Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5. Inger Gammelgaard Madsen

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen


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zu den beiden jungen Mädchen an der Bar hinüber, die die Aufmerksamkeit der italienischen Baristi genossen. Sie flüsterten geheimnistuerisch miteinander und kicherten. Sie sann darüber nach, ob sie wohl allein oder mit ihren Eltern verreist waren, ob sie Schwestern oder bloß Freundinnen waren. Vielleicht hatten sie sich gerade erst getroffen.

      »Du kannst das doch nicht verallgemeinern, Kasper. Hast du ihr denn eine Chance gegeben, vor deiner Kamera zu posieren?«

      »Ich habe sie schlecht gesehen. Sie hat ja eine Maske auf, es ist irgendwie nicht genug, bloß eine Blondine zu sein. Übrigens wer weiß, ob es eine Perücke ist? Das kannst du also gleich vergessen, Kleine. Warum glaubst du, habe ich mich in dich verliebt?« Er nahm eine ihrer langen, kupferfarbenen Locken zwischen seine Finger und kitzelte sie neckend damit am Ohr. »Vielleicht bevorzuge ich Rotschöpfe.«

      Sie lächelte, schließlich wusste sie das ja auch.

      Es lichtete sich in der Bar, je weiter die Nacht fortschritt. Die meisten Gäste verschwanden draußen im Nachtleben. Kasper hatte gerade an der Bar Espresso geholt, als die beiden dänischen Mädchen angetrunken und leise lachend auf dem Weg nach draußen an ihrem Tisch vorbeikamen. Plötzlich blieb die eine stehen. Sie nahm ihre Maske ab und reichte sie schnell Sara. »Die kannst du haben, ich bin sie leid«, sagte sie, bevor das andere Mädchen sie wegzog. Sara schaffte gerade noch zu sehen, dass es die Blondine gewesen war, die ihr ihre Maske verehrt hatte, bevor sie draußen im Gewimmel verschwanden.

      »Die ist doch gut, dann müssen wir dir morgen vielleicht gar keine mehr kaufen?«

      »Ich hätte mir eigentlich gerne selbst eine ausgesucht, aber die hier ist schon okay.«

      Es war eine silberne Maske mit raffinierten Gold- und Glitzermustern, rund um die Augenlöcher zog sich eine Reihe von kleinen Steinen, die wie Diamanten aussahen, der Mund war schwarz angemalt und sinnlich. Kasper half ihr dabei, das Band hinter ihrem Kopf zuzubinden. Die Maske roch schwach nach dem Parfüm der Blondine. Sie lehnte wieder den Kopf zurück gegen seinen Arm. Irgendwie war es ziemlich angenehm, sich zu verstecken, es war ein bisschen, als ob sie völlig vergaß, wer sie war.

      Sara fühlte sich ein bisschen betrunken, als sie aus dem Bad kam. Der Sambuca knallte ordentlich, weil er so unschuldig schmeckte. Der Anisgeschmack war nicht verschwunden, obwohl sie Zähne geputzt hatte. Kasper lag im Bett und wartete auf sie.

      »Zieh die Maske auf«, kommandierte er. Er hatte seine eigene nicht abgenommen.

      »Wir werden ja wohl nicht damit schlafen?«

      »Nein! Wir werden absolut nicht schlafen.«

      Seine Augen schimmerten in der Maske, während sie ihre umband, ohne sich zu beeilen, damit er reichlich Zeit hatte, ihren Körper durch das dünne Nachthemd anzuschauen. Es war, als ob sie sich hier in Venedig auf eine ganz andere Art liebten. Viel intensiver. Schärfer. Vielleicht war es bloß die Urlaubsstimmung, die dafür sorgte. Dass sie Zeit für einander hatten und die Sorgen in Dänemark geblieben waren. Sie war freier als sonst und spürte deutlich, dass Kasper diese neue Seite an ihr genoss.

      Der Klang heulender Sirenen weckte sie. Zuerst wusste sie nicht so recht, was sie hörte und wo sie war, aber als sie das orangefarbene Interieur des Hotelzimmers erkannte, wurde es ihr schnell klar, und sie wunderte sich noch mehr über die Sirenen in einer Stadt ohne Autos. Der Sambuca-Geschmack war immer noch nicht verschwunden. Es pochte in ihrem Kopf; sie griff danach, als wollte sie feststellen, ob der Druck im Gehirn weniger geworden war. Sie wollte Kasper wecken, brachte es aber doch nicht übers Herz. Stattdessen wand sie sich vorsichtig aus seinem Arm, schlich aus dem Bett und schob die schweren Vorhänge ein bisschen auseinander. Von ihrem Fenster im Albergo San Marco hatte man Aussicht auf den Kanal und eine kleine Brücke.

