Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!. Tor Åge Bringsværd

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod! - Tor Åge Bringsværd


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      »Er liegt nicht den ganzen Tag im Bett«, sagte Hazel.

      Fay verdrehte die Augen nach oben. »Soviel habe ich inzwischen kapiert«, sagte sie. »Und in wessen Bett liegt er, wenn er nicht in meinem liegt?«

      »Er sitzt auf dem Dach«, sagte Hazel ruhig.

      »Auf dem Dach? Da bin ich eine knappe Woche weg, und was finde ich bei meiner Rückkehr? Mein Zimmer ist in ein Lazarett verwandelt, und meine zwei Freundinnen feiern Orgien auf dem Dach!«

      »Fay ...«, sagte Hazel. »Fay ... Mach’ jetzt keine Dummheit. Ich bitte dich.«

      Doch Fay war bereits auf dem Weg zur Speichertreppe. »Er sieht wahrscheinlich aus wie eine Kreuzung aus Robert Redford und Henry Fonda«, knurrte sie. »Das ist verdammt nochmal das Mindeste, was ich akzeptiere!«

      2

      Vera Farrow war 28 Jahre alt und erinnerte an eine ältere Ausgabe von Kersti aus Carl Larssons bekanntem Bild »Das trübselige Frühstück der Langschläferin (1900) – das kleine Mädchen mit den straff nach hinten gekämmten und an den Ohren geflochtenen Haaren, einsam sitzt sie auf einem zu hohen Stuhl am Frühstückstisch. In der Bildunterschrift schreibt Carl Larsson: »Wie zornig und erbost sie aussieht, meine kleine süße Kersti! Liegt es möglicherweise daran, daß Esbjörn mit dem Veloziped über ihren Hut gefahren ist? ...«

      Aber im Grunde sieht Kersti gar nicht zornig und erbost aus, sie hat lediglich gemerkt, wie spät es ist, vielleicht nach halb elf (?), und jetzt fürchtet sie, der Tag könnte verloren sein, doch statt zu verzweifeln, statt aufzugeben, sitzt sie schweigend, verbissen und konzentriert vor abgestandenen, lauwarmen Frühstücksresten. Carl Larsson unterstellt, sie würde schmollen, das Essen nicht mögen usw. Weit gefehlt! Jeder Betrachter mit einigermaßen offenem Sinn (der nicht Larssons Bildunterschrift gelesen hat) wird ohne weiteres begreifen, daß Kersti keineswegs dasitzt und ihre Situation analysiert. Sie weiß, daß sie verschlafen hat, sie weiß, daß der Rest der Welt einen Vorsprung gewonnen hat, doch sie weigert sich, eine Niederlage zuzugeben, ihre Stirn leuchtet vor Einsatzwillen ... ich werde verdammt nochmal nicht aufgeben, kommt nicht in Frage, ruft das schmächtige Persönchen. Sie will etwas haben von diesem Tag ... trotz allem ... Sie will!

      So war es auch mit Vera Farrow. Sie hatte das Gefühl, einfach zu spät aufgestanden zu sein. Sie hatte das Gefühl, Jahre ihres Lebens verschlafen zu haben. Aber genauso wie Kersti hatte sie sich entschlossen, etwas dagegen zu tun. Der Glaube, daß das Leben mehr sein müsse – auch für sie – war von einem Strohhalm zu einem Binsenschiffchen geworden, das nicht sinken konnte. Und die Angst, für immer und ewig wie angenagelt hinter dem Regal sitzen zu müssen, ihrem augenblicklichen Arbeitsplatz, (wenn die Welt nachweislich voller Schränke und Kommoden war), hatte ihr Ruder und Segel verliehen.

      Nach 8 Jahren als graue Verkäuferin in Brentano’s Buchladen hatte sie endlich den Staub von sich und ihren jugendlichen Ambitionen geschüttelt. Für Vera Farrow war jede Morgenstunde der letzten drei Monate ein »trübseliges Frühstück der Langschläferin« gewesen ...

      Sie hatte ihren Job im Buchladen behalten, fuhr aber jeden Dienstag und Freitag Abend mit dem Bus uptown zum City College, am Rande von Harlem und nicht weit entfernt vom Apollo Theater. Sie besuchte einen Kurs für creative writing und literarische Analyse. Vera Farrow hatte sich immer für Literatur interessiert, jetzt beabsichtigte sie, etwas »Richtiges« daraus zu machen. Vielleicht würde sie später einen Job in einem Verlag bekommen, man konnte nie wissen!

      Außerdem hatte sie sich verliebt.

      Er hieß Virolainen und war Gastdozent für literarische Analyse.

      Virolainen sah aus wie ein finnischer Holzfäller und hatte die Mitternachtssonne in den Augen – glaubt man Vera Farrows Tagebuch. Zu Hause in Helsinki hatte er eine Frau und drei Kinder im Alter zwischen 7 und 11 Jahren. Doch wenn sich eine Langschläferin verliebt, kennt sie keine kleinlichen Rücksichten. Und Virolainen ging es offensichtlich ebenso.

      Ihr erster Beischlaf fand nach einer Vorlesung über Evert Taube statt.

