Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5. Inger Gammelgaard Madsen
oben über den blauen Sommerhimmel und wohnten auf einigen der vielen Bauernhöfe weit, weit weg.
»Liegst du hier so rum – ganz nackt?!«
Sara hatte niemanden kommen hören. Sie schirmte die Sonne mit der Hand ab und schaute erschrocken zu Freja auf, die die Sonnenbrille in ihre dunklen Haare hochschob und lächelte. Sie trug ein leichtes, knallbuntes Sommerkleid. Ihre Haut war gebräunt, wie das ganze Jahr über. Sie unterrichtete an einer Musikschule und hatte lange Ferien. Den Sommer verbrachte sie die meiste Zeit am Strand vor ihrer Villa in Risskov, wo sie zusammen mit Thor und ihrem 12-jährigen Sohn Sune wohnte. Sara hingegen war blass und sommersprossig, sie vertrug die Sonne nicht und wurde rot wie hot chili, deswegen hielt sie sich immer im Schatten auf. Es war lange her, dass sie Freja gesehen hatte, sie hatte sie nur über ihre Pinnwand bei Facebook im Auge behalten, damit sie auf dem Laufenden blieb, was sie so unternahm, und sie wusste, dass Freja es umgekehrt mit ihr genauso gemacht hatte.
»Hi, Freja. Mensch, das ist ja eine Überraschung!«
Sara beeilte sich, die Bluse anzuziehen, und verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse, als der Stoff ihre Brüste berührte.
»Bleib ruhig liegen. Du musst dir nicht meinetwegen was anziehen. Ich erinnere mich noch gut, wie das war. Das mit den Brüsten. Bitte schön, das ist für dich.« Sie überreichte ihr ein Geschenk mit ebenso schreiend buntem Papier wie das Muster des Kleides samt einer großen Schleife. Abstrakt. Sara kannte niemanden, der so abstrakt war wie Freja.
Gespannt nahm sie das Geschenk entgegen. Freja setzte sich auf einen Gartenstuhl. Direkt in die Sonne, wo es glühend heiß war.
»Warum kriege ich jetzt ein Geschenk? Ich hab doch nicht Geburtstag.«
»Weil du Mutter wirst. Das steht doch überall auf deiner Pinnwand. Das Geschenk ist nur zum Spaß.« Freja kaute Kaugummi, das war auch eine ihrer Eigenarten. Wenn Sara Minze roch, dachte sie immer an Freja. Sie war im Zweifel gewesen, ob es zu früh war, für alle Freunde öffentlich zu machen, dass sie schwanger war, aber dann hatten andere im zweiten Monat Bilder von ihren wachsenden Bäuchen hochgeladen und sie war von der Stimmung angesteckt worden.
Sie packte aus mit einem misstrauischen Blick zu ihrer Freundin, die, spontan wie sie war, oft auf Ideen kam, die nicht immer zur Situation passten. Sara vergaß nie, wie sie ihr einmal einen ausgestopften Vogel zum Geburtstag verehrt hatte, weil sie sie mit ihrer Angst vor Federvieh aufziehen wollte; sie hatte beinahe einen Herzstillstand bekommen und den Vogel mit einem lauten Schrei entsetzt von sich geworfen, als die ekligen Federn ihre Haut berührten; er flog auf den Boden und der Kopf fiel ab. Ein makabrer Anblick. Kasper hatte ihn entsorgt, als die Gäste gegangen waren. Nur Freja hatte sich amüsiert, aber Sara glaubte nicht, dass es böse gemeint war. Sie wusste es einfach nicht besser. Sie waren ehemalige Klassenkameradinnen und hatten nach vielen Jahren wieder zusammengefunden, obwohl sie in der Schule eigentlich nicht besonders viel miteinander zu tun gehabt hatten. Freja hatte zu der Gruppe gehört, die diejenigen mobbte, die anders waren. Sie selbst hatte versucht, sich da rauszuhalten, was sie dann zu einer Außenseiterin gemacht hatte. Jedenfalls in Frejas Kreis. Die meisten sahen zu ihr auf. Fürchteten sie beinahe. Sie entdeckte überrascht, dass sie fast Nachbarn waren, als sie und Kasper in die Wohnung in Trøjborg zogen. Das war, bevor Freja Thor traf, der Architekt war und selbst ihre extravagante Villa in Risskov entworfen hatte. Sie mussten sich wegen der Kombination ihrer Namen eine Menge anhören und in ihrem Freundeskreis hießen sie bloß die Wikinger, wenn sie erwähnt wurden. Und sie es nicht hörten.
Aber dieses Mal gab es nichts zu befürchten. Nur ein Buch fiel aus dem Papier. Wo habe ich das Baby hingelegt? von Julia Lahme. Sara stand halb auf und umarmte Freja. Hauptsächlich aus Erleichterung. Sie setzte sich wieder auf den Liegestuhl, winkelte das eine Bein an und betrachtete das Cover.
»Glaubst du nicht, dass ich eine gute Mutter werde?« Das klang sicher ein bisschen zu besorgt. Freja sah plötzlich beschämt aus, was man nicht oft erlebte.
