Der Ruf der Heimat. Artur Brausewetter
du immer alles weisst, bevor man es dir sagt. Auch in Kleinigkeiten. Es ist wirklich erstaunlich.“
Er hat den Prokuristen flüchtig begrüsst und sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Eilig gleiten seine wohlgepflegten Finger durch die Postsachen, die ihm der Vater zugeschoben hat. Aber er ist nicht bei der Sache. Immer wieder schielt sein Blick zu dem Vater hinüber, der einige Tabellen und Konnossemente einer genauen Musterung unterzieht. „Ob er nichts sagen wird? Ob er wartet, bis ich die Sache anschneide?“
„Ich bringe dir dafür wichtige Nachrichten“, rafft er sich schliesslich auf und macht dazu ein ernst besorgtes Gesicht, das ihm selber fremd vorgekommen wäre, wenn er es gesehen hätte. „Freilich, ob sie gerade angenehm sind — —?“
Er merkt, wie der Prokurist, der die erledigten Befrachtungs- und Stapeltabellen wieder an sich genommen und in seine grosse Mappe versenkt hat, ihm einen Wink gibt.
„Auch das weiss der Vater schon?“ fragt er ein wenig enttäuscht und zugleich erleichtert. „Ja, was soll denn nun werden?“
Friedrich Vandekamp antwortet nicht. Der Prokurist sieht die Zeit gekommen, sich zu entfernen. Er weiss, dass die beiden Herren jetzt allein sein wollen.
„Ich wünsche Fräulein Sentland“, sagt Friedrich Vandekamp kurz. Dieser Auftrag berührt Theobald Kernreifs empfindlichste Stelle. Denn er hat es längst gemerkt, dass der Chef und auch der junge Herr, den er in die Obliegenheiten und Geheimnisse des Hauses Vandekamp & Co. seinerzeit mit Gewissenhaftigkeit und ernstem Eifer eingeführt, in wichtigen Angelegenheiten mit der kleinen Sentland, die auch noch als Lehrling unter ihm gearbeitet, lieber verhandeln als mit ihm, dem erprobten und verantwortlichen Vertreter des Hauses.
„Ja, was soll nun werden?“ wiederholt Timm seine Frage, als sie beide allein sind.
Friedrich Vandekamp erledigt eine telephonische Anfrage, beugt sich über die Papiere, die ihm der Prokurist zur Unterfertigung dagelassen.
„Mit Brackmann und Co. soll es mehr als wackelig stehen. Du gabst ihm die Lieferung ausgerechnet vor Toresschluss. Das wäre an sich ja nicht schlimm. Aber dass du ihm eine Vorausbezahlung bis zur Hälfte des Betrages zubilligtest — — —“
Er erwartet eine Antwort, sei sie auch eine Zurechtweisung.
Aber nichts von beiden. Dies verfluchte Schweigen! Diese Harthörigkeit, hinter die sich der Vater jedesmal wie hinter einen undurchbrechbaren Wall verschliesst! Wie oft haben sie ihn, den viel Lebhafteren und Impulsiveren, zur Verzweiflung gebracht!
„Freilich, dass seine Mittel damals schon erschöpft waren, das konntest du nicht wissen.“
Friedrich Vandekamp legt den Riesenbleistift, mit dem er, wenn er disponiert (und er disponiert eigentlich immer) ein paar Aufzeichnungen zu machen pflegt, auf die Schreibtischplatte.
„Wer sagt dir, dass ich es nicht wusste? Im übrigen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der Auftrag ist zurückgezogen. Brackmann wird meinen eingeschriebenen Brief heute morgen erhalten haben.“
„Aber die Anzahlung — —?“
„Konnte ich im letzten Augenblick noch zurückrufen.“
„Ja .. aber warum sagtest du das nicht gleich?“
„Weil du mich nicht zu Worte kommen liessest. Aber ich habe mich über die warme Anteilnahme gefreut, die du in diesem Falle meinen geschäftlichen Massnahmen entgegenbrachtest. Es war auch Zeit. In dir steckt ein besserer Kaufmann, als ich bis jetzt vermuten durfte.“
Timm lächelt sein halb überlegenes, halb geschmeicheltes Lächeln. Aber, was der Vater ihm da eben eröffnet, erscheint ihm nicht recht fassbar.
„Und Brackmann — —?“ fragt er schliesslich.
