Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman. Jenny Pergelt

Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman - Jenny Pergelt


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ihre wartende Mutter und sah angestrengt in seine Richtung, um einen weiteren Blick auf ihn zu bekommen. Doch er hatte ihr inzwischen den Rücken zugedreht und trat in eine der hinteren Reihen, um zu seinem Platz zu gelangen. Mehr als ein paar breite Schultern unter einem dunklen Jackett konnte sie von ihm nicht sehen. Julian war damals schmaler gewesen, fiel ihr ein. Allerdings waren seitdem zehn Jahre vergangen. Die Statur eines achtzehnjährigen Jungen war oft nicht die eines Mannes, der langsam auf die Dreißig zuging.

      Sophie wurde ungeduldig. Warum dauerte es nur so lange, bis er an seinem Platz ankam? Warum sah sie von ihm nicht mehr als diese dunklen Haare, die sie so sehr an Julians erinnerten. Julian, den sie geliebt hatte und der ihr siebzehnjähriges Herz gebrochen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Sollte er wirklich hergekommen sein, um sie spielen zu hören? Er hatte nie ein besonderes Interesse an ihrer Musik gezeigt. Julian hatte immer auf Hardrock gestanden. Es war also ziemlich unwahrscheinlich, dass ihn Beethoven und Brahms hergelockt haben könnten. Doch wenn es nicht die Klassiker waren, dann vielleicht sie? Sofort verwarf Sophie diesen Gedanken wieder. Nein, sie hatte ihm damals nichts bedeutet und jetzt erst recht nicht. Und wahrscheinlich war er es gar nicht, und es gab keinen Grund, über Julian nachzudenken. Julian … Sophies Gedanken drifteten erneut ab. Plötzlich war sie wieder siebzehn und zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Sie war so glücklich gewesen wie nie zuvor. Wenn sie an diese Zeit zurückdachte, kam sie ihr manchmal so unwirklich vor wie ein wunderschöner, zarter Traum, aus dem man am Morgen nicht erwachen mochte.

      Sophie schrak zusammen, als sich die Hand ihrer Mutter um ihren Unterarm legte und sie unsanft vom Vorhang weggezogen wurde. »Sophie, was ist denn heute nur los mit dir?«, schimpfte Nadja leise, während sie Sophie zur Maske bugsierte.

      »Nichts, mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte Sophie unwirsch und entriss ihrer Mutter den Arm. Wann würde ihre Mutter endlich aufhören, sie wie ein kleines Kind zu behandeln? «Ich bin nur etwas nervös, aber das ist ja nichts Neues.«

      Nadja musterte ihre Tochter aufmerksam und mehr als beunruhigt. Was war nur mit ihrem sanftmütigen Engelchen los? Sophie machte sonst nie Probleme. Sie funktionierte so präzise und verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk. Schon früh hatte Sophie gelernt, dass das unerlässlich war, um eine erfolgreiche Musikerin zu werden. Doch seitdem sie in München waren, hatte sich ihre Tochter verändert, und Nadja machte sich zunehmend Sorgen deswegen.

      Als sie vor der Maske ankamen und Sophie hineingehen wollte, hielt Nadja sie auf. »Ich hatte mir doch gleich gedacht, dass es keine gute Idee war, nach München zu kommen und dafür das Angebot aus Stockholm auszuschlagen. Warum du so darauf bestanden hast, werde ich wohl nie verstehen.«

      Sophie schien über die Antwort erst nachdenken zu müssen. Schließlich sagte sie ruhig: »Ich dachte, es wurde mal Zeit nach Hause zu kommen.«

      »Nach Hause? In München sind wir schon lange nicht mehr zu Hause.«

      »Wo dann?« Sophie sah ihre Mutter direkt an. Als Nadja sie nur erstaunt ansah, wurde ihre Frage drängender: »Wenn nicht hier, wo ist dann unser Zuhause?«

      »Was weiß ich denn! Überall wahrscheinlich. Die Welt ist unser Zuhause. Was soll dieses Theater?«

      »Schon gut, Mama, vergessen wir das einfach.« Sophie drehte sich weg und ging in die Maske.

      Nadja verharrte noch eine Weile auf dem Gang und dachte über die letzten Minuten nach. Immer mehr wuchs die Gewissheit, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein klammes Gefühl befiel sie und die böse Vorahnung, dass das Münchner Gastspiel anders sein würde als alle anderen. Ganz anders - und das bedeutete nichts Gutes.

      *

      Nadja Dannehl hatte dafür gesorgt, dass Fee und Daniel Norden auf den besten Plätzen in der ersten Reihe saßen. Noch bevor das Konzert begann, war sich Fee sicher, dass dies ein ganz besonderer Abend werden würde. Sie hatte eine Schwäche für Violinkonzerte, und der Auftritt einer so grandiosen Geigerin wie Sophie Dannehl versprach einen exquisiten Hochgenuss.

