Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman. Jenny Pergelt

Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman - Jenny Pergelt


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Chefarzt Dr. Norden – 1165 –

      Vor der Behnisch-Klinik hielt Nadja Dannehl kurz inne. Sie sah an dem Gebäude hoch, auf der Suche nach einem bestimmten Fenster in der dritten Etage. Das musste es sein. Ein schmales, unscheinbares Fenster, an dem sie oft gesessen hatte, um das geschäftige Treiben vor dem Haus zu beobachten, in der Hoffnung, für kurze Zeit ihren großen Kummer vergessen zu können. Dreißig Jahre war es her. Nadja musste schlucken. Eine halbe Ewigkeit.

      Unbewusst strich sie über die schmale, kaum sichtbare Narbe an ihrem linken Handgelenk. Nur leicht erhaben, etwas blasser als ihre Umgebung, wirkte sie unschuldig und bedeutungslos. Doch das war sie nie gewesen. Weder damals, nach dem Unfall, noch heute. Diese Narbe erinnerte sie in jeder Minute ihres Lebens daran, was das Schicksal ihr genommen hatte: Eine große Karriere als Violinistin.

      Sie war Anfang zwanzig, als sie sich bei einem harmlos anmutenden Sturz das Handgelenk brach – mit gravierenden Folgen: zersplitterte Knochen, beschädigte Bänder. Ihr Handgelenk hatte dadurch einen Teil seiner Beweglichkeit unwiederbringlich verloren und zudem eine schmerzhafte Arthrose entwickelt. Für eine Violinistin mit riesigen Ambitionen eine schreckliche Katastrophe.

      Dort oben, in diesem kleinen Krankenhauszimmer, hatte sie ihre großen Träume und Hoffnungen von einer ruhmreichen Karriere tränenreich begraben. Es hatte nie einen Plan B gegeben, sondern immer nur ihre Geige. Nie war ihr das Leben so trist und sinnlos erschienen wie an diesen Tagen. Wenn Horst nicht gewesen wäre …

      Horst war ihr in dieser schweren Zeit kaum von der Seite gewichen. Er musste geahnt, nein, gewusst haben, wie oft sie darüber nachdachte, dieses kleine Fenster da oben zu öffnen, um ihrer Qual für immer zu entfliehen.

      Irgendwann wurde es dann leichter, das Unvermeidliche zu ertragen. Und irgendwann hatte sie sich in Horst verliebt und ihn geheiratet. Als dann Sophie, ihre kleine, süße Sophie zur Welt kam, war die Trauer um ihre zerstörten Träume ausgestanden. Sie hatte eine Tochter, um die sie sich kümmern konnte und die mit dem gleichen, großartigen Talent gesegnet war wie ihre Mutter. Ihr Leben bekam nun wieder einen Sinn. Schon als Sophie mit vier Jahren die ersten Streichübungen auf ihrer winzigen Kindergeige machte, hatte Nadja gewusst, dass es ihr Engelchen weit bringen würde. Auch Sophies Geigenlehrerin hatte früh davon gesprochen, dass das kleine wissbegierige Mädchen ein Ausnahmetalent sei. Das Beherrschen des Instruments hatte ihr nie Mühe bereitet. Wie von selbst fanden ihre zarten Finger stets den richtigen Ton auf den Saiten. Es dauerte nicht lange, bis Sophie die ersten Preise gewann und aus immer bedeutenderen Wettbewerben als Siegerin hervorging. Als dann die Erfolge bei internationalen Ausscheidungskämpfen dazukamen, flatterten bald Angebote von Agenturen ins Haus. Sophie war gerade mal siebzehn, als Nadja für sie den Vertrag bei einer New Yorker Agentur unterschrieb. Schon am nächsten Tag verließen sie gemeinsam München. Jetzt, nach zehn Jahren, gehörte Sophie zu den besten Violinistinnen der Welt. Sie hatte es weit gebracht. Viel weiter als ihre Mutter, der dieser dumme Sturz die Chance auf ein erfülltes Leben genommen hatte.

      Nadja betrat die Behnisch-Klinik und ging durch die lichtdurchflutete Lobby. Ihrem Vorhaben, direkt zum Chefarzt der Klinik zu gehen, widerstand sie. Sie hatte noch eine Viertelstunde Zeit bis zu ihrem Termin. Nadja konnte es nicht leiden, wenn sich die Menschen nicht an verabredete Zeiten hielten. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie zu früh oder bereits zu spät dran waren. Für beides brachte sie kein Verständnis auf.

      Zügig ging sie die kleine Ladenzeile am Ende der Lobby entlang. Für die Geschäfte mit ihren hübschen Auslagen hatte sie keinen Blick übrig. Auch nicht für die Cafeteria, die sie zu ihrer rechten Seite liegen ließ. Sie kannte nur ein Ziel: den wunderschönen Klinikpark, der von der früheren Besitzerin der Klinik, Jenny Behnisch, eigenhändig angelegt worden war.

      Sie trat durch die zweiflügelige Terrassentür hinaus ins Grüne und atmete tief durch. Mit dem Duft der Frühlingsblumen und der Fliederbüsche strömten auch Erinnerungen in ihren Geist. Erinnerungen an eine Zeit, in der sie hier, inmitten der üppig wachsenden Natur, lernte, den Schmerz über das Ende ihrer Karriere zu überwinden.

