Nachdenken über Corona. Группа авторов
an Verlässlichkeit: Wir sind nicht gezwungen, uns ein für alle Mal und pauschal darauf festzulegen, dass jemand Böses im Schilde führt, und können stattdessen versuchen, eine unsichere Situation aktiv mitzugestalten.
Es ist nicht zuletzt auch die Aufgabe jedes einzelnen Bürgers, im Rahmen seiner Möglichkeiten für Verlässlichkeit zu sorgen. In der Pandemie kann das geschehen, indem man sich etwa die Mühe macht, sich im Hinblick auf konkrete Fragestellungen, die mit Corona zu tun haben, möglichst gut zu informieren. In einem weiteren Schritt kann man die auf diese Weise erworbene Kompetenz auf der Ebene der Kommunalpolitik, in öffentlichen Debatten oder auch nur bei Diskussionen im Freundes- und Familienkreis zum Einsatz bringen, um auf konstruktive Weise darüber zu streiten, wie wir als demokratische Gemeinschaft mit der Krise umgehen sollten. Politikerinnen, die mit mündigen und informierten Bürgern rechnen müssen, werden typischerweise verlässlicher sein als Entscheidungsträger, die von ›Wutbürgern‹ umgeben sind. Tatsächlich wird die hier angedeutete Forderung vielerorts bereits erfüllt: Millionen von Bürgerinnen nehmen angesichts der Krise im Großen wie im Kleinen die Haltung informierter und kritischer Diskussionsteilnehmer ein, ohne sich von den emotionalisierten Appellen selbsternannter Querdenker beeindrucken zu lassen. Sie arbeiten auf diese Weise an der Verlässlichkeit der für die Bewältigung der Krise relevanten Akteure, und es ist auch ihnen zu verdanken, dass bislang die schlimmstmöglichen Corona-Szenarien nicht eingetreten sind.
Diejenigen Bürger, die ich im Blick habe, gehen nicht einfach davon aus, dass die Entscheidungen der Regierung oder die Ergebnisse der Wissenschaft über jeden Zweifel erhaben sind. Sie sind nicht naiv und sie können politischen Maßnahmen mit Gründen skeptisch gegenüberstehen. Sie sehen aber, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass politische Entscheidungsträgerinnen mit einer überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler und Medienvertreter im Bunde sind, um die Krise für eigene Zwecke zu nutzen. Es ist schwer plausibel zu machen, welches Interesse hinter einer solchen Verschwörung stehen sollte, ganz abgesehen von der logistischen Herausforderung, die damit verbunden wäre. Solche nüchternen Abwägungen sind charakteristisch für Personen, die sich in erster Linie auf andere verlassen möchten. Ob Vertrauenswürdigkeit als politische Kategorie ganz durch Verlässlichkeit ersetzt werden sollte, mag an dieser Stelle offenbleiben. Was die Corona-Krise betrifft, sind wir jedenfalls gut beraten, sie nicht voreilig als eine Geschichte des enttäuschten Vertrauens aufzufassen.
Luise K. Müller
Das Samariterprinzip
Warum der Staat in der Not zwingen darf
»Nicht ohne uns!« – Diesen Slogan skandieren Demonstranten der sogenannten Hygiene- und Querdenker-Demos im Namen eines liberalen Widerstandes gegen die Corona-bedingten Beschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens.4 Mit dem Slogan ist gemeint, dass die tiefgreifenden Entscheidungen, wann, wie, und in welchem Maße das öffentliche Leben durch massive Grundrechtseinschränkungen unterbrochen wird, nicht ohne die Bürgerinnen, die von den Einschränkungen betroffen sein werden, gemacht werden dürfen. Die von den Demonstranten vorgebrachte Kritik, die im Übrigen auch von vielen Intellektuellen geäußert wurde, zielt auf die Befürchtung, der Staat würde in der Krise immer stärker autoritäre Züge annehmen, bei denen der Schutz der Gesundheit alle anderen Werte (allem voran die individuelle Autonomie) übertrumpft. Dagegen müsse die Freiheit der Bürgerinnen verteidigt werden, die sich nicht durch das übermäßige Schüren der Ängste einschüchtern lassen dürfen.
Hinter diesem sich heroisch gebenden Gestus des liberalen Widerstandes gegen die so wahrgenommene ›Corona-Hysterie‹ steckt allerdings wenig Substanz. In diesem Essay möchte ich zeigen, dass die Corona-bedingten Einschränkungen nicht notwendigerweise als illiberal zu bezeichnen sind. Im Gegenteil: Die Einschränkungen lassen sich sogar mit einer explizit liberalen Theorie der politischen Legitimität begründen. Liberale Theorien basieren auf der Idee, dass unsere Freiheit dort endet, wo sie eine Gefährdung für andere darstellt. Oder anders ausgedrückt: Der einzige Zweck, für den politische Herrschaft auch gegen den Willen der Einzelnen ausgeübt werden darf, ist die Vermeidung von Schädigungen anderer. John Stuart Mill, einer der einflussreichsten Denker des klassischen Liberalismus, formuliert so das liberale Grundprinzip (Mill 2010 [1859], S. 19). Zumindest diejenigen Demonstranten, die sich für demokratisch, liberal und antiautoritär halten, könnte dieses Argument interessieren.
