Die Kreutzersonate. Лев Толстой
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Lew Tolstoi
Die Kreutzersonate
Saga
Die Kreutzersonate ÜbersetztAugust Scholz Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2002, 2020 Lew Tolstoi und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726619065
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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1.
Es war Frühling. Zwei Tage schon reisten wir. An kleineren Haltestellen stiegen beständig Leute aus und ein; nur drei Reisende saßen gleich mir von der Abgangsstation an im Abteil: eine weder hübsche noch junge Dame mit müdem Gesichtsausdruck; sie rauchte Zigaretten, trug einen fast männlichen Paletot und eine Mütze; ein ihr bekannter Herr, sehr gesprächig, in den vierziger Jahren, äußerst gut gekleidet, und dann noch ein anderer Herr, mittelgroß, nervös, noch nicht sehr alt, aber doch schon mit ergrautem Haar und auffallend lebendigen Augen, die unruhig von einem zum andern Gegenstand sprangen. Er saß etwas abseits und hielt sich auch von allen anderen sehr zurück. Er trug einen bereits etwas abgetragenen Mantel mit einem Lammfellkragen und eine ebensolche Mütze. Der Mantel war aber zweifellos von einem sehr guten Schneider gearbeitet. War der Mantel nicht zugeknöpft, so kam eine Joppe und ein russisches besticktes Hemd darunter zum Vorschein. Mitunter stieß er eigentümliche Töne aus, die man für ein Hüsteln oder abgebrochenes Lachen hätte halten können.
Die ganze Fahrt über vermied er es aufs sorgfältigste, mit den übrigen Fahrgästen irgendeine Bekanntschaft anzuknüpfen. Wagte es wirklich einmal jemand, ihn anzureden, so antwortete er unwillig und kurz. Entweder las er in einem Buche, rauchte oder sah zum Fenster hinaus. Zuweilen entnahm er auch seiner alten Tasche Eßwaren und trank Tee dazu. Mir war es, als litte er unter seinem Alleinsein. Ich versuchte daher verschiedene Male, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen; begegneten sich aber unsere Blicke, was häufig vorkam, da wir uns schräg gegenübersaßen, so vertiefte er sich entweder sofort wieder in sein Buch oder schaute weiter der Landschaft nach.
Als wir am Abend des zweiten Tages in einer größeren Station hielten, holte sich dieser Nervöse heißes Wasser und bereitete neuen Tee. Der gutgekleidete Herr aber, ein Rechtsanwalt, wie ich später erfuhr, ging mit seiner Begleiterin, der Dame im halb männlichen Paletot, nach dem Warteraum, um dort Tee zu trinken.
Während der Abwesenheit dieser beiden bestiegen neue Fahrgäste unser Abteil; darunter auch ein alter Herr mit glattrasiertem faltigen Gesicht, der den Eindruck eines Kaufmannes machte. Er war in einen Iltispelz gekleidet und trug eine Tuchmütze mit einem überaus großen Schirm. Er setzte sich auf den Platz der Dame gegenüber und dem Rechtsanwalt und fing sofort eine Unterhaltung mit einem jungen Menschen an, der ein Handungsgehilfe zu sein schien und gleichfalls mit ihm eingestiegen war. Ich saß ihnen schräg gegenüber und konnte, da der Zug stand und sonst keine allzu großen Geräusche waren, Bruchstücke ihres Gespräches vernehmen. Ich hörte zunächst, daß der Kaufmann auf sein Gut fahren wolle, das nur eine Station entfernt sei. Dann sprachen sie, wie üblich, über Preise und Geschäftsfragen, über die Geschäftslage in Moskau und endlich von der Messe in Nishnij-Nowgorod. Der Handlungsgehilfe versuchte zunächst, von irgendwelchen tollen Streichen eines ihnen beiden bekannten Kaufmannes zu erzählen, die jener während der Meßzeit begangen haben soll. Der Alte schnitt ihm aber seine Erzählung ab und tischte nun selbst Berichte von Zechgelagen auf, denen er persönlich beigewohnt hätte.
Er bildete sich scheinbar viel darauf ein und erzählte mit großer Freude, daß er einst in Kunawino mit demselben Bekannten einen ganz wüsten Streich ausgeführt habe, den er nur flüsternd berichten könnte. Der Handlungsgehilfe bog sich vor Lachen, in das schließlich auch der Alte einstimmte. Da mich ihre Erzählungen nicht interessierten, wollte ich ein wenig bis zum Abfahren des Zuges auf dem Bahnsteig auf und ab gehen. In der Tür begegnete ich dem Rechtsanwalt und der Dame, die in ein äußerst lebhaftes Gespräch vertieft waren.
