Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5. Inger Gammelgaard Madsen

Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5 - Inger Gammelgaard Madsen


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psychiatrischen Patient in den USA DIS diagnostiziert. Oft ist die Diagnose Kindheitstraumata geschuldet, in der Regel sexueller Missbrauch, aber eine neue Theorie ist, dass auch gesunde Menschen die Persönlichkeit wechseln. Es ist einfach eine Notwendigkeit, mehrere Persönlichkeiten zu haben, um sich dem wechselnden Alltag der Gegenwart anzupassen.«

      Roland schluckte ein weiteres Mal. Er war selbst in zwei Personen aufgeteilt; Roland auf der Arbeit und Rolando in seinem Privatleben.

      »DIS ist eine der umstrittensten psychiatrischen Diagnosen, weil sie oft mit Kriminalität verknüpft wird. Seit sie als psychische Krankheit bekannt ist, haben mehrere Verbrecher diese Diagnose benutzt und erklärt, dass sie für ihre Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden könnten. Bei diesen Fällen spricht man von einer pseudologischen Störung.«

      Lærke Bendixen blickte auf einige Papiere vor sich. Sie setzte eine moderne Brille auf, während sie in einem fast unbemerkten Augenblick eine Karte las und dann den Blick wieder auf die Leinwand richtete, als ein neues Bild von einer Frau mit langen Haaren, lila Halstuch und einem sympathischen Lächeln erschien.

      »Simone Reinders vom King’s College in London ist der Ansicht, dass es mehrere Typen gibt. Ihrer Meinung nach ist DIS eine Krankheit, die sowohl von den Behandelnden als auch dem juristischen System differenziert betrachtet werden muss. Simone Reinders leitete 2003 einen DIS-Versuch, wo sie mit Hilfe von PET-Scans nachgewiesen hat, dass DIS-Patienten traumatisches Material im Gehirn unterschiedlich behandeln, je nachdem, in welchem Persönlichkeitszustand sie sich gerade befinden. Elf Patientinnen waren an dem Versuch beteiligt. Alle konnten mit Hilfe eines Therapeuten zwischen ihren beiden Persönlichkeitszuständen wechseln. Die eine Persönlichkeit erinnerte sich an traumatische Erlebnisse, über die die andere nichts wusste. Der Versuch zeigte also, dass Menschen, die an DIS leiden, verschiedene Identitäten haben, von denen jede Zugang zu unterschiedlichen Erinnerungen haben kann.«

      Das Bild der Forscherin verschwand, und es wurde dunkel im Raum, bis die Deckenlampen angeschaltet wurden und die Zuhörer dazu brachten, die Augen zusammenzukneifen. Lærke nahm die Brille ab und schaute über ihr Publikum. Roland schien es, dass sie ihn direkt anschaute. So empfanden das sicher alle in dem Raum. Das war das Kennzeichen einer routinierten Rednerin.

      »Persönlichkeitsspaltung wird gebraucht – oder missbraucht – in der Welt des Films und der Literatur. Bestimmt erinnern sich alle an Robert Louis Stevensons Novelle von 1886 über Dr. Jekyll und Mr. Hyde?«

      Das wurde wie eine Frage gesagt und wie in einer Kindersendung im Fernsehen ertönten vereinzelte bestätigende Antworten aus dem Publikum.

      »Auch Gollum aus Der Herr der Ringe hat eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung.« Hier lächelte Lærke, und das stand ihr.

      »Im Alltag denken wir nicht darüber nach, dass die meisten von uns rein faktisch die Identität wechseln und dass wir unterschiedliche Persönlichkeiten aufweisen in unterschiedlichen Zusammenhängen und je nachdem, mit wem wir gerade zusammen sind. Wir würden Probleme bekommen, würden wir nicht die Elternrolle ablegen, wenn wir mit Kollegen und Freunden zusammen sind, und die geschäftsmäßige Rolle, wenn wir mit unseren Kindern spielen.«

      Sie trank aus einem Wasserglas, und Roland wunderte sich darüber, wie still es in dem Raum war. Niemand hustete, niemand nieste, niemand tuschelte – es war beinahe, als ob sie nicht einmal atmeten. Andere als er selbst saßen sicher nun da und dachten an ihre verschiedenen Persönlichkeiten. Doch dann schloss Lærke Bendixen mit den erlösenden Worten: »Machen Sie frei von ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten Gebrauch. Sie sind deshalb noch nicht gleich schizophren. Viel zu viele suchen nach ihrem wahren Ich, aber wir sollten für alle unsere Persönlichkeiten dankbar sein und uns daran erinnern, sie konstruktiv zu gebrauchen, um das Beste daraus zu machen.«

      Ohne Zweifel waren dies die abschließenden Worte. Einige standen auf und Roland ärgerte sich darüber, dass sie nicht etwas früher in den Vortrag gekommen waren. Er schien interessant gewesen zu sein. Lærke Bendixen verstand es, ihr Publikum mit ihrem psychologischen Wissen zu fesseln; aber konnte sie mit diesem Hintergrund nicht gerade diejenige sein, die ihre Freundin versteckt hielt?

