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      Inger G. Madsen

      Letzte Umarmung

      Kriminalroman

      Aus dem Dänischen von

      Kirsten Krause

      SAGA

      Marianne gewidmet

      »Deyr fé, deyja frændr,

      deyr sjalfr it sama,

      ek veit einn at aldrei deyr:

      dómr um dauðan hvern!«

      Vieh stirbt, Verwandte sterben,

      man selbst stirbt ebenso;

      ich weiß eines, das niemals stirbt;

      das Urteil über jeden Toten.

      Hávamál Vers 77

      1

      Mit Einbruch der Dunkelheit fiel die Temperatur. Er merkte es, sobald er aus dem warmen, feuchten Stall gekommen war. Seine Nasenhaare gefroren zu Eis und der Schnee knirschte unter den Stiefeln, als er zum Wohnhaus ging. Der Atem hing wie weißer, versteinerter Nebel in der Luft. Das Thermometer an der Mauer zeigte minus dreizehn Grad.

      Gunda war noch wach, obwohl sie heute Morgen schon um fünf aufgestanden war, um zu melken. Jetzt kochte sie den Abendkaffee. Die Deckenlampe erhellte die Dunkelheit vor dem Küchenfenster und warf einen goldenen Schimmer über den Schnee.

      Das Auto stand immer noch da. Jetzt sah er, dass es nicht von einem Autofahrer, der sich in einer Schneewehe festgefahren hatte, kurzerhand zurückgelassen worden war, wie er zunächst angenommen hatte. Die Glut einer Zigarette leuchtete einen kurzen Moment in der Dunkelheit auf. Oder bildete er sich das ein? Würde er das aus dieser Entfernung überhaupt sehen? Der Wagen stand zwischen den Bäumen auf der Straße, die die vier benachbarten Höfe verband. Er stampfte den Schnee auf der Fußmatte ab und schaute wieder zu dem Auto hinüber, bevor er hineinging. Es hatte lange dort gestanden. Als er in den Stall gegangen war, war es noch nicht ganz dunkel gewesen. Trotzdem war der weiße PKW in der Schneelandschaft nicht leicht zu erkennen. Er hatte ihn nur bemerkt, weil es nicht normal war, dass jemand dort parkte. Beinahe wäre er hingegangen, um zu fragen, ob es Probleme gebe, aber er hatte es gelassen. Was ging es ihn an, was in diesem Auto stattfand? Vielleicht ein Liebespaar, obwohl das ein eisiges Vergnügen wäre und es dafür schon recht lange dauern würde.

      Drinnen traf ihn die Wärme ebenso hart, wie es draußen die Kälte getan hatte. Jetzt tauten die Nasenhaare auf und seine Nase begann zu laufen. Er putzte sie mit einem Kleenex. Gunda sah von der Küche aus zu ihm.

      »Du wirst doch wohl nicht krank werden, Thorkild?«

      »Nein. Das ist nur der Frost.«

      In der Waschküche, in der es wegen der Gummistiefel und Mäntel ohnehin schon nach Kuh roch, nahm er die Schirmmütze ab, zog den Mantel aus und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, als wollte er seine Haare in Ordnung bringen. Aber die hatten bereits begonnen auszufallen, bevor er vierzig geworden war. Mittlerweile war er völlig kahl. Was konnte man mit Mitte fünfzig erwarten?

      Gunda wischte die Wachsdecke ab und stellte die Kaffeekanne auf einen Untersetzer. Er ließ sich auf die Küchenbank fallen und schenkte sich Kaffee ein. Der Hof war ein richtiger Erbhof wie in den guten alten Morten-Korch-Filmen. Aber so rosig war das Leben auf dem Land nun auch nicht gewesen. Und heutzutage war Landwirtschaft nicht besonders angesehen. Die Umwelt, Geschäfte und Wohnungen waren wichtiger, sodass viele Bauern ihr Land verkaufen mussten, um diesen Bedürfnissen nachzukommen. Sie wurden nur für ihren Anteil an der Verunreinigung der Natur beschimpft. Trotzdem konnten die Leute Milch, Butter und Käse nicht entbehren; sie schienen zu glauben, das alles fiele vom Himmel oder die großen Supermarktketten hätten Kühe im Hinterzimmer stehen; er schnaubte bei dem Gedanken.

      »Was hast du da oben an der Straße gemacht?«, wollte Gunda wissen und stellte die Kuchen auf den Tisch.

      »Ach, da ist eigentlich nur ein Auto, das schon ziemlich lange da oben steht.«

      »Das ist aber eine merkwürdige Stelle zum Parken. Wer das wohl sein könnte?« Sie starrte aus dem Fenster, konnte aber das Auto in der Dunkelheit nicht ausmachen.

