Das irdische Paradies und andere Legenden. Emmy Ball-Hennings
liegt und höher als alle Berge der Erde ist. Vier Ströme haben ihren Ursprung im Paradiese, und ihre hellen Wasser, die talwärts rauschen, berühren auf geheimnisvolle Weise gleich einem Gruß aus seligen Reichen, einmal jedes Land der Erde. Die Ströme aber heißen: Tigris, Euphrat, Nil und Ganges.
Nahe dem Nil befand sich vor vielen, vielen Jahren einmal ein Kloster, in dem eine Anzahl Mönche wohnte, die ein wahrhaft engelhaftes Leben führten und kaum auf etwas anderes als auf ihr Seelenheil bedacht waren. Eines Tages nun ergingen sich drei der Mönche am Ufer des Nils, und weil das klare, frische Wasser sie lockte, kamen sie auf den Einfall, ihre etwas müden, heißen Füße zu baden. Da erblickten sie plötzlich im Wasser schwimmend den Zweig eines Baumes, dessen Blätter in verschiedenen Farben gar seltsam und schön leuchteten. Die Blätter waren nicht nur grün, wie unsere Augen dies gewohnt sind, sondern schimmerten goldig und silbern, korallenfarben und azuren. Beinahe jedes Blatt zeigte eine andere Farbe. Die Mönche nahmen den Zweig an sich, betrachteten erstaunt seine fremdartige Schönheit, lobten den Schöpfer, der so viel Wunderbares sich erdacht hat, und da an diesem Wunderzweig drei köstliche Äpfel hingen, nahm jeder der Mönche einen Apfel und aß.
O, wie die Frucht mundete! Eine namenlose Freude bemächtigte sich der drei Mönche, eine Freude, die so stark war, daß jeder in Tränen ausbrach und der eine den andern fragte:
«Bruder, sprich, warum weinst du?»
«Ich weine, weil meine Seele berührt ist. Und warum weinst du, mein Bruder?»
«Es werden Tränen der Freude sein, die ich weinen muß.»
Der dritte sprach:
«Wahrlich, ich glaube, dieser Zweig muß von jenem Ort stammen, an dem vielleicht Gott selbst im Kreise seiner Engel weilt. Es müssen Früchte aus einem himmlischen Reich sein, die wir gekostet haben. Wollen wir nicht diesen herrlichen Ort suchen gehen?»
«Gehen wir im Namen Gottes.»
Also waren sich die drei Mönche einig, und machten sich auf den Weg, von dem sie voller Vertrauen annahmen, er würde sie zum Paradiese führen. Sie gingen eine Weile am Nil entlang und entdeckten am Ufer Sträucher, die voller Manna hingen, davon sie kosteten. Sie gingen weiter und fanden eine Quelle, die von oben kam und sich in den Nil ergoß. Das Rauschen der Quelle war wie Gesang, der die Mönche entzückte. Sie lauschten eine Weile, neigten sich dann zur singenden Quelle, tranken ein wenig vom klaren Wasser und fühlten sich dadurch ungemein erfrischt. Es wurde ihnen so leicht und selig zumute. Wie schwebend wurden ihre Schritte und so kamen sie wie auf Flügeln getragen den hohen Berg hinan, ohne irgend welche Müdigkeit zu verspüren.
Als sie beinahe die Spitze des Berges erreicht hatten, vernahmen sie, wie aus der Ferne, einen wunderbaren Gesang. Es war den Mönchen, als hörten sie viele Engel singen. Da gingen sie der traumhaften Süßigkeit des Liedes nach, dessen Klänge immer zarter, inniger und feierlicher zu strömen schienen. Die Mönche betrachteten mit staunenden Augen die herrlichen Bäume, die auf diesem Berge wuchsen. Sie sahen Blumen in nie zuvor gesehener Farbenpracht und der feine Duft dieser Blumen erfüllte die Herzen der Mönche mit einer Freude ohnegleichen.
Plötzlich standen sie vor einer hohen, hellen Mauer und vor einem mächtig großen Tor, das geschlossen war und vor dem ein wunderschöner Engel mit lichtschimmernden Flügeln die Wache hielt. Der Engel hielt ein flammendes Schwert in der Hand. Die Mönche blieben scheu vor Ehrfurcht in einiger Entfernung stehen, sahen jedoch in andächtiger Verzückung auf den namenlos schönen Engel, dessen Antlitz wie eine Sonne leuchtete und doch die Betrachtenden nicht blendete. So blieben die Mönche, hingenommen vom Anblick solcher Schönheit, fünf Tage und fünf Nächte hindurch stehen ohne die Zeit zu empfinden.
Am sechsten Tage aber, wie von den Augen des Engels angezogen, wagten sie näher zu treten. Und der Engel fragte sie sogleich:
«Was wollt ihr hier?»
Die Mönche antworteten:
«Ach, wenn wir doch eintreten dürften, um ein wenig nur zu sehen, was sich hinter dem Tor befinden mag. Wenn wir nur drei oder zwei Tage hier bleiben dürften.»
