Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner

Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner


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(die Hauptfigur des Herrn der Ringe), der auf seinem Weg nach Mordor plötzlich innehielte, um sich in gesetzten Worten an den Leser zu wenden, wäre eine Absurdität, die den Rahmen des Buches sprengen würde. Genau diese Art reflexiver Bewegung begegnet uns hingegen mehrfach und nachdrücklich in der Unendlichen Geschichte, etwa wenn das phantásische Wesen Uyulála klagt:

      »[…] Wir sind nur Figuren in einem Buch,

      und vollziehen, wozu wir erfunden.

      Nur Träume und Bilder in einer Geschicht’,

      so müssen wir sein, wie wir sind,

      und Neues erschaffen – wir können es nicht […].« (UG 109)

      An wen aber richten sich die Worte der Uyulála? An den Phantásier Atréju, der nach vielen Abenteuern in ihren Tempel vorgedrungen ist? An das »Menschenkind« Bastian, das dies alles gebannt auf seinem Matratzenlager verfolgt? Oder doch eher an den Leser von Endes Roman, der damit aufgefordert wird, zwischen innerer und äußerer Handlung, zwischen Atréjus Phantásien und Bastians »Menschenwelt« zu unterscheiden? Aber wie »realistisch« ist diese eigentlich? Nehmen wir das zentrale Kapitel der Unendlichen Geschichte, »Der Alte vom wandernden Berge« (UG 177–190), genauer in den Blick, so wird klar, daß die vermeintliche »Rahmenhandlung« um den Jungen auf dem Speicher tasächlich in höchstem Maße fiktiv ist, steht sie doch in einem Buch (die Unendliche Geschichte des Alten) in einem Buch (die Unendliche Geschichte aus dem Antiquariat Koreander) in einem Buch (Endes Roman) aufgezeichnet. Mehr noch: Augenzwinkernd geben auch die handelnden Personen dieser Ebene dem Leser zu verstehen, daß sie sich, ebenso wie die Uyulála, ihrer Rolle als »Figuren in einem Buch« durchaus bewußt sind, etwa wenn vom »erfahrenen Phantásienreisenden« (UG 427) Koreander gesagt wird: »Vielleicht hat [Die unendliche Geschichte] in genau diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin« (UG 426) – womit er offenkundig auf den Leser von Endes Roman anspielt. Auf der Suche nach der »eigentlichen« Rahmenhandlung rutscht so der Leser gleichsam immer wieder ein Stockwerk tiefer, bis er schließlich bei sich selbst, bei seiner eigenen Existenz anlangt. Dadurch aber hat die reflexive Bewegung in der Unendlichen Geschichte ihren äußersten Kreis geschlagen, hat nicht nur die Figuren im Buch, nicht nur dessen fiktiven Leser Bastian,106 sondern auch den realen Leser von Endes Roman in ihren Bann gezogen – und der Autor sein erklärtes Ziel erreicht: »Geschichten zu schreiben, die [den Leser] auf sich selbst zurückverweisen.«107

      imageEthik

      In jener Reflexivität, die wir im vorigen Abschnitt als wesentlichen Zug der Unendlichen Geschichte erkannt haben, zeigt sich das Endesche Werk dem philosophischen Denken zweifellos verwandt – was sie zu einem wichtigen Ausgangspunkt für die philosophische Interpretation macht. Dies klärt allerdings noch nicht die Frage, ob wir tatsächlich von einem eigenen philosophischen Denken Endes auszugehen haben, das sich in seinen Werken spiegelt. Bis hierher nämlich könnte man jene Reflexivität, wenn man wollte, noch als ein zwar tiefsinniges, aber letztlich bedeutungsloses künstlerisches Spiel abtun, wie wir es etwa schon bei Cervantes finden.108 Indes verfolgt die reflexive Bewegung innerhalb der Unendlichen Geschichte, anders als im Don Quijote, ein ganz bestimmtes Ziel. Je mehr der Leser sich selbst und seine Welt in den Roman einbezogen findet, desto mehr ist er geneigt, die darin aufgezeigten Problemstellungen als »wirklich« zu akzeptieren. Der drohende Untergang des Reiches menschlicher Phantasie und Kreativität wird ihm so zu dem, was er offenbar auch für Ende selbst war: zu einer realen, existentiellen Gefahr, der es zu begegnen gilt. Dies ist zweifellos vom Autor beabsichtigt. Im bereits erwähnten Gespräch mit Joseph Beuys vertritt Ende mit Nachdruck die Meinung, es sei

      gerade die Aufgabe des Schriftstellers, des Malers, des Bildhauers, daß er Vorstellungen entwirft, in denen sich viele Menschen wiedererkennen und sagen können: Ja, genau das […] betrifft uns! Und zwar nicht abstrakt, nicht philosophisch, nicht begrifflich, sondern in ganz konkreten sinnlichen Bildern wird es deutlich. Und dann plötzlich wird eine solche Lebensgebärde zum Habitus aller, sie können sie übernehmen, und sie können sich auch so verhalten, weil sie sagen: So wollen wir sein.109

