Die Kreutzersonate. Лев Толстой
Pariser! . . . Verkörpern wir alle, wir dreißigjährigen Wüstlinge, auch ich natürlich, die wir Hunderte der verschiedensten Verbrechen gegen die Frau auf dem Gewissen haben, gut gewaschen, glattrasiert, parfümiert, in blendender Wäsche, Frack oder Uniform, sobald wir im Salon oder auf einem Ball erscheinen, nicht das Sinnbild von Reinheit und Makellosigkeit?
Vergleichen Sie doch selbst einmal, wie es ist und wie es sein sollte! Wäre es nicht recht und billig, daß ich, wenn in einer Gesellschaft ein solcher ,Herr‘ sich meiner Schwester oder Tochter nähert, ich, der ich doch seinen Lebenswandel kenne, ihn beiseite nehme und ihm sage: ,Ich weiß ja, mein Verehrter, wie du lebst, in welcher Art und mit wem du deine Nächte verbringst. Was suchst du hier? Hier sind reine, unschuldige Mädchen. Entferne dich eiligst!‘ Das wäre das richtige! So aber, wenn ein solcher ,Herr‘ auf der Bildfläche erscheint, mit meiner Schwester oder Tochter tanzt, jauchzen wir ihm schon zu, wenn er reich und gute Beziehungen hat. Vielleicht läßt er nach dem Straßenmädel auch meiner Tochter die hohe Ehre zuteil werden. Selbst wenn ihm die Folgen einer Krankheit noch zu schaffen machen, schadet das nichts, hat man doch heutzutage reiche Erfahrungen in der Behandlung solcher Leiden. Ich kenne sogar einige Töchter erster Gesellschaftskreise, die von ihren Eltern an Männer verschachert worden sind, die mit diversen Krankheiten behaftet waren. Oh, wie widerwärtig! Schließlich aber wird doch bald die Zeit kommen, da dieser ganze Lug und Trug zusammenbrechen wird!“
Wieder stieß er seinen eigentümlichen Ton von sich und griff zu seinem Tee. Der Tee war furchtbar stark, aber es fehlte an Wasser, ihn zu verdünnen. Ich spürte, daß mich diese zwei Gläser, die ich getrunken, maßlos aufregten. Auch seine Nerven hatte der Tee scheinbar stark aufgepeitscht, denn er wurde immer erregter. Auch wurde seine Stimme immer ausdrucksvoller. Er veränderte unablässig seine Stellung, setzte bald die Mütze auf, bald wieder ab, und sein Gesicht nahm seltsame Veränderungen an bei dem Halbdunkel, das uns umgab.
„So lebte ich bis zu meinem dreißigsten Jahre, ohne dabei den Gedanken an eine Heirat und an ein reines, ideales Familienleben fallen zu lassen. Daher betrachtete ich eingehend die jungen Mädchen, um mir ein passendes zu erwählen. Während ich dem wollüstigsten Leben nachjagte, spähte ich nach einem Mädchen aus, dessen Reinheit meiner würdig sei. Viele verwarf ich, da sie mir nicht makellos genug erschienen, bis ich endlich eine fand, die meiner würdig zu sein schien. Es war eine der beiden Töchter eines einst reich gewesenen, dann aber verarmten Gutsbesitzers aus dem Pensaschen Gouvernement. Eines Abends, als wir von einer Bootsfahrt im Mondschein nach Hause kehrten, ich neben ihr saß und ihre schlanke, von einem enganliegenden Jersey umschlossene Figur und ihre Locken bewunderte, da fühlte ich plötzlich, daß sie, nur sie, die Rechte für mich sei. Mir schien es an jenem Abend, als verstände sie alles, alles, was mein Fühlen und Denken regiere, und als trügen mich selbst nur die edelsten Gedanken und Gefühle. Im Grunde genommen aber war es nur der Jersey und ihre Locken, die gut zu ihr paßten, und mein Verlangen nach dem in ihrer Nähe verlebten Tage, mich ihr noch stärker, noch inniger zu nähern.
Es ist doch eigenartig, wie ausschlaggebend die Einbildung ist, daß das Schöne auch zugleich das Gute sei. Eine schöne Frau kann noch so viele Dummheiten schwatzen, wir lauschen ihr begeistert und bilden uns ein, noch nie etwas so Gutes gehört zu haben. Sie kann die unglaublichsten Dinge tun oder das dümmste Zeug reden, immer werden wir nur etwas Schönes darin erblicken. Sagt sie aber weder etwas Dummes noch Widerwärtiges und ist sie auch noch schön dazu, so sehen wir in ihr den klügsten und sittlich hochstehendsten Menschen.
Völlig berauscht kehrte ich nach Hause zurück und war fest überzeugt, daß sie ein Meisterwerk sittlicher Vollkommenheit und daher meiner würdig sei. Und bereits am nächsten Tage machte ich ihr meinen Antrag.