      »Das geht uns nichts an.«

      Sie setzte sich ebenfalls, schenkte Kaffee ein und lud sich ein Stück Butterkranz und ein Plätzchen auf ihren Teller. Danach schob sie die Platte zu ihm herüber.

      »Vielleicht haben Hovgaards wieder Besuch. Die haben ja fast die ganze Zeit Gäste«, überlegte sie, den Mund voller Kuchen.

      »Und auch das geht uns auf jeden Fall überhaupt nichts an!«, stellte er mit Bestimmtheit fest.

      Danach wurde der Abendkaffee schweigend eingenommen, aber der Gedanke an das Auto ließ ihn nicht los. Wer käme auf die Idee, bei dieser Kälte so lange darin zu sitzen?

      *

      Die Lichter in den Fenstern auf den wenigen in der Landschaft verstreuten Höfen waren längst eins nach dem anderen gelöscht worden. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die Flocken fielen wie glitzernde Kristalle, legten sich auf Büsche und Bäume und wurden zu einer schützenden, weißen Decke gegen den harten Frost. Sie leuchteten in der Stille der Nacht, die nur von dem unheimlichen Schrei eines Waldkauzes und dem leisen Knarren einer sich langsam öffnenden Autotür unterbrochen wurde. Drei dunkle Gestalten stiegen aus und gingen den Weg entlang, auf dem sie mit den grauen Schatten der Bäume verschmolzen. Mit ihren weißen Gummistiefeln bewegten sie sich lautlos im Schnee, langsam und zielgerichtet, mit schwarzen Sturmhauben, die gegen die Kälte schützten. Sie hatten lange gewartet, und jetzt war die Zeit gekommen.

      2

      Kriminalkommissar Roland Benito fror noch mehr, als er aus dem warmen Auto stieg. Er klappte den Mantelkragen hoch, um seine Ohren zu schützen. Es war kein Spaß, um drei Uhr nachts von Vizepolizeidirektor Kurt Olsens heiserer, verschlafener Stimme aus dem warmen Bett geholt zu werden. Er war kurz angebunden gewesen und hatte ihm nur einige wichtige Informationen wie die Adresse und das, was er bisher wusste, mitgeteilt. Es hatte sich nicht so heftig angehört, wie es nun aussah, als Roland auf das flatternde Band der Polizeiabsperrung stieß, das sich deutlich von der schneeweißen Umgebung abhob und bewies, dass ein Verbrechen geschehen war. Eine Tatsache, die durch die Kriminaltechniker auf dem Hof bestätigt wurde. In der Dunkelheit wurden ihre weißen Schutzanzüge eins mit dem Schnee, der still wie in einer friedlichen Weihnachtsnacht fiel. Mutlos ging er zum Hof hinüber. Die Techniker schauten ihn kurz an und grüßten, als er an ihnen vorbei ging. Der Beamte vor der Tür reichte ihm einen weißen Overall, Latexhandschuhe, Mundschutz, eine blaue Plastikhaube und Überschuhe. Während er sich anzog, bemerkte er flüchtig, dass das Haustürschloss aufgebrochen war.

      Die Techniker arbeiteten auch im Haus. Sie nahmen Fingerabdrücke und sammelten Spuren. Kurt Olsen war eingetroffen und sprach mit einer aufgeregten Frau in einem fast stockdunklen Schlafzimmer. Ihn erkannte man in seinem Schutzanzug, der an einem Tatort vorgeschrieben war, auch nicht wieder. Eine zweite Frau saß auf dem Bett. Ihre Nase und Oberlippe bluteten, und das eine Auge war rot und zugeschwollen. Noch ein Raubüberfall im eigenen Haus in einem ansonsten ruhigen und stillen Gebiet weit draußen auf dem Land, wo man früher nicht mal die Tür abschließen musste. Nachdem Banken und Firmen uneinnehmbare Bollwerke der verbesserten Sicherheit geworden waren, mit teuren Alarmsystemen und Überwachungsanlagen, mussten andere herhalten, hauptsächlich Ältere, Unschuldige und Schutzlose, die es sich nie hätten träumen lassen, dass so etwas in ihrer friedlichen Umgebung geschehen könnte und schon gar nicht in ihrem eigenen trauten Heim. Dem Mythos zufolge waren es ausländische Banden, die sich auf so etwas spezialisiert hatten. Besonders die Osteuropäer wurden beschuldigt. Aber eine Analyse der Reichspolizei legte ganz andere Zahlen auf den Tisch. Die meisten Überfälle wurden tatsächlich von jungen Dänen begangen. Oft sogar sehr jungen Dänen.

      Was Roland durch die Türöffnung sah, musste der Tatort sein, dachte Roland. Eine Lampe war vom Nachttisch gefallen und auf dem Kopfkissen, das er hinter der Frau im Bett undeutlich erkennen konnte, war Blut. Sie saß da wie


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