Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3. Inger Gammelgaard Madsen
Aber das Tageblatt war veraltet. Zeitungen würden auch mit der Zeit nur noch eine nostalgische Erinnerung für sie sein. Sie hatte die Ausgaben aufbewahrt, in denen sie die größten Triumphe gefeiert hatte. Unter anderem den Gitte-Mord und den Moor-Fall von diesem Herbst. Unheimliche Mordfälle, die sie noch nicht vollständig abgeschüttelt hatte. Aber wie soll ich ohne die Kriminalthemen leben?, fragte sie sich. Sollte sie Privatdetektivin werden? Bei dem Gedanken an die Stellenausschreibungen, die sie auf der Homepage der Polizei von Ostjütland gefunden hatte, als sie dort herumsuchte, lächelte sie. Sie suchten Polizeianwärter mit einem Abschluss in öffentlicher Verwaltung oder in Wirtschaftswissenschaften. Leider hatte sie nur einen Abschluss in Journalismus, sonst hätte sie sich wohl auf die Stelle beworben. Roland Benito würde sicher große Augen machen, wenn sie angestellt werden würde. Sie suchten auch Polizeibeamte, vielleicht wäre das ein besserer Job für sie. Leider würde es zu lange dauern, bis sie fertig wäre und im Präsidium in Aarhus eingesetzt werden könnte. Dann würde Benito sich die Haare raufen. Er musste jetzt erleichtert sein, dass sie sich nicht länger in seine Arbeit einmischen konnte. Sie schluckte schwer, als sie einsah, dass sie ihn tatsächlich vermissen würde. Wie konnte sie ihren Job entbehren?
Als sie die Stellenanzeigen des Tages sowohl im Netz als auch in den Zeitungen vergebens durchsucht hatte, goss sie eine Kanne Kaffee auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie setzte sich aufs Sofa und starrte aus dem Fenster. Der Frost hatte die Scheibe mit hübschen Eisblumen verziert, die in der Sonne zu schmelzen begannen. Sollte sie sich nicht darüber freuen, dass sie nicht eingepackt in einen dicken Mantel, mit Handschuhen, Schal und Mütze nach draußen in die Kälte musste, um zur Arbeit zu kommen? Die Räumfahrzeuge hatten bestimmt den Schnee von der Straße auf die Fahrradwege geworfen, sodass die Autos und Busse vorankommen konnten. Dann hätte sie das Auto nehmen müssen und der alte, gelbe Lada stand im Hof, von Eis und Schnee bedeckt, und würde garantiert nicht anspringen. Was für einen Ärger das gegeben hätte, wenn sie nicht gefeuert worden wäre. Sarkastisch lächelnd schnippte sie die Asche von der Zigarette. Aber es gab wohl genug andere, denen es schlechter ging als ihr. Mads Dam zum Beispiel, ihr ineffizienter Sportjournalistenkollege, der mehr Zeit in der Kneipe als auf dem Fußballplatz verbrachte.
Würde er im Suff enden? Ihre Kollegin Britt würde mit dem Busen, mit dem sie ausgestattet war, sicherlich Arbeit finden. Sie könnte leicht einen Job in einem Nachtclub oder in einer Bar bekommen. Da könnte sie dann Bierflaschen für Mads Dam öffnen. Anne lächelte wieder bitter. Und Thygesen – was würde aus ihm werden, wenn er sich nicht länger über Kleinigkeiten in der Redaktion aufregen und ihr die Leviten lesen konnte? Würde das dann seine Frau abkriegen, sodass eine Scheidung das nächste Unglück wäre?
Schöne Schicksale! Sie hatte Lust, Kamilla anzurufen und zu hören, wie es ihr in dem neuen Job erging. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit sie auf Reisen gegangen war. Es war so viel passiert. Tatsächlich hatten sie seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht besonders viel miteinander gesprochen. Es muss hart für sie gewesen sein, obwohl Kamilla sagte, dass sie und ihre Mutter sich nicht besonders nahegestanden hätten. Genau wie sie selbst und ihre Mutter. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Wer sollte es ihr auch erzählen, falls sie nicht mehr lebte? Ist mir auch egal, dachte sie, drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und trank einen Schluck von dem heißen Kaffee. Sie konnte sich nicht überwinden, Kamilla anzurufen. Das konnte warten, bis sie selbst einen Job gefunden hatte, damit sie etwas Gutes zu berichten hatte und nicht zugeben musste, immer noch arbeitslos zu sein. Sie war in Gedanken weit weg und hörte nur schwach ein leises Klimpern, so als ob irgendwer sich nicht traute, den Klingelknopf ganz durchzudrücken. Aber als es wieder klingelte, hörte sie es, zuckte vor Schreck zusammen und verschüttete fast ihren Kaffee.
Ihre Gedanken waren gerade zu ihrem Stiefvater Torsten gewandert. Wie er immer die Stirn gehabt hatte, ohne Klamotten herumzulaufen.
