Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!. Tor Åge Bringsværd

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd


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daß das Spiel zu Ende war, daß er genauso wie sie brannte, sie wußte, daß er sich bald bewegen mußte, sie wußte, daß der schöne Rhythmus jetzt wie eine Flut in ihm stieg, unerbittlich. Und sie lachte, plötzlich und triumphierend, und zog ihn fest an sich.

      »Oder: ... es war ... schlicht ... und ergreifend ... Winter«, stammelte Virolainen schwer atmend. »Unabhängig sowohl von Fritjof Andersson wie von seinem verdammten Hut.«

      Und dann küßten sie sich – zum ersten Mal.

      Keiner von ihnen hatte das Gefühl, jemanden zu betrügen. Und sie redeten nie über seine Familie in Helsinki. Das hier ging nur sie beide an. Sie wußten, daß der Lehrauftrag am City College bald zu Ende war und er im Juni nach Finnland zurückmußte. Daß er reisen würde. Beide wußten es. Aber auch das wurde mit keinem Wort zwischen ihnen erwähnt. Das gehörte gewissermaßen zu einer anderen Welt. Sie waren zwei Kinder, die für ein Weilchen versuchten, sich in einem Bild von Henri Rousseau zu verstecken. Vera bildete sich sogar ein zu wissen, welches Bild es war. Es war ein Dschungelbild. Vielleicht das schönste, das Rousseau geglückt war. Er malte es in seinem letzten Lebensjahr (1910), und wir finden darin alle Elemente seiner früheren Dschungelphantasien – die tropischen Blumen und Früchte, wilde Tiere und schöne Vögel, ein weißer Mond auf dem hellen Himmel, zwei seltsame menschliche Gestalten – aber das Bild ist noch mehr: Alles verschmilzt in einer höheren Einheit. Die Jagd ist zu Ende. Die lange Safari durch tausend Nächte. Jahrelang war er den Spuren gefolgt, hatte offene Ohren für die Gerüchte und hat Fragmente gesammelt. Jetzt ist er angekommen. In einer Landschaft, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Endlich. Es ist der Dschungel der Phantasie. Der Traum (wie hätte er dieses Bild sonst nennen sollen?) ist endlich zu Öl und Leinwand geworden und wird nie mehr mit dem Morgengrauen über Paris verschwinden. Yadwiga ruht nackt auf einem roten Sofa, die langen Zöpfe sind teilweise gelöst – und so wird sie immerzu ruhen, lauschend ihrem dunkelhäutigen Flötenspieler, der im Dämmerlicht steht und dessen Spiel Löwen in sanfte, verwunderte Katzen verwandelt.

      Heute hängt das Bild im Museum of Modern Art. Und im Katalog steht meist folgendes:

      Painted 1910. Oil, 80 × 118½

      (Gift of Nelson A. Rockefeller)

      So kann es gehen. Aber Vera Farrow sieht nicht die Ironie, für sie ist der Traum immer gleich unversehrt und Yadwiga gleich schön und der Flötenspieler gleich geheimnisvoll und sie spielt, daß eigentlich sie selbst und Virolainen in diesem Bild wohnen. Wenn sie nicht in der Filiale in der 8th Street arbeitet, sondern in der Fifth Avenue (Mittwoch und Donnerstag), dann pflegt sie einen Abstecher ins Museum zu machen, um sich einige Minuten in Rousseaus Dschungel zu entspannen, ehe sie heimfährt. Besonders, wenn ohnehin Feierabendverkehr ist.

      Abgesehen von Dienstag und Freitag – nach der Vorlesung – waren sie gewöhnlich jeden Montag zusammen. Normalerweise in seinem Hotelzimmer. Vera hatte ihn nie mit nach Hause genommen. Und sie hatte nie weder Fay noch Hazel von ihm erzählt. Sie wußte nicht genau, warum. Seit zwei Jahren lebten sie jetzt in einer Wohnung zusammen und erzählten sich ansonsten fast alles. Aber das war gewissermaßen ... etwas anderes. Es war zum Beispiel nicht wie damals, als sie mit Freddy zusammen war. Es wäre sicher toll gewesen, Hazel davon zu erzählen. Hazel würde es verstehen. Und Hazel würde es nicht ins Lächerliche ziehen. Aber sie konnte schließlich keinen Unterschied machen. Und Fay ... Sie meinte Fay hören zu können! Nein, nein ... Fay war ein lieber Kerl, aber so direkt, daß Vera sich oft am liebsten unter dem Tisch verkrochen hätte, besonders, wenn Fremde zugegen waren. Fay konnten die unglaublichsten Dinge einfallen. Sie kannte keine Hemmungen und hatte vor niemandem Geheimnisse ... und sie erzählte Witze wie ein Droschkenkutscher. Und Vera war zutiefst überzeugt, daß sie diesmal – gerade jetzt – nicht wollte, daß jemand ihr Verhältnis mit Virolainen lächerlich machte. In einem halben Jahr vielleicht ... Vielleicht würde sie Fay in einem halben Jahr brauchen. Aber noch nicht – jetzt noch nicht.

      Deshalb erzählte sie keinem der beiden etwas.