»Doch, doch – natürlich wirst du eine gute Mutter, Süße. So war das gar nicht gemeint. Ich habe bloß gehört, dass das Buch total witzig sein soll. Bist du nervös? Herrgott, du bist doch Kinderpflegerin. Was kann da schon schiefgehen?«
»Ach, eine Menge, Freja. Es kann so viel schiefgehen. Wer weiß, ob ich eine gute Mutter werde, auch wenn ich davon lebe, anderen Müttern zu erzählen, wie sie sich verhalten sollen, um es zu sein. Das sagt sich so leicht, und …«
»Jetzt hör schon auf! Du wirst eine Glucke. Garantiert!«
»Ich kann mich erinnern, dass du Probleme hattest, als du mit Sune schwanger warst.«
»Ja, das war echt hart. Ich musste ja die letzten beiden Monate im Bett bleiben und er kam viel zu früh. Zum Glück hat Sune überlebt und ist heute ein superstarker Kerl, obwohl er nicht so aussieht, das dürre und verwöhnte Gespenst.« Sie lachte heiser. »Vielleicht hätte ich auch warten sollen, es ist besser, in deinem Alter Kinder zu bekommen. In den Dreißigern ist man reifer als in den Zwanzigern, und ich fühle mich tatsächlich ein bisschen so, als hätte ich dadurch, dass ich so früh Mutter geworden bin, einen Teil meiner Jugend verloren.«
»Ach, du scheinst doch ganz gut zurechtzukommen, Freja. Möchtest du irgendwas haben? Im Kühlschrank ist kalte Limonade.«
Sara wollte aufstehen, aber Freja war schneller und hielt beide Hände mit gespreizten Fingern vor ihr hoch. »Nein, du bleibst jetzt da! Du bist schwanger! Hurra! Hurra! Und ich kann sie selbst holen. Du willst auch eine, oder?«
»Ja. Und danke.« Sie legte sich zurück auf die Liege und spürte eine Welle der Übelkeit und einen Stich im Unterleib wie Menstruationsschmerzen, aber sie wusste, dass das völlig normal war, weil sich ihre Gebärmutter ausdehnte. Das sagte jedenfalls der Arzt. Durch das offene Küchenfenster hörte sie Freja am Kühlschrank und den Küchenschränken hantieren. »Die Gläser sind im Wohnzimmerschrank«, rief Sara.
Freja kam zurück mit einem Tablett, auf dem ein Glas, eine Kanne Limonade und ein Bier standen. »Ich hatte irgendwie mehr Lust auf ein Bier bei der Hitze. Hab gerade gesehen, dass ihr ein paar belgische im Kühlschrank habt.« Sie stellte das Tablett auf den Gartentisch.
»Bist du nicht mit dem Auto da?«
»Nein, ich hab den Bus genommen. Thor hat heute das Auto.«
»Dann habe ich dich deswegen nicht kommen hören. Ja, dann nimm ruhig eins von Kaspers belgischen, das merkt er eh nicht.« Sara nahm ein Glas mit Limonade entgegen, das Freja ihr reichte. Sie selbst nahm einen großen Schluck aus der Flasche mit Leffe. Sara mochte das nicht, selbst in der Zeit vor der Übelkeit nicht. Schon allein der Geruch reichte aus, dass ihr Darm rumorte.
»Ich hab im Regal gesehen, dass du die Maske noch nicht weggeworfen hast. Wieso hebst du die denn auf?«
»Die Maske? Ach, die aus Venedig. Die ist doch ein Andenken. Ich hatte keine Zeit, mir eine eigene zu kaufen, an dem Morgen ist plötzlich so viel passiert.« Sie trank aus dem Glas und schauderte leicht bei der Erinnerung an den dunklen, kühlen Morgen am Kanal und das tote Mädchen. Das, was sie gesehen hatte, bevor der Leichensack zugemacht wurde, hatte sie nicht vergessen und erlebte es oft in ihren Albträumen. Aber sie sprachen nie darüber, was in Venedig passiert war. Kasper sagte, das ginge sie nichts an und sie sollten versuchen, es zu vergessen. An dem Morgen wurden alle, die im Hotel wohnten, zum Verhör versammelt. Niemand durfte Ort und Stelle verlassen, bis es die italienische Polizei erlaubte, sodass sie nur mit Ach und Krach den Bus zum Flughafen erreichten.
»Es ist lange her, dass du darüber auf Facebook geschrieben hast. Hast du nicht gehört, ob die Polizei den Mörder gefunden hat?«
»Nein, ich weiß auch gar nicht, ob es Mord war oder bloß ein tragischer Unfall.«
»Das war sicher Mord, und der Mörder kann ein Tourist von wo auch immer gewesen sein, der bereits über alle Berge war, als sie gefunden wurde.« Freja schauderte trotz der Hitze. Die Sonne brannte auf ihren Rücken. »Stell dir mal vor, dass sie die Leiche im Wasser direkt vor eurem Hotel gefunden haben. Was für ein Pech, dass du die Kamera nicht dabeihattest und es gefilmt hast, dann hätten wir es online stellen können. Aber ich glaube jedenfalls,