„Wie er sich damit abfindet, ist seine Sache. Im Geschäftsleben ist sich jeder selbst der Nächste. Das geht nun einmal nicht anders. Auch du wirst es lernen.“
Ein junges Mädchen steht in dem Zimmer. Unmerkbar ist es eingetreten. Es weiss, dass es leise kommen und gehen muss, dass das geringste Geräusch den Chef bei der Arbeit stört. Es kennt jede seiner Gepflogenheiten, seine Neigungen und Abneigungen, erfühlt sie mit jener feinsicheren Einpassung des weiblichen Instinktes, dem Gefühl alles, Lernen und Erfahrung nur Zubehilfe sind.
Kein Wunder! Ist es doch als fünfzehnjähriger Lehrling in das grosse Exporthaus eingetreten, vermöge seiner Begabung und Gewissenhaftigkeit bald höher gerückt, Friedrich Vandekamps persönliche, unentbehrliche Sekretärin geworden. Eine schmal, aber kraftvoll gebaute Erscheinung in schmuckem, blau und weiss kariertem Jumper mit freier Stirn unter dichten dunklen Haaren, Augen, deren überlegene Klugheit ihrer Jugend vorausgeeilt ist und denen ein leichter Hauch von mädchenhafter Schwärmerei etwas Eigenes und Anziehendes gibt, unter keck geschwungenen Lippen ein etwas hartgerundetes, energisches Kinn: Söna Sentland.
„Ich möchte diktieren“, sagt Friedrich Vandekamp. „Sie haben alles zur Hand?“
Söna Sentland setzt sich, nimmt Stenogrammheft und Stift, schreibt mit fliegender und sicherer Hand nach Friedrich Vandekamps Diktat.
Da dringen von draussen her die Töne eines leidenschaftlich geführten Zwiegesprächs. Die eine Stimme begehrt Einlass zum Chef, die andere wehrt ab, nachdrücklich und energisch. Aber ohne Erfolg.
Denn schon wird die streng bewahrte Tür mit einem harten Ruck aufgerissen. Ein Mann tritt in das Kontor, an dem alles heiss aufbegehrende Erregung ist: Philipp Brackmann.
„Ich möchte doch sehen, wer mir hier den Eintritt wehren will, wo es für mich um Sein oder Nichtsein geht.“
„Wenn Sie sich in der meinem Personal zur Pflicht gemachten Form hätten anmelden lassen“, erwidert Friedrich Vandekamp, indem er sich von seinem Stuhle erhebt, „wäre Ihnen dieser unliebsame Auftritt, den ich bedaure, erspart geblieben.“
Philipp Brackmann sieht die Hand nicht, die sich ihm entgegenstreckt, er nimmt auch den Stuhl nicht, den ihm Söna Sentland hinschiebt.
„Ich bin gekommen, mir mein Recht zu holen.“
„Von einem Recht kann wohl kaum die Rede sein.“
„Nun, dann von einem schreienden Unrecht, das Sie mir angetan haben, Herr Vandekamp.“
„Ich bitte, setzen Sie sich. Im Stehen verhandele ich nicht gern.“
Philipp Brackmann lässt den schweren Körper in den Sessel gleiten.
„Sie sandten mir heute diesen Brief.“
Er nimmt ein Schreiben aus der Brusttasche, dem man es ansieht, wie manches Mal wohl eine zornentbrannte Hand auf seine Seiten geschlagen, wie es zwischen zitternden Fingern gedrückt und zerknittert wurde.
„Sie kündigen mir eine Lieferung, für die Sie mir eine sichere, wenn nicht gewisse Aussicht gemacht, kündigen Sie mir, nachdem ich alle Vorbereitungen für sie getroffen —“
„Es hat mir sehr leid getan, Herr Brackmann, Ihnen eine so schwere Enttäuschung bereiten zu müssen. Sie können mir glauben, ich habe harte Stunden durchgemacht, bevor ich mich zu diesem Schritte entschloss. Aber er war eine Notwendigkeit, der ich mich nicht entziehen konnte, wenn ich mich nicht ruinieren wollte.“
Man hört es seinen Worten an, dass sie aus einem traurigen Herzen kommen.
Aber dazu ist Philipp Brackmann nicht hergekommen, um sich von dem, das weiss er längst und fühlt es in diesem Augenblick aufs neue, weit überlegenen Vandekamp mit ein paar freundlichen Worten abspeisen zu lassen.
„Ich kann mich mit dieser Erklärung, selbst mit Ihrem Bedauern, nicht abgefunden sehen. Entweder ziehen Sie Ihre Absage zurück und lassen mir die Lieferung —“
„Ich sagte Ihnen, dass es unmöglich ist.“
„So beanspruche ich eine Entschädigung.“
„Eine Entschädigung? Wofür?“
„Für