»Ja, ja, ja!«, murmelte sie irritiert und stand auf, als die Klingel schon wieder schrillte. Als sie endlich öffnete, sah sie eine kleine Frau, die offenbar aufgegeben hatte und wieder auf der Treppe auf dem Weg nach unten war. Sie drehte sich sofort um, als sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Ihr halblanges, graues und strähniges Haar war mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Schultern hingen, die eine noch mehr als die andere, weil sie eine riesige Tasche trug, deren abgenutzter Riemen ihre Schulter weiter nach unten zog. Ihr Mund war von den feinen, kleinen Falten umgegeben, die einen starken Raucher verrieten. Die Tränensäcke und Augenringe konnten auch auf einen Hang zum Alkohol schließen lassen – vielleicht sogar Drogen. Aber sie trug einen hübschen Mantel mit Pelzkragen und man konnte sehen, dass sie sich mit ihrem Aussehen Mühe gegeben hatte, so gut sie konnte. Die Schicht Rouge war gerade einen Tick zu rot, sodass es statt nach natürlich roten Wangen eher so aussah, als hätte sie ein paar Ohrfeigen bekommen, und der Lippenstift lief in die Falten um den Mund aus. Der blaue Lidschatten war auch nicht glücklich aufgetragen. Aber als Anne in die müden, grauen Augen sah, wuchs ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Sie erinnerten sie an etwas, das sie nicht benennen konnte.
»Ja?«, sagte sie abweisend und rechnete damit, dass ihr der ›Wachturm‹ gereicht werden würde. Aber die Frau drehte sich mit einem vorsichtigen Lächeln um, und als sie es geschafft hatte, die Treppe hochzugehen, schien es, als wollte sie sie umarmen. Sie bezwang sich zwar, aber die Stimme war belegt. »Anne?«
Anne nickte verständnislos. Das stand doch auf dem Namensschild an der Tür, also warum fragen? Aber für eine einfache Frage lag in dem Wort auch zu viel Gefühl.
»Ich hätte dich fast nicht erkannt. Nur die Narbe, die ...« Die Frau streckte die Hand aus, wollte ihre Augenbrauen berühren und wie in einem Flashback sah Anne Torstens Hand an dem Abend, als er sie hier in der Wohnung überrascht hatte. Er hatte auch ihre Narbe anfassen wollen. Es war Roland Benito zu verdanken, dass sie überlebt hatte. Sie packte grob das schmächtige Handgelenk, bevor die Hand sie berühren konnte.
»Wer bist du?« Die Stimme klang wie ein Fauchen, denn tief in ihrem Innern wusste sie genau, wer die Frau sein musste. Sie hatte die Augen erkannt, und das Gefühl in ihrer Brust musste Hass sein.
»Darf ich nicht ein bisschen reinkommen, kleine Ann? Es ist so lange her ...«
Jetzt war sie sich sicher. Sie war die Einzige, die sie Ann nannte, und sie sagte es so, als würde sie es nicht fertig bringen, das letzte jämmerliche E auszusprechen. Ihr sehr markanter Nørrebro-Dialekt war auch nicht zu verkennen.
»So lange her, dass es zu spät ist«, unterbrach Anne mit eiskalter Stimme. »Warum bist du gekommen? Was willst du?«
»Ich kann dir alles beantworten, wenn du mich reinlässt. Rieche ich da Kaffee?« Sie inhalierte den Duft aus der Küche, sodass sich ihre Nasenlöcher weiteten.
»Wir haben ganz bestimmt nichts zu bereden!«
Der graue Blick bohrte sich in ihren. Ihre Augen waren voller Reue und Verzweiflung. Es war wie ein Blick in den Spiegel. Die gleiche graublaue Farbe und der etwas schläfrige Ausdruck wegen der großen Augenlider, die mit Lidschatten toll aussahen – also, wenn man ihn richtig auftrug.
»Okay, dann komm halt kurz rein«, sagte sie willenlos. »Aber ich hab viel zu tun«, beeilte sie sich hinzuzufügen und versuchte ein bisschen Stress in ihre Stimme zu legen. Was machte sie hier? Warum suchte sie sie nach so vielen Jahren auf? Wenn nur Torsten nicht dabei war und plötzlich auch auftauchte. Sie schaute zur Sicherheit ins Treppenhaus hinunter, bevor sie die Tür schloss und verriegelte. Nein, er saß wohl immer noch ein. Falls er nicht schon wieder auf Bewährung entlassen worden war.
Nervös sah sich die Frau in der Wohnung um, als wagte sie es nicht, sich zu setzen.
»Setz dich einfach, Mama«, sagte Anne und stellte einen weiteren Becher auf den Tisch. Ihre Mutter sah schnell zu ihr hinüber und sie erschrak selbst darüber, dass das Wort aus ihrem Mund kam. Es wieder zu sagen war überraschend leicht, doch es ohne Zorn auszusprechen war schwer. Sie hatte sie einfach nie anders genannt; »Rose Teresa Larsen« passte nicht zu ihr. Eigentlich passte »Mama« auch nicht zu ihr.
Rose setzte sich, während ihr Blick weiter alle Sachen von Anne inspizierte.
»Sieht so aus, als kämst du gut zurecht, Ann. Bist eine bekannte Journalistin