Der Ruf der Heimat. Artur Brausewetter

Der Ruf der Heimat - Artur Brausewetter


Скачать книгу
und unvermutet, niemals mitten in der Arbeit, aber mehrere Male auf dem Wege zum Kontor, der vielleicht schon zu weit und anstrengend für ihn geworden.

      Er hat mit niemand aus seinem Hause darüber gesprochen. Mit wem sollte er auch? Seine Frau ist mit dem eigenen Leiden vollauf beschäftigt, und er darf sie nicht aufregen. Seine Kinder aber, Timm in seiner strotzenden Gesundheit und Ina in ihrer abgesonderten Art, wären einer Klage von ihm gewiss wenig zugänglich gewesen.

      Schliesslich hat er sich dem alten Meckbach, seinem vielbewährten Hausarzt, offenbart. Der hat ihn nach einer eingehenden Untersuchung für vollkommen gesund erklärt. „Ein bisschen Nerven- und Muskelüberanstrengung“, hatte er gesagt. „Das ist alles. In unseren Jahren muss man haushälterisch mit seinem Körper umgehen.“

      Und er hatte recht behalten. Es ging vorüber, geht auch jetzt wieder so schnell vorüber, wie es gekommen ist. Und er kann seinen Weg, von Druck und Schmerz befreit, fortsetzen.

      „Aber seltsam ist es doch“, denkt er bei sich selber, „komisch beinahe! Da beschäftigt man sich den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit seinen Plänen und Geschäften, kauft die Zeit aus, wünscht der Sekunde Ewigkeitsdauer, nur um sie gewinnreich nutzen zu können. — — — Und eines Tages versagt der Körper seinen Dienst. Man wird schwach .. hinfällig .. krank .. Und dann — —“

      Ja — — — und dann?

      Durch die Luft schwimmt heller Glockenton. Das Uhrenspiel im Rathausturm lässt einen frommen Choral ertönen, kündet dann mit ehernen, bedächtig ausholenden Schlägen die neunte Stunde.

      Es ist genau die Zeit, in der er Morgen für Morgen in die Speicherinsel einbiegt. Mit ihr beginnt die Welt, in der er lebt und wirkt. Wie ein weiter Lagerplatz dehnt sie sich mit den übereinandergetürmten Stockwerken, den scharf und spitz hervorspringenden Giebeln. Von den Stürmen der Zeit zerklüftet und zernagt stehen sie Schulter an Schulter, tragen noch ihre Inschriften, ihre meist der Tierwelt entnommenen Namen aus verklungenen Jahrhunderten.

      Hier befindet sich, ein Fremdling in seiner schmalfrontigen, verträumten Umgebung und sich fast grotesk von ihr abhebend, ein nach moderner Sachlichkeit breit und hoch aufgeführtes Gebäude: das Holzexporthaus Vandekamp & Co. Und als Friedrich Vandekamp in seine weitangelegte Flurhalle tritt, lässt er Frühling und architektonische Schönheit hinter sich, denkt und lebt in ihm nichts als das Geschäft.

      Im Kontor ist heute nicht die Ruhe, deren Vorbild er gibt und die er auch von den anderen verlangt. Alles ist in einer Erregung, deren Schwingungen sich von Pult zu Pult fortpflanzen. Man hat auf den Chef gewartet, gibt, scheinbar in eifriger Versenkung über seine Befrachtungstabellen und Konossemente gebeugt, gespannte Obacht, was er sagen, was er tun wird.

      „Er weiss noch nichts“, flüstert Max Laudien, der Einkäufer, zu Herrn Siebenfreund hinüber, der der Abteilung für Polen und Pommerellen vorsteht.

      „Er weiss alles“, gibt der zurück, „er sagt nur nichts.“

      Indessen ist Friedrich Vandekamp in sein Privatkontor getreten. Es ist ein von allen anderen Räumen streng abgeschlossenes Zimmer, nicht umfangreich und mit nüchterner Einfachheit ausgestattet. In der Mitte, die grössere Hälfte des Zimmers einnehmend, befinden sich zwei gegenübergestellte Schreibtische. Auf dem des Chefs liegt ein Stoss der für ihn streng ausgesonderten Post. Der andere ist mit Geschäftsbüchern, Tabellen und Konnossementen belegt.

      Von dem Augenblicke an, in dem Friedrich Vandekamp diesen Raum betritt, ist er für alle anderen gesperrt. Dafür sorgt schon Söna Sentland, die niemanden zum Chef lässt. Nur unaufschiebbare Dinge und solche von höchster Wichtigkeit werden ihm persönlich vorgetragen. Für alles andere ist Berthold Kernreif da, der schmächtige, von oben bis unten zugeknöpfte Prokurist, der im Verkehr mit den Kunden und Maklern die Unnahbarkeit und die schweigende Strenge der Zurückhaltung von seinem Chef gelernt hat, ihn überhaupt, wo es angebracht oder nur möglich ist, gern kopiert.