Was ist das doch für eine Verirrung! Unter tausend heiratenden Männern gibt es nicht nur in unserm Stande, sondern leider sogar im Volke kaum einen, der nicht schon vorher zehnmal bereits verheiratet gewesen wäre. Es soll jetzt allerdings junge Menschen geben, die fühlen und wissen, daß das Heiraten kein Spaß, sondern eine ernste Angelegenheit sei. Gott helfe ihnen! Zu meiner Zeit war kaum ein solcher unter Tausenden zu finden. Alle wissen es und tun doch so, als wüßten sie es nicht. In allen Romanen werden bis auf die kleinsten Einzelheiten die Gefühle der Helden, die Teiche und Gebüsche, an denen sie lustwandeln, eingehendst beschrieben. Zwar wird von der großen Liebe eines Helden zu irgendeinem Mädchen erzählt, ohne jedoch auch nur mit einem Wort etwas von dem Vorleben dieses Gepriesenen zu erwähnen. Kein Wort wird über den Besuch öffentlicher Häuser, über Stubenmädchen, Köchinnen und Frauen anderer gesagt. Beschreibt aber wirklich einer einmal so unpassende Erlebnisse, so gibt man solche Bücher jungen Mädchen, die sie doch am ehesten lesen müßten, nie in die Hände.
Anfangs täuschen wir den jungen Mädchen vor, daß die Sittenverderbnis, die die Hälfte des Lebens unserer Städte und Dörfer beherrscht, überhaupt nicht existiere. Dann gewöhnen wir uns mit der Zeit selbst an diese Lüge, bis wir endlich wie die Engländer fest daran glauben, daß wir alle sehr sittliche Menschen seien und in einer sittlich vollkommenen Welt lebten. Die armen unschuldigen Mädchen glauben aber wahrhaftig daran. Diesen Glauben hatte auch meine unglückliche Frau. Ich erinnere mich noch, daß ich ihr einmal als Bräutigam noch mein Tagebuch zeigte, aus dem sie wenigstens etwas über mein Vorleben hätte erfahren können, hauptsächlich aber über mein letztes Verhältnis, von dem sie ja sehr leicht von anderer Seite Näheres hätte erfahren können, und aus diesem Grunde hielt ich es für notwendig. Noch heute erinnere ich mich ihres Schreckens, ihrer Verzweiflung und Verwirrung, als sie es erfuhr und begriff. Ich fühlte, daß sie damals sich von mir losreißen wollte. Hätte sie es doch getan! . . .“
Wieder gab er seinen Laut von sich, nahm einen Schluck Tee und verstummte.
6.
„Aber nein, nein, es ist ja so besser, viel besser“, rief er aus. „Es geschieht mir ganz recht. Aber es handelt sich ja jetzt gar nicht darum. Ich wollte nur betonen, daß nur die unglücklichen jungen Mädchen einzig und allein die Betrogenen sind.
Die Mütter wissen es ja auch, vor allem diejenigen, die von ihren Männern erzogen worden sind. Sie geben sich zwar so, als wären sie von der Reinheit der Männer überzeugt, handeln in Wirklichkeit aber doch ganz anders. Wissen sie doch nur zu gut, mit welchem Köder sie die Männer für sich und ihre Töchter heranlocken.
Nur wir Männer allein wissen es nicht, einfach, weil wir es nicht wissen wollen. Die Frauen aber wissen recht gut, daß die allerhabenste, sogenannte poetische Liebe nicht von sittlichen Vorzügen, sondern von der körperlichen Nähe, von der Frisur, der Farbe und dem Schnitt der Kleider abhängt. Fragen Sie eine erfahrene Kokette, die sich die Aufgabe gestellt hat, einen Mann zu bezaubern, was sie lieber wagen möchte: in Gegenwart dessen, den sie bezaubern will, der Lüge, der Grausamkeit, ja vielleicht selbst der Sittenlosigkeit überführt zu werden, oder sich ihm in einem schlecht sitzenden, unschönen Kleide zu zeigen? Jede einzelne wird stets das erstere vorziehen. Weiß sie doch ganz genau, daß alles, was wir über die hohen Gefühle schwatzen, nichts als Lüge ist; daß uns nur der Körper reizt und ihr daher alles Scheußliche verzeihen, nur kein häßliches, geschmackloses Kleid. Eine Kokette ist sich dessen völlig bewußt; jedes unschuldige junge Mädchen weiß es auch, aber im Unterbewußtsein, wie ein Tier.
Daher eben auch alle diese Jerseys, die Turnüren, die nackten Schultern, Arme und die nur leicht verschleierten Brüste. Die Frauen, besonders diejenigen, die von den Männern erzogen worden sind, wissen sehr gut, daß die Gespräche über die sogenannten hohen Dinge in Wirklichkeit nur wertloses Geschwätz sind und daß die Männer nur nach dem Körper trachten und sich nur für die Dinge interessieren, die ihn in ein möglichst verführerisches Licht rücken. Und danach handeln sie auch. Wenn man sich von der Einbildung, die uns zwar längst schon zur zweiten Natur geworden ist, alle diese abscheulichen Gewohnheiten schön zu finden, frei macht und einen Blick auf das schamlose Leben unserer ersten Gesellschaftskreise wirft, so muß uns dieses ganze Dasein als ein einziges großes, öffentliches Haus erscheinen. Sie billigen diese Ansicht nicht? Gestatten Sie, ich werde es Ihnen beweisen“, rief er, mich unterbrechend.
„Sie sagen, die Frauen unserer Gesellschaftskreise hätten andere Interessen als die Frauen der öffentlichen Häuser. Ich behaupte das Gegenteil und will es Ihnen beweisen. Wenn