Sommergäste in Sophienlust. Ell Wendt

Sommergäste in Sophienlust - Ell Wendt


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daß Onkel Theodor seit Tante Sophiens Tod nicht mehr gern in Sophienlust geweilt habe. Das Haus sei mehrmals vermietet gewesen, doch nun stehe es schon seit geraumer Zeit leer.

      „Und wann werdet ihr hinausziehen?“ fragte Tom.

      „Das ist eben die Frage“, sagte Johannes bedächtig (diese Bedächtigkeit brachte mich manchmal zur Raserei), „wahrscheinlich werden wir es uns nicht leisten können, das Haus zu bewohnen.“

      „Bist du wahnsinnig?“ riefen Tom und ich aus einem Munde.

      Johannes lächelte überlegen. „Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?“ hub er an, „Sophienlust ist kein Wochenendhäuschen, sondern eine ausgewachsene Villa mit mindestens zehn Zimmern und einem beträchtlichen Park. Um die Jahrhundertwende legte man Wert auf Geräumigkeit. Rechnet euch mal bitte die Steuern aus, Grundsteuer, Hauszinssteuer usw., von den übrigen Spesen gar nicht zu reden!“

      Ich schwieg betreten, während Tom sich erkundigte, ob Johannes an die Möglichkeit glaube, das Haus zu einem annehmbaren Preis zu verkaufen.

      „Nein“, sagte Johannes düster, „wer kauft heute schon ein großes Haus?“

      „Na also“, sagte Tom befriedigt, als sei damit alles aufs beste geregelt.

      „Was soll das heißen?“ fragte Johannes gereizt.

      „Daß ihr selber darin wohnen werdet“, verkündete Tom.

      „Aber ich sage dir doch gerade —“

      In mir schoß ein Gedanke empor wie eine Leuchtrakete. „Wir müßten natürlich die Wohnung während der Sommermonate schließen.“

      Johannes sah mich mißbilligend an. „Und das Büro?“ fragte er.

      „Wozu habt ihr den braven August?“ kam mir Tom zu Hilfe, „außerdem kannst du jederzeit bei mir übernachten.“

      Johannes schwieg nachdenklich. Dann erklärte er in einem Ton finsterer Endgültigkeit, er habe den ganzen Nachmittag mit Berechnungen zugebracht. Wie man es auch drehe und wende, das Haus sei zu groß und zu kostspielig für eine Familie von drei Personen.

      Nun konnte ich nicht länger an mich halten. „Wir werden das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden“, rief ich frohlockend.

      Johannes und Tom sahen mich erwartungsvoll an.

      „Indem wir in Sophienlust wohnen und zahlende Gäste aufnehmen werden“, fuhr ich siegesgewiß fort, „wenn jeder pro Tag zehn Mark zahlt —“

      „Hör auf, hör auf“, schrie Johannes, „du bist verrückt geworden!“

      „Warum?“ fragte Tom, „ich finde, sie ist vernünftiger als du.“

      Ich sandte einen dankbaren Blick zu Tom hinüber. Johannes lächelte mit beleidigender Skepsis, aber dann begannen wir doch, den Plan zu erörtern. Die Rechnung mußte aufgehen, wenn wir imstande waren, genügend Gäste aufzunehmen. In diesem Fall müsse sich sogar ein Überschuß herauswirtschaften lassen, behauptete Tom.

      Johannes starrte, von Zweifeln bedrängt, vor sich hin. „Wir werden morgen hinausfahren und uns das Haus ansehen“, entschied er schließlich, „seit zehn Jahren hat Onkel Theodor es nicht mehr bewohnt. Ich könnte mir vorstellen, daß es eine ziemliche Bruchbude ist.“

      „Um so romantischer wird es werden“, sagte Tom, „schon der Name Sophienlust strotzt von Romantik. Die Gäste werden sich darum reißen, zu euch zu kommen. Sei kein Narr, Johannes! Das Schicksal gibt euch höchstpersönlich eine Chance!“

      Aber Johannes, pessimistisch von Natur, ließ sich nicht ohne weiteres gewinnen. Er fragte düster, ob ich mir darüber klar sei, daß wir auf jedes Privatleben verzichten müßten, falls der Plan sich verwirklichen lasse.