      Vera verließ die Subway an der Grand Central Station. Hinter ihr verschwand donnernd die Wagenreihe, deren alltägliche graue Farbe mit Namen und Sätzen (flüsternd und laut rufend) in allen Sprachen der Welt und mit allen Regenbogenfarben verziert war – bekritzelt mit Kugelschreiber, mit Kreide markiert, mit dem Messer eingeritzt, mit dicken Pinseln bemalt ... zwei Meter hohe Buchstaben heimlich und unter Zeitdruck aufgesprayt, Sterne, Kreise, Kreuze und Wellen. Die Graffiti, die man in der Untergrundbahn von New York findet, sind mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Das sind keine Klosprüche, es handelt sich eher um eine symbolische »Flaschenpost« von Menschen, die herauswollen aus Einsamkeit und Frustration. – Es gibt mich! rufen diese Waggonwände. – Ich bin vorhanden. Egal was zum Teufel ihr macht oder sagt, aber ich lebe auch. Ich bin vorhanden.

      Vera hatte gehört, daß es Leute gab, denen es unter tollkühnen Bedingungen gelungen war, ihren Namen auf die Außenseite dieser Wagen zu malen, die seitdem all ihre Freizeit auf U-Bahnstationen verbrachten – um sich einen billigen Rausch und eine onanistische Genugtuung zu verschaffen, wenn sie ihren Namen vorbeifahren sehen ... »Watching my name go by!«

      Im Grunde konnte Vera sie verstehen.

      Das hieß nicht, daß sie selber den Drang verspürte, zum Pinsel zu greifen, aber sie verstand die Einsamkeit und Verzweiflung von einigen dieser Subway-Phantome. Sie war schließlich auch eine »Langschläferin« ...

      Auf dem Weg durch die große Halle kaufte sie eine Zeitung, eine Packung Zigaretten und für jeden eine Tafel Schokolade. Auf der Lexington Avenue kam sie ans Tageslicht, knöpfte sich den Mantel zu wegen dem Nieselregen, lehnte das Angebot eines Verkäufers ab, der sie mit warmen Brezeln locken wollte und überquerte rasch die Straße. Virolainen wohnte nicht weit von hier.

      Nigel Harris brachte immer noch nichts zustande.

      Diesmal war es ein kleines Straßenbild, das er sich am gleichen Tag notiert hatte: Ein Mann um die 40 Jahre alt, mit Lederjacke und zunehmender Glatze, hatte vor dem Rockefeller Center gestanden und italienische Arien gesungen. Er hatte das Fahrrad hinter sich an die Wand gelehnt und während er sang, hielt er allen, die vorbeigingen, eine große, braune Zigarrenkiste hin. Je länger er nun sang, desto mehr ließ er sich selbst mitreißen und schien bald vergessen zu haben, warum er eigentlich dastand. Die Handbewegungen wurden wilder und wilder, das Gesicht immer dramatischer, der ganze Körper schwankte, und er wackelte so sehr mit der Zigarrenkiste, daß es unmöglich war, etwas hineinzuwerfen. Egal wie gutwillig man war. Und das waren die, die es versuchten, aber jedesmal klirrten die Münzen auf den Bürgersteig und kullerten in alle Richtungen. Und der Mann sang und sang, wollte überhaupt nicht mehr aufhören, stand mit geschlossenen Augen da und gröhlte aus vollem Hals.

      Wenn ich es nicht schaffe, ausgehend von dieser Situation ein Gedicht zu schreiben, sagte Nigel Harris zum Notizblock, kann ich ebensogut den ganzen Kram hinschmeißen.

      Nigel Harris setzte sich bequem vor dem Fernseher zurecht – mit heißem Kaffee im Pappbecher und einem apple-pie in der Plastiktüte – und fluchte, daß der Kanal 11, der den ganzen Nachmittag klar und deutlich war, jetzt plötzlich Bilder zeigte, die man sonst nur im Spiegelkabinett des Tivoli sah. Es war kurz vor sechs und Zeit für Star Trek, eine Science-fiction Serie über die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise auf dem gefahrvollen Weg zu den äußersten Grenzen der Milchstraße. Jeden Abend wurde eine neue Episode gebracht, und Nigel Harris versuchte, so viele wie möglich zu sehen. Das war eine Serie, von der man schwer sagen konnte, warum sie einem gefiel. Aber so ist es mit vielen Dingen, dachte Nigel Harris. Warum gefallen mir schlechte, bürgerliche Helden verherrlichende Zeichentrickfilme? Warum gefallen mir alte, wurmstichige Horrorfilme? Was ist an diesem verdammten Raumschiff Enterprise, daß ich jeden Nachmittag alles dransetze, um rechtzeitig zurück ins Hotel zu kommen? Die Geschichte ist banal und voller Klischees, die Schauspieler sind steif und stereotyp, die dahinter liegende Idee ist zum Kotzen reaktionär ... und trotzdem sitze ich hier und lasse mich mitreißen. Unterm Strich: Warum schaue ich mir so einen Mist an? Was fasziniert mich daran? Er ahnte die Vorzeichen einer langen und komplizierten Antwort, mit kleinkarierten Argumenten, schön geordnet in pseudophilosophischen Stößen mit logischer Knickstelle und klarem Klassenstandpunkt; er schob diesen Krempel


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