      Er und Isabella blieben sitzen, während die anderen plaudernd den Raum verließen. Erst als sie aufstanden und zu ihr hingingen, bemerkte Lærke Bendixen sie. Roland zeigte seinen Dienstausweis.

      »Können wir einen Moment mit Ihnen sprechen?«

      Lærke schob die Papiere in ihre Tasche und schloss sie. Dann stöpselte sie den Projektor aus und rollte ohne Eile das Kabel auf.

      »Selbstverständlich, womit kann ich Ihnen helfen?«

      Die Stimme war sachlich, sie rechnete sicher damit, dass es um den Vortrag ging, der auch für die Polizei brauchbar sein könnte. Das Polizeipräsidium könnte eine Einladung bekommen haben, die in der ›Ablage P.‹ unter dem Schreibtisch gelandet war wie so vieles andere.

      »Das war ein guter Vortrag. Was bedeutet DIS eigentlich?«

      Lærke sah sie lächelnd an, während sie fortfuhr, das Kabel aufzurollen.

      »Sie waren sicher nicht von Anfang an hier. Sie waren diejenigen, die am Ende des Vortrags gekommen sind, richtig?«

      Isabella nickte.

      »DIS ist eine Abkürzung für Dissoziative Identitätsstörung, englisch DID, Dissociative Identity Disorder.«

      Sie legte das Kabel zu dem Projektor auf einem Rolltisch. Es war kein Equipment der modernen, drahtlosen Art.

      »Ich hoffe, Sie konnten mit dem, was Sie gehört haben, etwas anfangen. Es wäre sehr nützlich, wenn die Polizei mehr über dieses Leiden wüsste.«

      »Und Ihre Freundin, Sara Dupont, ist ihre Diagnose auch DIS?«, fragte Roland geradeheraus.

      Lærke Bendixen erstarrte fast unmerklich.

      »Nein, Sara leidet nicht an DID. Geht es um sie? Es ist doch wohl nichts passiert?«

      »Sara ist gestern Abend aus der Gerichtspsychiatrie geflohen. Bevor sie verschwunden ist, hat sie einer Krankenschwester den Kopf zertrümmert.« Isabella konnte sich auch kurz fassen.

      Jetzt verhärtete sich Lærkes Haltung sichtlich, während sie mehrmals den Kopf schüttelte. »Nein, das kann nicht sein. Sara ist keine Mörderin!«

      »Sie sind vielleicht auch der Meinung, dass sie nicht am Mord ihres Sohnes schuld ist?«

      »Doch, aber … nein, anfangs nicht. Es konnte einfach nicht sein, aber dann kamen ja die Beweise ans Licht, sodass wir …« Sie geriet ins Stocken und starrte hinauf an die leere, weiße Projektor-Leinwand.

      »Haben Sie nicht versucht, Sara zu helfen? Als Psychotherapeutin, meine ich«, fragte Isabella.

      »Doch, doch. Natürlich habe ich das, aber ich kann nicht mit ihr über das, was passiert ist, reden. Ich bin sicher auch viel zu dicht dran, wir kennen uns seit dem Gymnasium. Aber sie bleibt dabei, die Schuld auf alle anderen zu schieben und will keine Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Das ist eine schwierige Situation, die bessere professionelle Behandlung erfordert, als ich sie als Therapeutin geben kann. Die sie in der Gerichtspsychiatrie bekommen hat. Ist sie wirklich geflohen …?«

      »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

      »Ähm, das ist sehr lange her, sicher einen Monat. Ich war in letzter Zeit so mit Vorträgen beschäftigt, daher …«

      »Wie ist denn Ihre Einschätzung ihres Zustandes? Wie war sie, als Sie sie vor einem Monat gesehen haben?«

      »Das ist schwer zu sagen … aufgrund der Medikamente war sie sehr umnebelt und es war sehr schwierig, sich mit ihr zu unterhalten. Sie müssen die Dosis wohl verringert haben, da sie ja flüchten konnte, und …« Gedankenvoll geriet sie wieder ins Stocken. Plötzlich wirkte sie unsicher und war nicht länger die eloquente Referentin, der sie gerade gelauscht hatten. Auch sie jonglierte offenbar mit mehreren Identitäten.

      »Ihre Einschätzung ist also, dass sie ansonsten außerstande gewesen wäre auszubrechen?«

      »Ja,


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