      Die blinkenden Blaulichter des Polizeiboots warfen ein gespenstisches Licht in den Nebel, der leicht über der Wasseroberfläche lag. Es war noch nicht hell. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, was sich dort unten abspielte. Einige Schaulustige hatten sich um die Stelle versammelt. Ohne zu viel Lärm zu machen öffnete sie den Schrank, zog ihre Jacke über das Nachthemd und schlüpfte mit den nackten Füßen in ein Paar Sandalen. Kasper drehte sich im Bett um. Sie wartete, bis er wieder ruhig atmete, ging leise aus der Tür und lief die Treppe hinunter. Der Morgennebel schlang sich wie kalte Zungen um ihre Füße und nackten Beine. Ein schwacher Geruch von Salzwasser und Tang, von dem ihr übel wurde, lag in der Luft. Die kleine Schar, der sie sich langsam näherte, stand ganz am Rand des Kanals. Die Gruppe war still, fast wie gelähmt oder versteinert. Jemand schubste sie nach vorn, und, ohne es zu wollen, stand sie plötzlich in der ersten Reihe. Ein Polizist hielt sie zurück, aber sie schaffte es, einen zweiten hinter ihm wahrzunehmen, der den Reißverschluss eines schwarzen Leichensacks schloss, schaffte es, eine blutige Masse unter blonden Haaren zu erspähen, die nass vom schmutzigen Wasser zusammenklebten und dunkel wirkten, schwach gelblich. Der Beamte schob die vordersten Schaulustigen wieder weiter zurück und rief etwas auf Italienisch, das sie nicht verstand. Sie nahm daher nicht wahr, dass sich ihr jemand von hinten genähert hatte. Ihr kalter Körper zuckte, als sie fest an den Schultern gepackt wurde. Kasper stand hinter ihr. »Was ist da los?«

      »Sie … haben eine junge Frau im Kanal gefunden; sie … ist tot.« Ihre Stimme klang vor Kälte und Entsetzen abgehackt. Kasper drehte sich um und sprach Englisch mit einem Paar hinter ihnen, sie hörte nicht zu, damit beschäftigt, dem Polizeiboot nachzuschauen, das in dem schmalen Kanal wegsegelte und Kielwasser aufwirbelte, das die ersten Gondeln des Morgens ins Schwanken brachte. Ein Klumpen aus einer Plastik-Colaflasche, zerknüllten Zigarettenschachteln, Eispapier und Kippen schlug gegen die algengrüne Mauer bei der Brücke, von den Wellen nach vorne geworfen, als ob sie den Abfall wieder an Land drücken wollten: zurück zu denen, die ihn weggeworfen hatten.

      »Komm, lass uns gehen. Es ist zu kalt. Komm jetzt.« Kasper hielt sie wieder an den Schultern. Schwach und willenlos folgte sie ihm zurück zur Treppe des Hotels. Es war das erste Mal, dass sie einen toten Menschen gesehen hatte, und das Gesicht war weg gewesen. Zerschmettert.

      »Was haben die, mit denen du geredet hast, gesagt?« Die Stimme zitterte.

      »Sie wussten nicht so viel, aber einer der beiden meinte, es sei ein dänisches Mädchen, vielleicht eine von denen an der Bar heute Abend. Sie muss in den Kanal gefallen sein. Die beiden waren ja auch ziemlich betrunken. Schrecklich.«

      »Was ist dann mit dem anderen Mädchen?«

      Kasper zuckte die Schultern.

      Das Hotel wirkte auch wie ausgestorben. Es kam nicht der übliche Lärm aus der Küche und das Klirren mit Tassen aus dem Speisesaal, der sie sonst morgens um diese Zeit immer geweckt hatte. Sie waren sich einig, mit dem Kofferpacken anzufangen, da ohnehin keiner von ihnen schlafen konnte. Sie stopfte den Laptop in ihr Handgepäck. In den Zimmern gab es kein WLAN, nur in den Gemeinschaftsräumen, und es kostete zehn Euro pro Stunde. Kaspers Gesicht hatte gestrahlt, als sie sich darüber beschwert hatte, dann hatte er aber begriffen, auf sie verzichten zu müssen, wenn sie mit dem Laptop unterm Arm verschwand. Ihre Facebook-Freunde wären enttäuscht, wenn sie nicht mit täglichen Berichten und direkten Fotos von der Reise auf den neuesten Stand gebracht werden würden. Sie hatte es ihnen versprochen.

      »Hast du meine Tasche gesehen, Kasper?« Sie suchte immer verzweifelter, verwirrt und fassungslos, als sie nicht auf dem Stuhl an der Tür stand, wo sie sie für gewöhnlich hinstellte, und auch sonst nirgendwo in ihrem Zimmer zu finden war.

      »Nee. Hattest du sie eigentlich aus der Bar mitgenommen?«

      Sie versuchte sich zu erinnern, wie es war, als sie spät in der Nacht aufs Zimmer gegangen waren. Hatte sie die Tasche dabeigehabt? Hatte sie sie in der Bar liegen gelassen? Alles verschwamm wie im Nebel. Sambucanebel. Normalerweise hatte sie nicht besonders oft eine Tasche mit, daher wäre es nicht so abwegig, dass sie sie vergessen hatte.

      »Verdammter Mist! Wie blöd kann man sein?!«, rief sie aus und gestikulierte ärgerlich mit den Armen.

      »Das kann doch mal passieren. Du warst sicher auch nicht ganz du selbst heute Nacht. Die Maske hat etwas mit dir gemacht.« In seinem Blick lag ein gespielter Vorwurf, aber sie konnte spüren, dass auch ihn der Zwischenfall vor


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