„Es ist keine Zeit mehr,“ sagte mir höflich der Rechtsanwalt, „es wird sogleich das zweite Mal läuten.“
In der Tat, ich hatte kaum den letzten Wagen erreicht, als das Signal ertönte. Als ich meinen Platz wieder eingenommen hatte, waren die beiden immer noch mit ihrem Thema beschäftigt. Der alte Kaufmann saß ihnen schweigsam gegenüber, sah mürrisch vor sich hin und bewegte hin und wieder mißbilligend seine Lippen.
„Sie erklärte also ihrem Manne unumwunden,“ hörte ich den Rechtsanwalt lächelnd erzählen, als ich an ihm vorbeiging, „daß sie weder mit ihm zusammen leben könne noch wolle, da . . .“ Das weitere verstand ich nicht mehr durch die Geräusche anderer vorbeigehender Fahrgäste. Als es wieder ruhig geworden war und ich wieder die Stimme des Rechtsanwalts vernehmen konnte, war das Gespräch schon allem Anschein nach auf allgemeine Betrachtungen übergegangen.
Der Rechtsanwalt erörterte, daß die öffentliche Meinung Europas sich gegenwärtig sehr stark mit der Frage der Ehescheidung befasse und daß auch bei uns solche Fälle immer häufiger aufträten. Da er gewahr wurde, daß man nur seine Stimme allein im Wagen vernähme, unterbrach er seine Rede und wandte sich an den Alten.
„Früher waren wohl solche Probleme den Menschen fremd?“ fragte er freundlich lächelnd. Der Alte wollte etwas erwidern, aber im selben Moment setzte sich der Zug in Bewegung. Der Alte zog die Mütze, bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet. Der Rechtsanwalt sah diskret weg und wartete ab. Als der Alte das Gebet gesprochen und sich noch dreimal bekreuzigt hatte, setzte er seine Mütze tief ins Gesicht, streckte sich bequem aus und begann: „Das beschäftigte auch früher schon die Menschen, mein Herr, wenn auch nicht in so vielen Fällen wie heute. Das bringt eben die Zeit mit sich, denn die Menschen von heute sind doch zu gebildet.“
Da der Zug immer schneller fuhr und immer geräuschvoller über die Weichen hinpolterte, konnte ich das Gespräch weiterhin nur sehr schwer vernehmen. Da es mich aber interessierte, rückte ich näher heran. Selbst mein Nachbar, der nervöse Herr, schien Interesse an diesem Gespräch zu haben und lauschte, ohne aber seinen Platz zu verändern, gespannt auf die Unterhaltung.
„In welcher Weise aber soll denn Bildung schädlich sein?“ sagte die Dame mit einem leisen Lächeln. „Sollte es vielleicht besser sein, heute noch zu heiraten, wie es früher üblich war, da Braut und Bräutigam sich vor ihrer Heirat nicht einmal ansehen durften?“ fuhr sie fort, ohne auf die Antwort ihres Partners einzugehen, was ja typisch weiblich ist, sondern auf das antwortend, was er ihrer Meinung nach hätte antworten sollen.
„Sie wußten ja gar nicht, ob sie sich liebten und lieben könnten. Sie heirateten blindlings, um sich dann ihr ganzes langes Leben lang zu martern. Das also erscheint Ihnen die bessere Lösung?“ fragte sie, sich mehr an mich und an den Rechtsanwalt wendend, als an den Alten, mit dem sie doch eigentlich dies Gespräch führte.
„Die Menschen von heute sind eben doch zu gebildet“, sagte der Alte, während er die Dame verächtlich ansah, ohne auf ihre Frage einzugehen. Es würde mich interessieren zu hören, wie Sie den Zusammenhang zwischen Bildung und Disharmonie in der Ehe erklären wollen“, fragte der Rechtsanwalt, kaum wahrnehmbar lächelnd. Der Alte wollte antworten, die Dame aber unterbrach ihn. „Gott, diese Zeit ist doch längst vorbei!“ Der Rechtsanwalt aber schnitt ihr das Wort ab: „Lassen Sie doch erst mal den Herrn seine Ansicht aussprechen.“
„Alle Dummheiten entspringen der Bildung“, sagte der Alte kurz und schroff.
„Man verheiratet Menschen miteinander, die sich nicht lieben, und dann begreift man nicht, wenn sie sich gegenseitig aufreiben“, erwiderte eiligst die Dame, mich, den Rechtsanwalt und selbst den Handlungsgehilfen scharf anblickend, der sich erhoben hatte und auf die Lehne gestützt der Debatte lächelnd zugehört hatte.
„Nur Tiere werden ja nach dem Willen ihres Herrn so gepaart; Menschen aber haben doch ihre eigenen Neigungen und Empfindungen“, sagte die Dame, die scheinbar den Alten