Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman. Jenny Pergelt
helfen wollte. Ob in einer kleinen Hausarztpraxis oder in einer großen Klinik, hat dabei nie eine Rolle gespielt. Ich habe meine Arbeit als Hausarzt sehr geliebt und nie als gering eingeschätzt.«
»Natürlich, Dr. Norden«, erwiderte Nadja mit einem dünnen Lächeln. Sie verstand nicht, dass es einigen Menschen so schwerfiel, offen und ehrlich zuzugeben, wie wichtig ihnen Erfolg, Ruhm und Anerkennung waren. Dr. Daniel Norden mochte ruhig weiter so tun, als würde er aus edlen, uneigennützigen Motiven handeln. Sie wusste es besser.
»Sie wissen vielleicht, dass Sophie einige Auftritte in München hat«, kam sie zum eigentlichen Grund ihres Besuchs.
»Ja, sie wurden in allen regionalen Zeitungen schon vor Monaten angekündigt.« Daniel war froh, dass Nadja Dannehl das Thema wechselte. Er hatte weder die Zeit noch die Geduld, eine langwierige und wenig erfolgversprechende Diskussion über ärztliche Ethik und Moral zu führen. »Ich habe gehört, dass alle Tickets schnell vergriffen waren. Meine Frau und ich sind deshalb sehr froh, noch zwei für Sophies Auftritt im ›Gasteig‹ bekommen zu haben.«
Nadja winkte seufzend ab. »Ach, die Sache im ›Gasteig‹ ist kaum der Rede wert. Sophie ist dort nur ein Akt unter vielen anderen. Ein kurzer Auftritt von nicht mal zehn Minuten! Ich verstehe nicht, warum Sophie darauf bestanden hatte, dieses Angebot anzunehmen.«
»Vielleicht gefällt es ihr einfach, in ihrer alten Heimatstadt zu spielen?« Nachdenklich runzelte Daniel die Stirn. »War sie überhaupt jemals wieder in München, seit sie vor zehn Jahren die Stadt verlassen hat?«
»Nein! Warum sollte sie auch? München ist schon längst nicht mehr ihre Heimat. Es gibt hier nichts, was ihr etwas bedeuten könnte.«
»Ich dachte immer, dass Sophies Vater in München lebt. Außerdem hat sie doch sicher auch noch Freunde hier.«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Nadja leichthin. »Sophie hat sich ein neues, ein sehr gutes Leben aufgebaut. Da ist für alte Freundschaften kein Platz. Und was ihren Vater anbelangt …« Nadja verzog unwillig den hübschen Mund. »Er hatte nie verstanden, wie wichtig Sophies Karriere war. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass es keine enge Bindung zwischen ihm und seiner Tochter gibt. Mit der Zeit sind sie sich einfach fremd geworden.«
Am Abend erzählte Daniel seiner Frau von Nadja Dannehls Besuch. »Ich hatte mich wirklich auf ihr Kommen gefreut«, sagte er abschließend. »Aber sie hat sich sehr verändert. Nicht nur äußerlich. Ich musste schmunzeln, als ich sie sah. Es gibt nicht mehr viel, was an die bescheidene, nette Hausfrau von früher erinnert. Glanz und Gloria scheinen ihr inzwischen sehr wichtig zu sein.«
Fee stellte die Schale mit dem frischen Salat auf den Tisch und sagte: »Ich denke, diese Sachen waren ihr schon immer sehr wichtig gewesen. Sie hatte immer nach Höherem, nach etwas Besserem gestrebt. Nadjas übertriebener Ehrgeiz, den sie an ihrer Tochter auslebte, war ziemlich auffällig. Wahrscheinlich hat es Sophie deswegen so weit gebracht.«
»Vergiss nicht Sophies großes Talent. Ohne dem wäre sie bestimmt keine Stargeigerin geworden.«
»Talent ist nicht alles, mein Liebling«, erwiderte Fee und setzte sich zu ihrem Mann an den Tisch. »Es muss gefördert und gepflegt werden. Und da hat Nadja Dannehl ganze Arbeit geleistet. Ihr Ziel war es schon immer gewesen, Sophie ganz groß rauszubringen. Das ist ihr gelungen.«
Daniel gab ihr nun endlich den Umschlag, den er als kleine Überraschung dabeihatte.
»Was ist das?«, fragte Fee.
»Nadja Dannehl hat mir zwei Karten für Sophies Konzert im ›Prinzregententheater‹ gegeben.«
»Für das am nächsten Samstag?«, rief Fee freudig aus. »Das ist seit Monaten ausverkauft!«
»Ich weiß, Feelein«, erwiderte Daniel lächelnd. »Frau Dannehl meinte, sie würde sich sehr freuen, uns dort zu sehen. Natürlich nur, falls wir nichts anderes vorhaben.«
»Wir haben ganz sicher nichts anderes vor!« Fee nahm ihm den Umschlag aus der Hand und holte die Karten heraus. »Wir werden uns dieses Konzert bestimmt nicht entgehen lassen!«
*
Ein ausverkauftes Haus! Diese Nachricht löste in Sophie Dannehl keine Jubelstürme mehr aus. Seit Jahren spielte sie nur in ausverkauften Häusern. Die Menschen rissen sich darum, ihrem virtuosen Geigenspiel zu lauschen, und die Presse überschüttete sie schon im Vorfeld mit Lobeshymnen.
