Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3. Inger Gammelgaard Madsen

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen


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und glitt zwischen der erschreckenden Wirklichkeit und einem tranceähnlichen Traumzustand hin und her. Falls er nicht immer noch ohnmächtig war. Oder war er tot? Er versuchte die Augen zu öffnen, aber die Augenlider waren schwer wie Blei und gehorchten nicht sofort. Als sie sich endlich langsam zu schmalen Schlitzen öffneten, sah er nur Dunkelheit. Jetzt spürte er die Kälte. Sie hatte begonnen, dort einzudringen, wo auch immer er sich befand. Er war also nicht tot. Er konnte hören und fühlen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Wenn er versuchte, sich zu drehen, stieß er gegen ein Hindernis, und wenn er den Kopf hob, rammte auch der irgendetwas. Es klang wie Holz. Eine Holzkiste. Lag er in einer Holzkiste? Die Hand zitterte nicht nur vor Kälte, als sie die Tasche durchsuchte. Sie war leer. Die Flasche war weg. Der Schnaps! Das erschreckte ihn mehr, als in einer engen Holzkiste zu liegen. Er drehte den Kopf. Etwas straffte sich und schnitt tief in den Hals. Seine durchgefrorenen Finger tasteten sich hoch und spürten das Raue darum. Er erinnerte sich nur an Bruchstücke von dem, was passiert war. Von dem, was er glaubte, dass es passiert war. War das ein Traum? Ein Albtraum im Rausch? Die Fingerspitzen, die dreckig und gelb vom Nikotin waren und aus den gestrickten Handschuhen guckten, kontrollierten noch mal. Es war kein Albtraum gewesen. Das Seil war immer noch da. Das war es, was so gezogen hatte und ihn beinahe ersticken ließ. Vorsichtig lockerte er es, als wäre es ein teurer Schlips. Ein Kleidungsstück, das er seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt hatte, nicht seit der großen Zeit, als alles anders gewesen war.

      Er lag auf dem Rücken, und als die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, begann er, Konturen zu sehen. Der Deckel war nur wenige Zentimeter über seiner Nase. Die anderen zogen ihn damit auf, weil sie immer rot war. Rot vom Alkohol. Er zitterte noch mehr. So begannen die Entzugserscheinungen. Wie lange war es her, dass er etwas zu trinken bekommen hatte? Einen Tag? Zwei? Länger? Vielleicht war es wegen des ganzen Alkohols im Blut, dass er noch nicht vor Kälte gestorben war. Aber warum hatten sie es nicht zu Ende gebracht? Glaubten die, sie hätten es? Lag er deswegen in einer Holzkiste – einem Sarg? Er starrte in die Dunkelheit, und sein Leben zog wie ein Film, der auf der Innenseite des Deckels abgespielt wurde, an ihm vorbei. Er begann mit der Kindheit, die ganz okay gewesen war, in einem Mittelschicht-Zuhause in einem ruhigen Wohngebiet. Der Erfolg mit der Firma, von der niemand glaubte, dass er damit Erfolg haben würde. Die ersten Angestellten. Das hereinströmende Geld. Das Auto. Ein Mercedes. Weiß. Natürlich nicht ganz neu. Bodil. Ihre Hochzeit. Das Glück. Er wollte die Augen wischen, konnte aber kein Leben in seine Arme bekommen, daher ließ er die Tränen laufen, schmeckte Salz. Johann, Simon und Trille. Wo sie jetzt wohl waren? An dem gleichen Ort, wo er selbst bald enden würde? Sie waren in dieser Sommernacht verschwunden. Da war wieder dieser Mercedes. Hätte er ihn doch nie gekauft. Er schluchzte laut. Ein jämmerlicher Laut in einer Holzkiste. Verdammte Nüchternheit. Die Frage sollte ertränkt werden. Die Frage, die immer wieder auftauchte und ihn in den Wahnsinn trieb. Warum hatte er nicht auf Bodil gehört? Warum hatte er sie nicht fahren lassen? Aber er war doch ein Mann von Welt, der nicht einer Frau das Steuer überließ. Und sie hatte nachgegeben, wie sie es immer getan hatte. Hatte Simon und Johan mit den Gurten hinten auf dem Rücksitz geholfen und Trilles Gurt im Kindersitz geprüft. Ihren eigenen angelegt. Als ob der helfen würde. Als ob der Leben retten könnte. Jetzt war alles weg. Bodil, die Kinder, die Firma, der Mercedes – sein Leben, das in Matsch in einem Rinnstein verwandelt worden war. Aber seine Freunde waren noch irgendwo da draußen. Die wahren Freunde, die nicht verurteilten. Sie waren selbst verurteilt. Man brauchte sie nicht, wenn sie nichts leisten konnten. Ohne die Freunde hätte er nicht so lange gelebt. Von ihnen, Alkohol und Zigaretten am Leben gehalten und dem, was er im Mülleimer finden konnte, und das war zum Glück nicht so wenig. In der Regel taten die Leute an den Stoppschildern in den späten Nachtstunden so, als würden sie ihn nicht herumwühlen sehen. Sie schämten sich für ihn. Oder für sich selbst – wer weiß?