      Er hatte über »Fritjof Anderssons Parademarsch« gesprochen, und sie war am Katheder stehengeblieben, bis die anderen Studenten zusammengepackt hatten und gegangen waren. Ihre Fragen waren total sinnlos, aber beide ließen sich nichts anmerken. Virolainen hatte sie gebeten, mit in sein Büro zu kommen – wo er mehr Bücher hätte ... Er hatte ihr seine Hände väterlich auf die Schultern gelegt, und Vera war eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen, und Virolainen hatte einen trockenen Mund bekommen. Aber beide hatten krampfhaft versucht, sich nichts anmerken zu lassen.

      Zwei Wochen lang – durch vier elektrisch geladene Doppelstunden – hatten sie sich mit den Augen gekost. Jetzt empfanden beide die Situation als unwirklich, als würde sie anderen widerfahren, und beide fühlten sich linkisch und unbeholfen. Virolainen hatte krampfhaft seine Interpretation von »Fritjof Anderssons Parademarsch« fortgesetzt, und Vera hatte krampfhaft zugehört.

      »Hier kommt Fritjof Andersson, es schneit auf seinen Hut«, sagte Virolainen. Seine Hände lagen immer noch auf ihren Schultern, reglos wie zwei träge Katzen. Vera bewegte ihren Kopf vorsichtig von einer Seite zur anderen, als wollte sie seine Hände massieren, aktivieren, in Gang bringen. »Wenn Evert Taube ganz am Anfang über Fritjof Andersson sagt, es schneie auf seinen Hut – handelt es sich hier nicht um eine eindeutige Aussage«, sagte Virolainen. Vera beendete ihre Kopfbewegungen und spürte, daß seine Hände von selber weitermachten, ihren Nacken kraulten, zufällige Abstecher hinunter zwischen die Schulterblätter machten. Aber beide ließen sich nichts anmerken. »Natürlich nicht«, sagte Vera und spürte, wie er den Reißverschluß am Rücken öffnete. »Die Frage ist«, sagte Virolainen heiser, »... nur ... welche ... Interpretation am wahrscheinlichsten ist.«

      »Und welche Möglichkeiten haben wir Ihrer Meinung nach?« fragte Vera und fingerte an seinem Gürtel, ließ den Daumen an der Innenseite des Hosenbundes wandern.

      »Es schneit auf seinen Hut«, sagte Virolainen und schaute ihr tief in die Augen. »Damit könnte der Autor gemeint haben ... Entweder ...« Sanft und behutsam – und mit ihrer Hilfe – befreit er ihre Arme vom Kleid. »Entweder: Fritjof beeinflußt das Wetter, verursacht mit anderen Worten den Niederschlag ... Oder ...« Vera kickte die Schuhe von sich und trat aus dem Kleid. Darunter hatte sie nur BH und Schlüpfer. Nach wie vor versuchten beide, sich nichts anmerken zu lassen. »Oder ...«, sagte Virolainen und räusperte sich, »Fritjofs Hut verursachte den Niederschlag. Mit anderen Worten: sein Hut hätte magische Kräfte besessen.« Vera nickte eifrig. Sie spürte, daß sie zitterte. Als sie seinen Gürtel öffnete und ihre Hand über die warme, nackte Haut gleiten ließ, merkte sie, daß es ihm nicht anders erging. »Oder«, sagte Virolainen und fummelte an ihrem BH-Verschluß, »Fritjof Andersson folgte dem Winter. Mit anderen Worten: er hielt sich stets dort auf, wo Schnee war.« »Ja, genau«, flüsterte Vera und umfaßte sein Glied. »So kann man es auch sehen.« Es wuchs und pochte in ihrer Hand, und sie mußte sich in die Lippe beißen, um normal zu sprechen. »Oder ...«, sagte Virolainen und schob sie vorsichtig in Richtung auf ein Sofa. »Oder ...«

      »Ja?« sagte Vera. »Ja?« Sie bewegten die Füße langsam, ganz langsam ... so unmerklich, als wollten sie die Bewegung leugnen, als wollten sie sich deren Nicht-Existenz einbilden, als wollten sie sagen: wir haben überhaupt nicht vor, dorthin zu kommen, wir haben überhaupt nicht vor, irgendwohin zu kommen, wir stehen immer noch da, wo wir gestanden waren ... »Oder: der Winter folgte Fritjof Andersson«, sagte Virolainen, während sie hinsanken zwischen alte Zeitungen, Buchstapel, einen Pullover mit Rentiermuster, einen halbvollen Aschenbecher auf der Armlehne. »Oder: der Winter folgte dem Hut des Fritjof Andersson ...« Er war groß und steif, und sie befürchtete einen Augenblick, er würde außerhalb von ihr kommen, vor Erreichen des Ziels, so pochte es an ihrem Schenkel, als wäre sein Herz in den Unterleib gekrochen und kurz davor, sich Bahn zu brechen. »Oder: der Hut des Fritjof Andersson folgte dem Winter«, sagte Virolainen angestrengt – und glitt weich und glatt und sanft wie Seide in sie. Beide kämpften, um still zu liegen. Lagen mit halb geschlossenen Augen da und zitterten ineinander. Vera wollte etwas sagen, brachte aber kein


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