Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3. Inger Gammelgaard Madsen
fasste es nicht, dass er dem Unterricht in der Technischen Schule folgen konnte. Seine Fehlzeiten waren, so viel sie wusste, auch ziemlich hoch. Und dann war plötzlich seine Freundin, Bitten, nach Aarhus gekommen und eingezogen. Sie hatte einen Ausbildungsplatz in einem Friseursalon in der Innenstadt bekommen und war insofern eigentlich keine Studentin, aber das hatte Andreas nicht als Problem gesehen, weil sie Brians Freundin und er akzeptiert war. Aber sie war nicht besser als er. Allein das Geräusch ihrer kratzigen Kopenhagener Stimme verursachte ihr Gänsehaut. Die führten sich auf, als ob ihnen der Hof gehörte. Aber Andreas tat nichts dagegen. Linda, die sonst viel zu sagen hatte, auch nicht. Sie waren eher von diesen beiden Kopenhagenern fasziniert.
In der Waschküche wurde es unruhig. Gespräche kamen in Wellen herüber, zusammen mit der Kälte und dem Lärm von Schuhen, von denen der Schnee auf der Matte abgetreten wurde und die auf die Fliesen geworfen wurden. Dort herrschte immer so ein Chaos, dass es schwer war, seine eigenen Schuhe und Stiefel zu finden, wenn sie morgens losmussten, aber es lohnte sich nicht aufzuräumen.
Bitten kam als Erste mit einer Einkaufstüte im Arm in die Küche. »Hi, Fette!« Sie stellte die Tüte auf den Küchentisch. Plötzlich kamen sie alle zusammen herein, jeder mit seiner Tüte, außer Brian, der in der Türöffnung mit den Händen in der Tasche stehen blieb und sie faul betrachtete. Anita hatte alle Hände voll zu tun, die Waren in Kühl- und Gefrierschrank unterzubringen. Sie hatte heute Küchendienst und gerade den Abwasch überstanden. Sie hasste diesen Job, aber das gehörte zu einer Gemeinschaft dazu und sie beschwerte sich nicht. Die Miete war billig, sodass sie sie alle von ihrer Ausbildungsförderung oder ihrem Ausbildungsgehalt bezahlen konnten. Es verletzte sie nicht, Fette genannt zu werden. Sie sah das als Kompliment, da alles, was gut war, von Klamotten bis zu Ereignissen, als fett bezeichnet wurde, ein Wort, das die Kopenhagener auch in ihren Wortschatz aufgenommen hatten.
»Ey, mach doch mal die Tür zu!«, rief Bitten Brian zu, der, statt zu gehorchen, ins Wohnzimmer ging und sich aufs Sofa warf, ohne die Michelin-Jacke oder die Moonboots auszuziehen. Anita schüttelte unbemerkt den Kopf. Er war einfach trouble. Bitten hatte eine Gurke aus der Einkaufstüte geholt, davon abgebissen und sie erst dann mit einem provokanten Lächeln Anita überreicht, um sie von ihr in den Kühlschrank legen zu lassen. Und sie war es auch. Big trouble, alle beide. Warum konnte Andreas das nicht sehen? Oder konnte er? Er schloss die Tür und half ihr mit den Einkäufen, obwohl das heute nicht seine Aufgabe war. Sein Gesicht war ernst, aber das war es fast immer. Wenn er zwischendurch mal lächelte, erinnerte das mehr an eine spastische Reaktion, die schnell wieder verschwand. Er sah aus wie so viele andere, die man auf der Straße traf, daher schenkte man ihm selten Beachtung. Er ging in der Menge unter. Rotblonde Haare, ein bisschen hellerer Bartwuchs mit einem nicht besonders kräftigen Oberlippenbart, der irgendwie an den Mundwinkeln herablief und sich mit den anderen wenigen Haaren auf dem Kinn und den Wangen vermischte, die nicht mal ansatzweise einem Vollbart ähnelten. Den intelligenten Ausdruck bekam er durch eine Brille mit dünnem schwarzem Gestell, die auf dem schmalen Nasenrücken ein bisschen zu weit vorne saß. Die rostfarbene Strickjacke, die er fast immer trug, passte zu den Haaren und dem Bart und vervollständigte das Bild. Er studierte Geschichte an der Universität und war total besessen von allem, was sich zwischen 700 und 1050 ereignet hatte. Sie lächelte ihn an. Er war ein sonderbarer Nerd, aber sie mochte ihn und Linda, die nun auch mithalf, die Einkäufe auszupacken. Sie fand eine Packung Kekse und drohte an, Kaffee zu kochen. Ihr Kaffee war immer so stark, dass keiner nachts schlafen konnte, wenn sie mit dem Abendkaffee dran war. Brian war auf dem Sofa eingeschlafen und Bitten saß daneben und sah ihn verträumt an, während sie vorsichtig seinen langen Pony kraulte. Anita hatte immer Angst, dass sie in aller Öffentlichkeit zu weit gehen würden. Manchmal gingen sie an die Grenzen, bis Bitten ihn in ihr gemeinsames Zimmer zog, das neben dem Wohnzimmer lag, und glücklicherweise die Tür schloss. Sie war nicht ganz so exhibitionistisch wie er.