      Als die Gedanken aufhörten, war das Geräusch des Windes kräftiger geworden. Es klang wie ein Sturm, der den Schnee dort draußen herumwirbelte. Eiskristalle gegen ein Fenster schlagen ließ, sodass sie wie Sand und Kieselsteine klangen. Wenn er liegen blieb, würde er erfrieren. Erneut versuchte er, sich aufzurichten, und schlug sich den Kopf am Deckel an. Er stemmte die Knie dagegen und drückte nach oben. Der Deckel gab nach, fiel polternd zu Boden. Endlich konnte er sich aufsetzten. Alles drehte sich und er musste sich übergeben. Er blieb ein bisschen in der Kiste sitzen. Allmählich kehrten die Kräfte in Arme und Beine zurück. Der Raum, in dem er sich befand, war dunkel wie die Nacht jenseits des Fensters, aber der Schnee erhellte ihn ein wenig, sodass er die Dinge um sich herum schemenhaft erkennen konnte. Es war ein Schuppen mit Massen von Kisten in verschiedenen Größen. Die meisten aus Holz. Sie sahen wie Obstkisten aus. Wo war er, und warum befand er sich hier? Das war der schlimmste Kater, den er jemals gehabt hatte. Unsicher stellte er sich auf die Beine, stützte sich an den Seiten der Kiste ab und kletterte wie ein Kind aus einem Laufstall. Die nackten Füße trafen auf einen eiskalten Zementboden. Wo waren seine alten abgenutzten Schuhe? Die Kiste sah selbstgemacht aus, unprofessionell aus Brettern zusammengenagelt. Nicht weit weg von ihm stand eine andere, die fast genauso aussah. Was war da drin? Etwas zu essen? Sein Gedärm schrie und wand sich in seinem Bauch wie eine zischende Schlange. Auf den gefühllosen Füßen wackelte er hinüber und schob den Deckel auf, konnte in der Dunkelheit aber nichts sehen. Er fasste hinein und tastete sich vor. Es war kalt und erinnerte an Wäsche auf der Wäscheleine an einem Frosttag. Stoff? Seine Hände glitten weiter nach oben und trafen auf etwas Raues. Die Finger zitterten, als sie an dem Rauen entlang fuhren und einen Hals spürten, ein Kinn mit piksenden Bartstoppeln, einen Mund. Kalt und steif. Mit einem Ruck zog er die Hand weg. Ein Mensch! Ein toter Mann mit einem Seil um den Hals wie um seinen eigenen. Er versuchte, seins loszuwerden, aber je mehr er daran zerrte, desto strammer wurde es. Er ließ es hängen. Die Angst und die Kälte hatten seine Muskeln festfrieren lassen. Die Beine waren steif, sie trugen ihn wie Stelzen, als er sich in Richtung Tür bewegte, wo sich der Schnee durch die Bretter drückte und über den Zementboden mit den beiden Holzkisten fegte. Er zog die Tür auf. Auch die war nicht abgeschlossen. Was sollte das auch nützen, wenn der Mann ohnehin tot war? Fliehen konnte er ja nicht. Konnte er? War er auch tot? War er jetzt ein Geist, der aus dem toten Körper gestiegen war? Oder war er die Seele, die bald gen Himmel verschwinden und Bodil, Johan, Simon und Trille aufsuchen würde? Um sich zu entschuldigen. Um Vergebung zu bekommen. Er schaute auf seine eigene Holzkiste, aber die war leer. Da lag kein dünner, dreckiger, hohlwangiger Mann mit roter Nase, grauem Haar und Schnurrbart, in abgewetzten Klamotten, dessen Seele aufgestiegen war. Wie könnte sie auch, sie hatte ihn schon längst verlassen, und ohne Seele war man nur eine leere Hülse. Er ging hinaus in den Sturm. Kälte und Schnee schlugen ihm in der Dunkelheit entgegen. Er schnappte nach Luft. Bewegte sich mühsam vorwärts, indem seine Füße durch den Schnee rutschten, wie auf Skiern oder in Schneeschuhen. Was konnte einer Hülse schon passieren? Die konnte nicht einmal sterben.

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