, dachte Felix. Und nicht lange, und ich muß 200 werden ... Er fing zu kichern an. Er saß am Rand des Bürgersteigs und lachte, die Nebel um ihn verdichteten sich, ballten sich vor seinen Augen, und er hatte Schwierigkeiten, etwas zu sehen.

      »Sind Sie krank?« sagte eine Stimme vom Himmel. »Brauchen Sie Hilfe?«

      »Zwecklos, was Sie sagen«, antwortete Felix und schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nie. Ich werde nie 200 Jahre. Da rauche ich zu viel. Das ist der Fehler. Und nicht genug damit ...«

      »Soll ich einen Arzt holen«, sagte die Stimme ungeduldig.

      »Ihr Vertrauen in die ärztliche Kunst rührt mich zutiefst«, sagte Felix mit einer Stimme, die man am besten als lallend bezeichnen könnte. »Das Problem ist doch, daß jedes Jahr auf der Welt ca. 550000 neue Bücher geschrieben und herausgegeben werden. Fünfhundertfünfzig Tausend! Das heißt, in jeder Minute wird ein neues Buch herausgegeben! In jeder verdammten minute! Mich als gewöhnlichen Leser bringt das natürlich in eine schier aussichtslose Situation. Und nicht genug damit ...«

      »Oder kommen Sie selbst zurecht?«

      »Vor diesem Hintergrund betrachtet«, sagte Felix, blinzelte dabei in den Nebel und versuchte, den Rücken gerade zu halten, »erscheint Ihr Vertrauen in die ärztliche Kunst in einem etwas merkwürdigen Licht. Was hätte denn Ihrer Meinung nach Albert Schweitzer in diesem Fall getan – wenn er nicht schon vor einiger Zeit gestorben wäre?«

      »Sie sind besoffen«, sagte die Stimme. Felix bemerkte, daß sie sich in einen grauen Mantel gehüllt hatte, um nicht zu frieren. Und einen Augenblick später – als der Nebel kurz aufriß – in einem Anfall von Hellsichtigkeit, wie man ihn oft hat, bevor man endgültig im Dunkel versinkt, gelang es den Augen, quer über die Straße zu springen. Sie hüpften über Autos und Fußgänger, trafen wie zwei Tennisbälle auf die gegenüberliegende Hauswand und prallten mit dem Bild eines Plakates auf der Netzhaut zurück. Das Plakat war vergilbt und zerrissen und enthielt die folgende, noch lesbare Botschaft:

      Eat shit!

      487 billion flies

      can’t be wrong

      Und das war der letzte Gedanke, der ihn durchzuckte, bevor das Regenwetter in seinem Kopf ernsthaft losbrach. Felix Bartholdy wurde ohnmächtig.

      Die Welt ist voller verwandter Seelen.

      Das gehört zu den schönen Seiten an ihr.

      Es wird immer Menschen geben, die auf der gleichen Wellenlänge zuhören und ihre Nervenstränge wie Antennen am gleichen himmlischen Baum befestigt haben.

      Manche Bäume sind groß, andere sind klein.

      Doch niemand ist so absonderlich, daß er nicht einen geistigen Vetter oder eine ebensolche Kusine irgendwo im Laubwerk hätte.

      Der Baum, mit dem Felix Bartholdy derzeit verbunden war, gehörte nicht zu den stattlichsten im Wald. Vielleicht sollte man eher von einem Busch sprechen. Ein trockenes und dorniges Gewächs mit frustrierten, windschiefen Blüten. Wahrscheinlich gab es nicht mehr als zweihundert Menschen auf der Welt, die mit diesem Busch verknüpft waren. Es muß deshalb als ein fast unglaublicher Zufall bezeichnet werden, daß sich in dem Augenblick, als Felix Bartholdy in Ohnmacht fiel, eine dieser verwandten Seelen nur vierzig Querstraßen entfernt befand. Zwar ohne jeden Gedanken an Felix Bartholdy und mit ganz anderen Dingen beschäftigt, aber immerhin.

      Er hieß Nigel Harris und war Lyriker.

      Nigel


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