      Ich lachte. Im Augenblick kam mir alles ungeheuer einfach vor. Der geldliche Erfolg würde uns für jede Entsagung entschädigen. „Denk nur, Johannes, wir werden es zu Wohlstand und Ansehen bringen. Niemand wird in Zukunft sagen können, daß wir einem brotlosen Beruf obliegen. Und wenn obendrein der Roman von Armin Pütter ein Bombenerfolg wird —“

      „Stop!“ rief Tom lachend, „deine Phantasie schießt ins Kraut, meine Liebe!“

      3

      Am nächsten Tage fuhren wir hinaus nach Seewang a. See. Der sechste März gab dem fünften an Unfreundlichkeit nichts nach. Ein kalter Regen schlug gegen die Windschutzscheibe und zwang Johannes, den Scheibenwischer in Tätigkeit zu setzen, eine Maßnahme, zu der wir uns ungern entschlossen, denn der Scheibenwischer hatte die Gepflogenheit, sich festzuhaken und unsere Fahrt mit dem hartnäckigen Tack-Tack eines Maschinengewehrs zu begleiten. Einer von uns mußte dann aussteigen, um ihn zu seiner Pflicht zurückzuführen.

      Nachdem ich zum dritten Male ausgestiegen war, wandte ich mich mit der Frage an Johannes, ob er es für möglich halte, daß wir uns einen neuen Wagen leisten könnten, falls wir über Erwarten zahlreiche Gäste bekämen. Johannes schnob verächtlich durch die Nase. Er war stark von August in Anspruch genommen, der auf der holperigen Straße am Seeufer einer kundigen Hand bedurfte. Seewang war von der Stadt in vierzig Minuten mit dem Auto zu erreichen. August benötigte eine Stunde, um die Strecke zu bewältigen. Wir fuhren mit Getöse in den kleinen Ort ein und hielten an, um einen Einheimischen nach der Wohnung des Schreiners Xaver Windschagl zu fragen, der die Schlüssel zum Hause in Verwahrung hatte.

      Wir waren nie zuvor in Sophienlust gewesen, da wir zu einer Zeit nach M. zogen, als der Onkel schon seinen ständigen Wohnsitz in L. hatte. Es war uns nur bekannt, daß das Haus etwa zehn Minuten vom Ort entfernt, in stiller Abgeschiedenheit am Seeufer lag.

      Xaver Windschagl war nicht zu Hause; statt seiner erbot sich seine Gattin Rosina, uns nach Sophienlust zu begleiten. Sie war eine rüstige Frau in den Vierzigern, deren Dirndlgewand viel Molliges umschloß; während der kurzen Fahrt beklagte sie wortreich sowohl Onkel Theodors Tod als auch Sophienlust, dem die verschiedenen Mieter arg zugesetzt hätten.

      „Ein so ein herrliches Haus“, seufzte Frau Windschagl, als wir von der Landstraße abbogen und nach einer kurzen steilen Abfahrt durch ein hölzernes Gatter, das ehemals grün gewesen sein mochte, das Landhaus erreichten.

      Wir verließen August und schauten uns beklommen um. Sophienlust war genau das, was man sich um die Jahrhundertwende unter einem Landhaus vorgestellt hatte. Zweistöckig, mit weißem Verputz und roten Sandsteineinfassungen an den Fenstern, mit trutzigen Giebeln und einem massiven runden Turm, der jedem Schloß zur Zierde gereicht hätte und zum Überfluß von einem winzigen Türmchen gekrönt wurde, lag das Haus wie ein Alptraum aus der Ankersteinbaukastenzeit vor uns.

      Rundbogenfenster schauten uns an, deren oberes Drittel grün und obendrein mit Seerosenornamentik geschmückt war; hier und da gab es kleine hölzerne Balkons, sie waren der Fassade wie Vogelnester angeklebt. Sophienlust mochte vor dreißig Jahren ein pompöses Bauwerk gewesen sein; heute standen wir, Kinder einer sachlichen und zweckbetonten Zeit, mit frommem Schauder davor.

      „Allerhand, was?“ sagte ich kleinlaut zu Johannes, während Frau Windschagl die Haustür aufschloß. Johannes sagte gar nichts.

      Nun standen wir in der großen Diele. Die Luft hier drinnen hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem kühlen und atemraubenden Hauch, der einem aus Grüften entgegenweht. An den Wänden war der, weiße Verputz abgebröckelt; ein lebensgroßes Gemälde, irgendeinen Vorfahren aus Onkel Theodors Familie darstellend, schien ironisch so viel verschollene Romantik zu belächeln.

      Wir durchschritten die Räume stumm und andächtig wie ein Museum. Onkel Theodor hatte es mit dem Altdeutschen gehalten: wir fanden dunkel getäfelte Wände und Butzenscheiben im Erker des Speisezimmers; wir fanden ein Büfett von unwahrscheinlichen Ausmaßen, mit Zinnen und Türmchen verziert. Es gab viel Zinn auf Wandbrettern und Truhen, kernige Wandsprüche in Brandmalerei, Stühle, deren Ornamentik sich schmerzhaft in den Rücken bohren mußte, und Geweihe! Vor allen Dingen Geweihe!

      „Ich wußte gar nicht, daß der Onkel Jäger war“, sagte Johannes verwundert.


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