«Oder nur einige Augenblicke», setzte der eine Mönch schüchtern bittend hinzu.
Da öffnete der Engel das Tor, und die Mönche durften ins Paradies eingehen. Vor ihnen ausgebreitet lag der himmlische Garten da in seiner unbeschreiblichen Schönheit. In den Zweigen der herrlichen Bäume sangen die Vögel lieblicher noch als auf der Erde, weil die Mönche vogelsprachekund waren und die süßen. Lieder der Vögel, die zur Ehre Gottes sangen, klar verstehen konnten. Schwiegen dann die Vögel, wie um sich ruhend auf ein neues Lied zu besinnen, vernahmen die Mönche leise, unsagbar anmutige Melodien, sanft strömende Harfenklänge, die von fernen Engeln herrühren mochten. Die Mönche hoben ihre Häupter, sahen in das selige, singende Blau des Himmels und blieben lauschend stehen.
Dann wieder, da eine Duftwelle ihre Stirnen berührte, der innig-feine Hauch der vielen Rosen, senkten sie den Blick. Jede einzelne Blume war ein blühendes Gebet, das die Mönche als Frieden und Seligkeit im Herzen empfanden. Sie selbst, die Mönche, fanden keine Worte, nur ihre Seelen waren von Dankbarkeit erfüllt.
Sie sahen einen freundlichen, hellen Weg vor sich, der in einen Wald zu führen schien, doch waren sie zu sehr befangen und zu demütig, um weiterzugehen.
Es kamen zwei ehrwürdige Greise ihnen entgegen, die eine Helle ausstrahlten wie schimmernder Schnee, auf den die Sonne fällt. Es waren die heiligen Väter Elias und Henoch, die Gott einmal, noch während ihres Erdenlebens, in diesen Himmel erhoben hatte. Die Mönche grüßten, und die heiligen Väter fragten:
«Was suchet ihr hier? Und wie kommt ihr hierher?»
Die Mönche entgegneten:
«O, wir wissen nicht und können nicht begreifen, wie wir an diesen Ort gekommen sind. Hätten wir je ahnen können, daß es uns bestimmt war, solche Herrlichkeit zu schauen?»
«Dann danket Gott, daß er euch solche Gnade widerfahren ließ. Ihr müßt wohl eine Frucht vom Baum der ewigen Jugend gekostet haben, und von der Quelle des Lebens werdet ihr getrunken haben, sonst wäre es euch nicht möglich gewesen, hierher zu kommen. Ihr seid im Garten Eden, den man das irdische Paradies nennt. Kommt mit uns. Wir wollen euch durch den Garten führen.»
Jetzt durften die drei Mönche in solch heiliger Gesellschaft den wunderbaren Garten betrachten. Es wurde ihnen jeder Baum gezeigt, der mit lieblichen Äpfeln behängen war, von denen Adam und Eva einmal gekostet hatten. Die Mönche betrachteten den Baum mit einer gewissen Scheu, und wandten dann ihre Aufmerksamkeit einem andern Baume zu. Es war ein hoher, mächtiger Baum von einer besonderen Tannenart, und Elias und Henoch erklärten, daß dies der Baum des Heiles sei, aus dessen Holz das Kreuz Jesu Christi einst gemacht worden war. Da fielen die Mönche auf die Erde und dachten an das siegreiche Kreuz, an das Holz, an dem das Heil der Welt gehangen.
Nach diesem wurden sie weitergeführt und kamen an jene Quelle, aus der sie unten im Tale vor ihrer Wanderung getrunken hatten. Henoch erklärte den Mönchen:
«Wer von diesem Wasser trinkt, altert nicht. Und wer alt ist und von diesem Wasser trinkt, wird wieder jung, denn es ist die Quelle des ewigen Lebens.»
Den Mönchen erschien alles, was sie sahen und hörten, wie im Traum. Sie waren so überglücklich, daß ihnen die Zeit wie im Fluge verging, und sie waren daher höchst erstaunt, als sie schon so bald wieder am Tor des Paradieses angelangt waren und wieder fortgehen mußten. Da begannen sie sich aufs Bitten zu verlegen, ob sie nicht bleiben dürften, was ja leicht zu verstehen ist. Denn wer im Paradiese war, wie wollte derjenige leichten Herzens wieder in die Welt zurückkehren mögen? Darum baten die Mönche gar flehend:
«O, habt Erbarmen mit uns. Laßt uns doch noch ein paar Tage im Paradiese. Wir sind doch erst soeben angekommen, und haben uns ein wenig an die Seligkeit gewöhnt. Ach, laßt uns doch hierbleiben! Schenkt uns nur noch einen Tag! Ach, nur noch eine Stunde! Wir waren nur so wenige Augenblicke hier. . .»
Die heiligen Väter lächelten geheimnisvoll und gaben zur Antwort:
«Ihr irrt euch. Ihr seid schon siebenhundert