      Wie von selbst führten sie ihre Füße einen schmalen Weg aus behauenem Granit entlang, vorbei an riesigen Strauchpäonien bis zu einer kleinen, versteckt liegenden Holzbank. Hier hatte sie mit Horst in endlos langen Stunden zusammengesessen und schließlich ihre Liebe für ihn entdeckt. Mit einem leisen, wehmütigen Seufzer sah sie sich um. Die kleinen, zarten Pflanzen waren inzwischen zu stattlichen Büschen und kräftigen Bäumen herangewachsen. Und natürlich wuchsen nicht mehr dieselben Blumen in den Beeten. Aber Nadja hätte den Garten trotzdem unter allen Gärten dieser Welt wiedererkannt, so vertraut war er ihr noch heute.

      Sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der wärmenden Frühlingssonne entgegen. Entrückt lauschte sie dem sanften Rauschen der Blätter, die sich in dem lauen Frühlingswind wiegten. Plötzlich wünschte sie sich, sie könnte für immer hier sitzenbleiben und einfach nur sie selbst sein. Oder ein wenig länger in ihren Erinnerungen verweilen. Erinnerungen an eine Zeit, in der sie nicht die knallharte Geschäftsfrau und Managerin ihrer berühmten Tochter war, sondern einfach nur eine liebende Mutter - und Ehefrau. Der Gedanke an Horst und an ihre Ehe, die vor vielen Jahren zerbrochen war, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie sprang auf und verließ den Park so schnell, als hätte sie Angst, nie wieder aus ihm oder ihren Erinnerungen herauszufinden.

      Bevor Nadja an die Tür, die ins Vorzimmer des Chefarztes führte, anklopfte, überprüfte sie hastig den korrekten Sitz ihres eleganten Businesskostüms und kontrollierte mit flinken Handgriffen, ob der leichte Wind ihrer strengen Hochsteckfrisur geschadet hatte. Ihr gutes Aussehen war Nadja wichtig. Nicht nur, weil ihr die anerkennenden Männerblicke schmeichelten. Ein makelloses Erscheinungsbild passte zu ihrem Wunschbild von Perfektion und gediegener Eleganz.

      »Mein Name ist Nadja Dannehl. Ich habe einen Termin bei Dr. Norden.« Nadja sprach kühl und ein wenig herablassend, als sie sich der Assistentin des Chefarztes vorstellte. Ihr war es recht, wenn sich Fremde von ihrem Auftreten einschüchtern ließen. Sie trat nie als Bittstellerin auf, sondern als diejenige, die forderte und keinen Widerspruch duldete. In einer Welt, die immer noch von Männern dominiert wurde, durfte sie nicht schwach wirken. Das machte sie nur angreifbar und verletzbar. Das Musikgeschäft war hart, und es überlebten nur diejenigen, die die Regeln verstanden und danach lebten. Nadja hatte früh gelernt, dass es vorteilhafter war, für eine eiskalte, gefühllose Geschäftsfrau gehalten zu werden als für ein liebenswertes Dummchen. Sie hatte ihr Verhalten so schnell angepasst, dass sie inzwischen selbst nicht mehr wusste, was davon bloße Fassade war.

      »Guten Tag, Frau Dannehl«, empfing Katja Baumann, die Assistentin des Chefarztes, ihre Besucherin mit einem freundlichen Lächeln, das ehrlich und nicht aufgesetzt wirkte. »Dr. Norden wird gleich bei Ihnen sein. Er ist im Augenblick noch …« Sie brach ab, als sich die Tür öffnete und Daniel Norden hereinkam.

      »Frau Dannehl!«, begrüßte er sofort seine Besucherin. »Es ist schön, Sie wiederzusehen!«

      »Ja, mir geht es genauso, Dr. Norden. Sophie und ich sind nur für wenige Tage in München. Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten, mich zu empfangen.«

      Daniel begleitete Nadja Dannehl in sein Büro und bot ihr einen Platz an. Nachdem Katja ihnen den Kaffee gebracht hatte, sagte er: »Ich hoffe, Sie sind nur der guten, alten Zeiten wegen vorbeikommen und nicht wegen gesundheitlicher Probleme.«

      Nadja lächelte. »Nein, keine Sorge. Mir geht es gut. Ich wollte es mir einfach nicht nehmen lassen, meinen ehemaligen Hausarzt zu besuchen. Ich war sehr überrascht, als ich erfuhr, dass Sie inzwischen Chefarzt der Behnisch-Klinik sind. Ich hatte immer gedacht, dass Sie Ihre Praxis niemals aufgeben würden.«

      »Das kam für viele sehr überraschend.« Daniel schmunzelte. »Selbst ich hätte es mir Jahre zuvor nicht vorstellen können. Aber ich liebe nun mal Herausforderungen, und die ärztliche Leitung einer Klinik zu übernehmen, stellte eine sehr große dar. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Außerdem wusste ich, wie viel Gutes ich hier bewirken kann.«

      Nadja nickte verstehend. »Jeder Arzt hätte diese Chance ergriffen. Zumindest jeder, der etwas auf Prestige und Ansehen hält und ein wenig ehrgeizig ist. Der Chefarztposten ist sicherlich der höchste Punkt auf der Karriereleiter, den ein Arzt überhaupt erreichen kann.«

      Das Lächeln auf Daniels Gesicht ließ deutlich


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