      Und schon hat Friedrich Vandekamp den ersten Verdruss des Tages, gegen den er allmählich abgestumpft sein sollte, es aber immer noch nicht ist: der Stuhl ihm gegenüber ist leer.

      „Er kann sich nicht an die Pünktlichkeit gewöhnen“, flüstert er mehr traurig als ärgerlich vor sich hin. „Vermutlich hat er wieder die halbe Nacht im Klub gesessen oder seine kleine Freundin nach dem Kino zu Lauterbach geladen ...“

      Er nimmt seine Post zur Hand. Einige der zahlreich eingegangenen und meist ausführlichen Schreiben mustert er oberflächlich, um sie bald zur Seite zu legen, andere fliegt er durch, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Dann drückt er den roten Knopf auf dem umfangreichen Fernsprechapparat zu seiner Linken, nimmt den Hörer, ruft ein kurzes Wort hinein, und Theobald Kernreif, der im Dienste des Hauses ergraute Prokurist, erscheint.

      Friedrich Vandekamp gibt ihm an der Hand der verschiedenen Schreiben und der zu ihnen gemachten Bemerkungen seine Weisungen, knapp, klar, ein jedes Wort wägend, damit er nicht eins zuviel sage. Denn er weiss, mit zu grossen Anforderungen darf er den nur auf sehr gerader Linie laufenden Gedankengang seines Prokuristen nicht beschweren. Schliesslich braucht er kaum einen Prokuristen. Er disponiert und verfügt allein, und Söna Sentland mit ihrem schnellen Erfassen und gewissenhaften Ausführen genügt ihm vollkommen.

      So hat auch diesmal die ganze Unterredung nur wenige Minuten gedauert, und Friedrich Vandekamp gibt den üblichen kurzen Wink, der eigentlich nur ein ganz leichtes Aufheben des Armes von der Schreibtischplatte ist und bedeutet, dass Theobald Kernreif entlassen ist.

      Der aber rührt sich nicht von der Stelle. Wie angewurzelt verharrt er auf seinem Platze, das ernste, in einem unbestimmbaren Blassgrau schimmernde Auge unter den gewölbten Brillengläsern mit einem halb besorgten, halb ängstlichen Blick auf seinen Chef gerichtet.

      „Sie wissen wohl noch nicht, Herr Vandekamp — —“

      Schon hält er inne, macht eine jener schwerwiegenden Pausen, die er als eine seiner stärksten Gesprächshilfen ansieht und die Friedrich Vandekamp unerträglich sind.

      „Dass Brackmann und Collins, denen wir die grosse Lieferung von Eichenrund- und Exporthölzern übertrugen, in Schwierigkeiten geraten sind, dass die Nachrichten aus Spanien wenig günstig lauten, dass die Unruhen dort, die bereits im Abflauen sind, uns weniger Sorge machen dürften als die Mitteilung unseres Korrespondenten aus Madrid, dass die Firma, mit der wir abgeschlossen, auf nicht mehr ganz sicheren Füssen steht — nicht wahr, das wollten Sie sagen?“

      „Ja, wenn Sie so genau unterrichtet sind — —“

      Theobald Kernreif kaut an den Worten. Er will eine gewichtige Einwendung machen, überlegt sie aber hin und her. Denn er darf den Respekt nicht verletzen, den er seinem Chef schuldig ist und den er, solange er seine Stellung bekleidet, stets als sein höchstes Gesetz betrachtet hat.

      „— — Dann verstehe ich nicht“, sagt er jetzt, „dass Sie einen so weitgehenden Vertrag mit Brackmann und Collins tätigen konnten.“

      „Vertrag? Von einem Vertrag ist nie die Rede gewesen.“

      „Wenn er auch nicht formuliert war, so hat ihn Herr Brackmann doch als solchen aufgefasst.“

      „Das ist seine Sache.“

      „Und hat danach gehandelt.“

      „Das ist seine Torheit.“

      „Das Material, dessen wir für unsere spanische Lieferung bedurften, überstieg das Gewohnte und ging gewiss über Philipp Brackmanns Kräfte.“

      „So hätte er die Lieferung ablehnen müssen.“

      „Der Auftrag war ihm zu verlockend. Er hat einen solchen seit langer Zeit nicht erhalten.“

      „Man soll nicht Kaufmann werden, wenn man nicht das Zeug dazu hat.“

      Die Tür öffnet sich ... behutsam und leise, als bewegte sie ein schlechtes Gewissen. Ein junger Mann mit einem für die frühe Jahreszeit stark gebräunten Gesicht tritt in das Zimmer, wirft einen etwas unsicheren Blick auf den Vater, geht auf ihn zu, streckt ihm die gleichfalls fast dunkel


Скачать книгу