Der Ruf der Heimat. Artur Brausewetter

Der Ruf der Heimat - Artur Brausewetter


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sie einmal in den hellen Tag sehen, dann wieder von schweigender Nacht eingehüllt sein will. Ihr Bett ist in die Mitte des Zimmers gestellt; an seiner einen Seite steht ein kleiner Tisch mit Fernsprecher, Läuteapparat, einem Block mit Merkzetteln und gespitzten Bleistiften, auf der anderen ein grösserer mit Gläsern, Arzneien, einigen Zeitschriften und Büchern.

      Ein Nachtgewand von olivenfarbener Seide mit eingestickter, sorgsam abgetönter Blumenzeichnung umfliesst die früher zur Fülle neigende, jetzt etwas abgemagerte, aber immer noch wohlgebaute, vornehm-kühle Frauengestalt mit dem gelblich-blassen Gesicht, strenger Stirn und herrischem Kinn.

      Schwer und müde öffnen sich die in ihrer Farbe wie in ihrem Ausdruck oft wechselnden Augen, als Friedrich Vandekamp auf Zehenspitzen an ihr Lager tritt.

      „Nein, nicht auf den Bettrand, bitte! Du weisst, ich kann es nicht vertragen. Nimm einen Stuhl!“

      Er tut, wie sie geheissen. Zagende Besorgnis, liebendes Mitleid umfassen ihre matt ruhende Gestalt.

      „Als ich nach Hause kam, liess sich Pfarrer Wendland anmelden. Vielleicht willst du ihn auch noch sehen.“

      „Nein, heute nicht. Er kommt ja doch nur Inas wegen.“

      „Sie schien nicht allzu erfreut über seinen Besuch.“

      „Über wen freut sie sich? Wen hat sie gern? Nicht einmal die Mutter.“

      Sie legt sich das Kopfkissen zurecht, scheint eine Weile teilnahmslos.

      „Ich muss es verschmerzen“, fährt sie mit nachdenklicher Stimme fort. „Es ist mir mit der eigenen Mutter nicht anders gegangen, wenn auch die Schuld an ihr liegt. Alles wiederholt sich im Leben. Alles vererbt sich. Alles rächt sich.“

      Er ist erstaunt über ihre Worte. So hat sie noch niemals gesprochen. Ist es das lange Krankenlager?

      „Aber um ihretwillen tut es mir leid. Sie hat nie eine Freundin gehabt, wird nie eine haben. Oft fürchte ich, sie ist einer grossen Liebe gar nicht fähig. Vielleicht haben wir sie, besonders du, zu sehr verwöhnt.“

      „Und den Jungen weniger?“

      Schon verdriesst es ihn, dass er es gesagt hat. Über diesen Punkt ist mit ihr nicht zu reden, und er hat sich fest vorgenommen, sie nicht aufzuregen.

      „Genug. Geh jetzt! Ich muss ausruhen.“

      Auf der Diele trifft er mit Pfarrer Wendland zusammen.

      „Haben Sie meine Tochter nicht angetroffen?“ fragt er zerstreut.

      „Mein Besuch galt Ihnen. Nicht Ihrer Tochter.“

      Sofort weiss Friedrich Vandekamp, weshalb er gekommen ist.

      „Ich wählte diese Mittagsstunde, weil ich sicher war, Sie jetzt anzutreffen.“

      Und als Friedrich Vandekamp ihn in sein Bibliothekszimmer gebeten, in dem er persönliche Besuche zu empfangen pflegt:

      „Ich möchte über den Fall Brackmann mit Ihnen sprechen. Der Mann ist heute in heller Verzweiflung von Ihnen in sein Kontor zurückgekehrt.“

      „Er steht Ihnen nahe?“

      „Er ist meiner Seelsorge anvertraut. Man hat sich an mich gewandt, dass ich ihm zur Seite stehe in seiner Not.“

      „Und was soll ich dabei tun?“ fragt Friedrich Vandekamp in der ihm zur Natur gewordenen Geschäftigkeit. Aber ein Schatten fliegt über sein Gesicht. „Ich weiss nicht, ob man Sie in die Angelegenheit, um die es sich handelt, eingeweiht hat. Es ist wohl auch gleich. Denn im letzten Grunde kann sie nur vom kaufmännischen Standpunkt beurteilt werden.“

      „Ich bin in diesen Dingen wenig bewandert. Das Kaufmännische liegt mir ganz und gar nicht. Sie mögen in Ihrem Rechte sein, ich bezweifele es nicht. Aber es gibt ein anderes Recht, ein ungeschriebenes, das in unserer eigenen Brust wohnt und von höherer Geltung ist als das geschriebene.“

      Friedrich Vandekamp erhebt sich von seinem Stuhle, macht einige Schritte durch das Zimmer, bleibt stehen.