Das Zustimmungsprinzip
Zurück also zu den Hygiene-Demos. Hinter dem Slogan »Nicht ohne uns!« scheint eine Sicht auf die Rechtfertigbarkeit staatlichen Handelns zu stehen, die politische Legitimität vom Kriterium der Zustimmung abhängig macht, etwa im folgenden Sinne: Regierungshandeln ist dann legitim, wenn die Bürgerinnen ihm zustimmen. Sie müssen aber in jedem Fall gefragt werden; und wenn bestimmte Maßnahmen ausdrücklich von der Mehrheit nicht gewünscht sind, dann sind sie dem Zustimmungsprinzips zufolge auch nicht legitim. Das Zustimmungsprinzip wird ideengeschichtlich auf John Locke zurückgeführt, einen der Urväter des Liberalismus. Lockes Legitimitätsverständnis wendet sich gegen die damals vorherrschende Idee, dass einige Menschen dazu geboren seien, zu herrschen, während die meisten anderen dazu geboren seien, zu dienen. Dieser Idee einer natürlichen oder naturgegebenen Herrschaft hielt Locke ein damals radikales Verständnis menschlicher Gleichheit entgegen: Niemand ist natürlicherweise ein Sklave, alle sind gleichermaßen frei. Politische Herrschaft ist in dem Sinne nur dann gerechtfertigt, wenn sie aus freien Stücken angenommen wird.
Das Zustimmungsprinzip bietet eine elegante Erklärung staatlicher Legitimität, denn es ist einfach und passt zu den Grundsätzen unseres liberal-demokratischen Rechtsstaats, der die Autonomie von Personen ernst zu nehmen verspricht. Trotzdem ist es letztlich unplausibel. Erstens besteht das Problem der rekursiven Schleife: Um Zustimmung einzuholen, müssen zunächst eine Frage formuliert und Optionen definiert werden. Das allein strukturiert schon den Raum des politisch Möglichen auf eine bestimmte Weise, und aus diesem Grund fordert auch die Art der Formulierung der Frage und der Optionen Zustimmung. Zumindest muss dem Prozess, in dem politische Fragevorschläge formuliert werden, zugestimmt werden. Den Prozess kann man dabei unterschiedlich gestalten, wobei sich die Unterschiede wiederum auf die Struktur der politischen Entscheidungsfindung auswirken. Ein robuster Voluntarismus ist also in einer rekursiven Schleife gefangen, denn jeder politischen Entscheidung geht eine andere politische Entscheidung voraus. Natürlich ist es praktisch notwendig, dass man irgendwo einmal anfängt und pragmatisch etwas festsetzt. Doch lässt sich diese willkürliche Setzung nicht mit dem Zustimmungsprinzip begründen. Das Zustimmungsprinzip, wenn es denn funktionieren soll, zehrt also von praktischen Voraussetzungen, die es selbst nicht begründen kann.
Zweitens steht das Zustimmungsprinzip auch vor logistischen und epistemischen Herausforderungen: wenn der normative Kern des Zustimmungsprinzips bzw. der Voluntarismus ernst genommen werden soll, dann muss tatsächlich von jedem Bürger und jeder Bürgerin die Zustimmung eingeholt werden. Das war allein logistisch gesehen schon zu Lockes Zeiten kaum zu leisten. Diese Herausforderung dürfte heute, in Zeiten der ständigen digitalen Vernetzung, kleiner geworden sein. Doch auch heute stehen wir noch vor dem Problem, dass nicht klar ist, wie lange die normative Kraft der Zustimmung eigentlich anhält. Denn wenn es wirklich um die voluntas geht, also den Willen, dann muss die Zustimmung zu jedem Zeitpunkt auch wieder zurückgezogen werden können.
Drittens besteht eine Spannung zwischen der Idee, dass es auf die individuelle Zustimmung ankommt, und der Natur politischer Probleme. Würde man das Zustimmungsprinzip und den damit einhergehenden Respekt für die Autonomie von Menschen ernst nehmen, dann dürften die Regeln nur für diejenigen gelten, die ihnen auch zustimmen. Das wird aber spätestens in der Sphäre des Politischen zum Problem, denn die Lösung vieler öffentlicher Probleme und Krisen verlangen die Koordination von Handlungen. Wenn Lösungen effektiv bzw. effizient sein sollen, dann ist es oft erforderlich, dass viele oder sogar fast alle Akteure sich an feste Regeln halten. Bestimmte öffentliche Güter lassen sich nur durch eine regelbasierte Koordination von Handlungen bzw. Unterlassungen herstellen. Sicherheit im Straßenverkehr bietet hier ein offenkundiges Beispiel: Nur dann, wenn fast alle auf der rechten Fahrbahnseite fahren, bei roten Ampeln halten und nicht auf den Gehweg ausscheren, können wir uns einigermaßen sicher im Straßenverkehr bewegen.