Linda setzte ihre Drohung in die Tat um und machte Kaffee. Anita und Andreas stellten Becher und Teller auf den Couchtisch, wo sie in der Regel Tee und Kaffee tranken – und freitagabends, wenn das Wochenende vor der Tür stand, Bier.
Brian erwachte von dem Kaffeeduft, setzte sich hin und machte es sich mit einem Arm um Bittens Schultern und einer Hand auf ihrem Oberschenkel bequem. Das konnten die beiden am besten – bedient werden –, und das nervte sie langsam. Manchmal kam es ihr vor, als würde sie das meiste im Haushalt erledigen.
»Kaffee ist fertig!«, rief Linda und stellte die Thermoskanne auf den Tisch. Kurz darauf hörten sie die Tür im ersten Stock aufgehen und Bjørn kam die Treppe heruntergelaufen. Anita lächelte. Kaffee konnte ihn aus seiner Höhle locken. Und zwar deswegen, weil er durchgesetzt hatte, dass es der ökologische mit Fair-Trade-Siegel sein sollte. Bjørn war dabei, das zweite Jahr seines Biostudiums abzuschließen, daher war er die meiste Zeit des Tages in seinem Zimmer in seine Studien vertieft, wenn er nicht im Lesesaal der Biologie der Aarhuser Universität saß. Im Großen und Ganzen sahen sie ihn nur beim Essen und wenn er unten war, um seine häuslichen Pflichten zu erledigen. Er war ein ebenso großer Nerd wie Andreas, und die beiden waren es auch, die die intellektuellsten Gespräche führten, bei denen andere nicht mithalten konnten. Bjørn war ein großer Mann. Nicht in Bezug auf die Höhe, sondern auf die Breite. Sie war froh, dass sie nicht die Einzige war, die nicht ganz den korrekten Body Mass Index hatte. Er trug ein zerknittertes khaki und grün kariertes Fjällräven-Hemd, das teilweise aus seiner braunen Hose hing. Naturfarben. Er ließ sich schwer neben Bitten und Brian auf dem Sofa nieder und schien dankbar für die Pause zu sein. »Ich kauf nächstes Mal ein«, versprach er und nahm sich einen Keks. »War’s kalt draußen?« Ein Schimmer in seinen Augen forderte Bitten heraus.
»Lustige Frage für einen Biologen. Was zum Teufel glaubst du?«
Bjørn blinzelte ein paar Mal mit kleinen Augen unter buschigen Augenbrauen in einem rotwangigen Gesicht. Seine Haare waren ein Gewusel aus gekräuselten, hellblonden Locken. Er hatte es am schwersten, sich an diese zwei Neuen in der Familie zu gewöhnen, vielleicht weil er nicht so oft mit ihnen zusammen war.
»Wusstet ihr, dass die Polizei in der Umgebung unterwegs ist, um Zeugen zu finden? Die waren noch nicht hier, oder?«, beeilte er sich zu sagen.
Brian zuckte ein bisschen zusammen.
»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Andreas in seiner ruhigen und besonnenen Art.
»Ich habe ihn vom Fenster aus gesehen. Es gibt echt keinen Zweifel daran, dass das ein Bulle ist, der von Hof zu Hof fährt.«
Die Kommune lag auf einem Hügel etwas höher als die Nachbarhöfe, sodass Bjørn von seinem Zimmer unterm Dach eine recht gute Aussicht über die Gegend hatte.
»Na und?« Bitten kaute auf einem Schokoladenkeks. »Warum sollte er herkommen, wenn wir so weit weg wohnen, dass wir unmöglich etwas sehen oder hören konnten? Du bist eigentlich der Einzige, der was bemerkt haben könnte.«
»Wenn es nicht dunkel gewesen wäre«, murmelte Bjørn.
»Ich hoffe wirklich, die finden etwas, dem sie nachgehen können. Es ist furchtbar, dass das passiert ist«, meinte Linda. Anita versuchte, Brian nicht anzusehen. Er hatte nur einen kranken Kommentar über Osteuropäer losgelassen, als sie beim Frühstück über das Thema gesprochen hatten. Als sie heute Morgen an der Straße entlang zur Bushaltestelle gelaufen war, hatte sie in den Hof geschielt, als sie daran vorbeigegangen war. Ihr war übel geworden und sie hatte innerlich gezittert. Bis zu den Knochen gefroren. Um den Garten herum war rot-weißes Absperrband. In dem weißen Feld stand Polizei, und die Tür zum Hauptgebäude war mit einem gelben Schild versiegelt. Im Seminar wurde nicht so viel über den Mord geredet, aber es fiel ihr schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Das Ganze war zu nah gekommen. Es war letzte Nacht passiert, während sie nur ein paar Kilometer davon entfernt geschlafen hatten. Sie hätten bei ihnen einbrechen können. In der Zeitung stand, die Polizei vermute, der Hof sei längere Zeit beobachtet worden. Wenn das die Vorgehensweise war, hatten sie wohl schnell eingesehen, dass bei einem Haufen armer Studenten nichts zu holen war. Aber allein bei dem Gedanken, vielleicht von den Mördern überwacht worden zu sein, schauderte es sie.
»Die Leute können es doch echt mal lassen, damit anzugeben, dass sie Waffen haben«, fand Brian, legte ein Bein über die Armlehne des Sofas und trank einen Schluck Kaffee.