Sophie stand hinter dem schweren Vorhang, spähte durch einen schmalen Schlitz in den Zuschauerraum und sah zu, wie er sich stetig füllte. Ein Fehler, wie sie wusste. Es tat ihr nicht gut und steigerte nur ihr Lampenfieber. Lange hatte sie gehofft, dass ihre schreckliche Angst, vor Publikum zu spielen, nachlassen würde. Sie würde mit der Zeit routinierter und gelassener werden, hatte sie sich eingeredet. Doch statt dass es leichter wurde, nahm ihre Aufregung von Auftritt zu Auftritt zu. Nur mit dem Wissen, dass das Lampenfieber weg war, sobald sie draußen stand und den ersten Bogenstrich machte, schaffte sie es überhaupt, eine Bühne zu betreten.
»Was machst du denn hier?«, zischte Nadja Dannehl neben ihrer Tochter. »Ich suche dich schon überall!«
»Ich wollte nur mal sehen, ob ich ein bekanntes Gesicht entdecke. Schließlich spiele ich in München. Wäre doch möglich, dass jemand von früher …«
»Lass mal sehen!« Nadja schob ihre Tochter zur Seite und sah nun ihrerseits zu den Zuschauern hinaus. »Dr. Norden ist mit seiner Frau gekommen. Aber ansonsten kenne ich niemanden.« Sie trat zurück und sagte mit einem gereizten Unterton: »Und nachdem wir das nun geklärt haben, sollten wir endlich von hier verschwinden, damit du dich für deinen Auftritt vorbereiten kannst. Hast du dich schon eingespielt?«
Sophie seufzte. »Ja, Mama. Darum brauchst du dich wirklich nicht zu kümmern. Ich weiß, was ich tue.«
Nadja warf ihrer Tochter einen strengen, prüfenden Blick zu. Sophie trug ein tiefschwarzes Kleid aus schimmernder Seide mit einem weit ausgestellten Rock und einem engen, schulterfreiem Oberteil. Ihre Haare, die den gleichen satten Braunton hatten wie Nadjas, waren im Nacken zu einem locker sitzenden Knoten zusammengeschlungen. Ihr zartes, elfengleiches Gesicht mit den großen dunklen Augen war ein wenig blass und ließ die grazile, junge Frau noch zerbrechlicher wirken.
»Vielleicht solltest du noch einmal in die Maske gehen und ein wenig Rouge auftragen lassen«, sagte Nadja missbilligend. »Was sollen die Leute von dir denken, wenn du so bleich auf die Bühne trittst? Außerdem habe ich ein paar Pressefotografen entdeckt. Du willst auf den Bildern doch bestimmt nicht krank wirken. Heute siehst du besonders schlimm aus.«
»Es geht mir auch nicht so gut. Vielleicht der Jetlag...«
»Unsinn!«, entfuhr es Nadja. Dann sagte sie leiser werdend: »Wir sind seit drei Tagen in München! Wir wissen beide, was los ist! Du und dein dummes Lampenfieber! Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Kannst du dich denn nicht ein wenig zusammenreißen?«
»Das mache ich seit zehn Jahren«, stieß Sophie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du siehst ja selbst wie super das klappt! Deine gutgemeinten Ratschläge kannst du dir also sparen!«
»Sophie!«, rief Nadja erschrocken aus. »Wie sprichst du mit mir?«
»Entschuldige, Mama«, lenkte Sophie sofort ein. »Es ist nur …« Mitten im Satz brach sie müde ab. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für unliebsame Diskussionen. Sie sah wieder hinaus in den Zuschauersaal. Mit einer Hand strich sie sich über ihren Bauch, um den nervösen Magen zu beruhigen. Ihre Angst hatte zugenommen, der Mund war trocken, und die Luft wurde immer knapper, obwohl sie versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie wusste, dass das die ersten Anzeichen einer aufziehenden Panikattacke waren. So heftig wie heute war es schon lange nicht mehr gewesen. Ob es daran lag, dass sie in ihrer alten Heimat spielte? München – hier hatte alles begonnen, und hier sollte alles enden. Falls sie den Mut dafür aufbringen würde.
»Bist du nun endlich fertig?«, fragte Nadja ungeduldig.
Sophie nickte stumm und warf noch einen letzten Blick in den Saal, als ihre Augen an einer seltsam vertrauten Gestalt