      Kaum betrat Sophie die Bühne, klatschte das Publikum lautstark und drückte so seine Begeisterung darüber aus, dass ihr Münchner Kindl endlich heimgekehrt war. Mit einem zarten Lächeln bedankte sich die junge Künstlerin. Nur wenig später erklang die erste, süße Note und entführte die Zuschauer in eine magische Welt von Tönen und Klängen.

      Die Zeit bis zur Pause verging viel zu schnell. Fee hätte noch endlos lange diesem musikalischen Wechsel aus Hingabe, Leidenschaft und Präzision lauschen können. Das war das, was das Spiel dieser Virtuosin so einzigartig machte und ihr schon als junges Mädchen die Anerkennung der Fachwelt eingebracht hatte.

      »Ist sie nicht fantastisch, Dan?«, schwärmte Fee begeistert in der Pause.

      »Ja, das ist sie. Es freut mich, dass dir das Konzert genauso gut gefällt wie mir, Feelein. Ich hoffe, wir bekommen nachher noch einmal die Gelegenheit, uns für die Karten und diesen wunderschönen Abend zu bedanken.«

      Fee nickte. »Ja, ich denke, dass wir uns noch lange daran zurückerinnern werden.« Sie sah sich suchend unter dem Publikum um. »Ich wundere mich, dass Horst Dannehl nicht hier ist. Man sollte meinen, dass er das Konzert seiner einzigen Tochter nicht verpassen würde.«

      »Vielleicht ist er hinter der Bühne und verfolgt von dort die Aufführung«, mutmaßte Daniel.

      »Ja, vielleicht«, entgegnete Fee ohne Überzeugung. »Ich würde es mir wünschen, für ihn und für Sophie. Es war bestimmt schwer für sie gewesen, den Vater hier zurücklassen zu müssen, als sie nach New York ging.«

      Weil Fee bei diesem Gedanken so betrübt aussah, strich ihr Daniel tröstend über den Rücken. »Es wäre doch möglich, dass die beiden trotzdem ein sehr inniges Verhältnis haben, sich regelmäßig sehen oder ständig telefonieren.«

      Fees untrügliches Gefühl sagte ihr, dass dem nicht so war. Auf ihr Bauchgefühl hatte sich Fee stets verlassen können. Sie wusste nicht, warum die Vorstellung, dass das Verhältnis zwischen Vater und Tochter zerbrochen sein könnte, sie so traurig stimmte. Womöglich lag es nur an diesen sehnsuchtsvollen Melodien, die sie so wehmütig werden ließen. Besonders jetzt, bei der Violinsonate von Brahms, mit der Sophie nach der Pause begann, meinte sie, vor Rührung zerfließen zu müssen.

      Mit der Begeisterung für Sophies Spiel war Fee nicht allein. Davon zeugten der frenetische Applaus und die Standing Ovations, mit denen Sophie von den Zuschauern nach dem Verklingen des letzten Tons gefeiert wurde.

      Strahlend und heftig applaudierend sah Fee zu Daniel. Erst jetzt bemerkte sie, dass er die junge Künstlerin seltsam ernst, ja, geradezu besorgt musterte. Und nun sah Fee es auch: Sophie wirkte erschöpft und war noch blasser als vor ihrem Spiel. Ihre wertvolle Violine, die sie in der linken Hand hielt, schien ihr viel zu schwer zu sein. Achtlos legte sie sie auf dem Stuhl ab. Dabei stützte sie sich mit der freien Hand an der Lehne ab. Während das Publikum lautstark nach einer Zugabe verlangte, drehte sie sich schwankend um und ging mit zittrigen Beinen von der Bühne. Sie schaffte nur wenige Meter, bis sie zusammenbrach und bewusstlos liegenblieb. Der Applaus erstarb. Alle starrten wie gebannt auf die reglose Gestalt auf der Bühne. Alle – bis auf Daniel, der sofort losgelaufen war, kaum dass Sophie zusammensackte. Und auf einmal lösten sich auch die anderen aus ihrer Starre. Noch bevor Fee bei Sophie und Daniel ankam, umringten die anderen Musiker und Bühnenarbeiter die beiden. Auch Nadja war auf die Bühne gelaufen und kniete nun neben ihrer leblosen Tochter.

      »O mein Gott! Sophie, was ist mir dir? Dr. Norden, bitte, tun Sie doch irgendetwas! Was hat sie denn nur?«

      »Das weiß ich noch nicht«, murmelte Daniel leise, während er hastig nach Sophies Puls suchte. Zum Glück fand er ihn rasch. Sophies Herz schlug kräftig, wenn auch etwas schnell. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Probleme mit der Atmung gab es nicht; die Lunge schien frei zu sein. Viel mehr konnte er noch nicht feststellen. Nicht auf dieser Bühne inmitten von Schaulustigen und ohne seine Arzttasche.

      »Wir müssen sie hier sofort wegbringen!«, ordnete er an.

      Fast im selben Augenblick kamen zwei Männer mit einer Trage zu ihm gelaufen. Vorsichtig betteten sie die junge Frau darauf und trugen sie unter dem aufgeregten


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