      „Ich meine“, fährt der junge Geistliche fort, „im letzten Grunde können Handel und Wandel, können die Gesetze des Geschäftes und Kontors das Entscheidende nicht sein. Sondern die Verpflichtung, die der Mensch gegen den Menschen hat.“

      „Und in welcher Weise, meinen Sie, könnte ich dieser Verpflichtung nachkommen?“

      „Indem Sie mir helfen, den niedergebrochenen Mann aufzurichten, ihm einen Beruf, ein Lebensziel zu weisen, das ihm wieder Lust und Kraft zur Arbeit gibt.“

      „Er hat sein Geschäft.“

      „Mit dem ist es zu Ende. Mit der grossen Lieferung, die Sie ihm in Aussicht stellten, hoffte er es noch einmal aufzubauen. Wo nun aber auch diese fehlgeschlagen — und vielleicht nicht ganz ohne Ihre Schuld —“

      In Friedrich Vandekamps eisernen Zügen zuckt es auf. Er will widersprechen, will, ganz gegen seine Art, heftig werden. Er unterdrückt das aufwallende Wort. Aber diese Unterredung fängt an, ihn zu peinigen.

      „Ich bin bereit, ihm einen Betrag gegen geringe Zinsen vorzuschiessen.“

      „Damit ist ihm nicht geholfen. Das Geld, die dringendsten und notwendigsten Verpflichtungen zu erfüllen, hat ihm seine Tochter zur Verfügung gestellt.“

      „Seine Tochter?“

      Ein grosses Erstaunen ist in Friedrich Vandekamps Frage. ‚Seltsam‘, denkt er, ‚auch einmal eine Tochter, die für ihren Vater eintritt!‘

      „Sie hat ihm das Erbteil ihrer Mutter zum Opfer gebracht. Nein, wir müssen andere Wege suchen, müssen ihn irgendwo unterzubringen, ihm eine Stellung zu verschaffen suchen. Denn wenn er jetzt arbeitslos würde, so wäre es sein Untergang. Und schliesslich lebt der Mensch ja nicht vom Brot allein. Aber wenn Sie mir nicht helfen wollen, nicht helfen können, so werde ich andere Wege finden.“

      Friedrich Vandekamp kämpft einen harten Kampf.

      „Ich werde sehen“, sagt er.

      Da läutet der Fernrufer. Er nimmt den Hörer.

      „Man fragt, ob Sie noch bei mir sind“, wendet er sich an den Pfarrer, indem er ihm den Hörer hinüberreicht.

      Schweigend vernimmt Jürgen Wendland, was ihm durch den Fernrufer verkündet wird. Es ist nur eine kurze Botschaft.

      „Es ist zu spät“, sagt er zu Friedrich Vandekamp, indem er den Hörer auf die Gabel legt. „Herr Brackmann hat einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten und ist soeben in das Städtische Krankenhaus gebracht worden.“

      Nein, ins Kontor will Friedrich Vandekamp heute nicht mehr gehen.

      Was der junge Geistliche da zu ihm gesprochen, ist nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben.

      „Recht hat er“, sagt er zu sich selber. „Nein, der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und wenn ich das Dasein bedenke, das ich so Tag für Tag führe, in dem sich alles um das Verdienen dreht und immer wieder um das Verdienen — — —

      Und für wen?“

      Er denkt an die Tochter des alten Brackmann, die ihr Letztes für den Vater hingibt.

      Wer würde ein Gleiches für ihn tun?

      Timm?

      Er lebt nur seinem Sport und den Vergnügungen, die er mit sich bringt.

      Ina?

      Manchmal hat er das Empfinden, als hänge sie an ihm mit einer gewissen Liebe. Aber sie ist viel zu sehr in sich geschlossen und mit sich beschäftigt, um diese in irgendeiner Weise offenbaren zu können.

      „Ja ... für wen lebe ich? Für wen placke ich mich vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht?

      Und ... wer liebt mich?

      Ein Einsamer bin ich ... ein Fremdling im eigenen Hause.“

      Mit einer solchen Gewalt kommt dies


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