      Inwieweit sich diese Vermittlung einer Lebensgebärde eigentlich von jenem »Verpacken einer Botschaft« unterscheidet, das Ende so vehement ablehnte, wird in dieser Arbeit noch zu erörtern sein.110 Fest steht, daß hier ein Begriff von Kunst zugrunde liegt, der über das rein Ästhetische weit hinausgeht, ein Begriff, der seinem Wesen nach ethisch ist. Jene Problematik des Umgehens mit Phantasie- und damit Weltverlust, die sich in der Unendlichen Geschichte zeigt, betrifft indes nicht nur den Leser des Romans, sie betrifft auch – und sogar in erster Linie – den Schriftsteller Ende selbst, der sich vor die schwierige Aufgabe gestellt sieht, in einer sich zusehends funktionalisierenden Welt »Bilder gegen das Nichts«111 zu entwerfen.

      Was hier im Kontext der Unendlichen Geschichte angedeutet wurde, ließe sich mit ebensolcher, wenn nicht noch größerer Berechtigung auf Momo anwenden. Ganz ähnlich jenem blühenden Phantásien, das sich durch die zunehmende Funktionalisierung der »Menschenwelt« langsam, aber sicher in Nichts auflöst, ist die vitale Welt kindlicher Kreativität, in deren Zentrum Momo steht, durch die Agenten der »Zeit-Spar-Kasse« bedroht (die ja in Wahrheit ebenfalls »nichts« sind, wie wir von Meister Hora erfahren (MO 155)). Mehr noch: Ob im Gauklermärchen, wo der bunte Mikrokosmos eines Zirkus Gefahr läuft, ökonomischen Interessen und Zwängen geopfert zu werden (wovor das eigentliche Märchen, von einem der Gaukler erzählt, in poetischen Bildern warnt); ob in der Oper Der Rattenfänger, wo der dämonische Spielmann der Sage zum Symbol für die kathartische Kraft der Kunst wird, bekämpft und verfolgt von den geld- und machtgierigen Einwohner Hamelns, deren Kinder er letztlich zu retten vermag – überall finden wir Endes künstlerisches Credo widergespiegelt, wie er es am prägnantesten in einem Gedicht unter dem Titel »Das Umstellen der Lichter« formuliert hat:

      Das, was dich hindert Kunst zu machen,

      mache zum Thema deiner Kunst. (NG 137)

      Es ist also ein ethisches Ziel, das die reflexive Bewegung in Endes Werk verfolgt. Wenn wir davon ausgehen, daß Endes Grundfrage in etwa lautet: »Unter welchen Bedingungen ist Kunst möglich, unter welchen nicht?«, so bedeutet dies nicht weniger als eine Aufforderung an den Einzelnen, sich selbst und die Gesellschaft so zu gestalten, daß Kunst möglich ist. Wogegen es dabei anzukämpfen gilt, was es also für Ende vor allem und in erster Linie war, das uns »hindert Kunst zu machen«, läßt sich nach dem oben Gesagten schon relativ deutlich ausmachen. Der Autor selbst pflegte dieses »Hindernde« in zahlreichen Briefen und Gesprächen auf einen Begriff zu bringen, der philosophiehistorisch alles andere als unbekannt ist; so heißt es etwa in Phantasie/Politik/Kultur:

      Der Kapitalismus ist doch der eigentliche Krankheitsherd […]. In Zukunft kann es nur eine nicht-kapitalistische Gesellschaft geben – oder gar keine mehr!112

      Was Ende unter diesem Begriff versteht, worin er jene schier apokalyptische Bedrohung konkret erblickt – damit wird sich die vorliegende Arbeit noch zu beschäftigen haben. Wir müssen jedenfalls nicht erst die Figur der »Geldhexe« Tyrannja aus dem Wunschpunsch oder die bedrückende Erzählung von der »Wunderbaren Geldvermehrung« in Der Spiegel im Spiegel (30–44) heranziehen, um festzustellen, daß sich diese kapitalismuskritische Grundhaltung Endes massiv in seinen Werken niederschlägt. Auch die Bildlichkeit in Momo (man denke nur an die absurde Zinsrechnung des Agenten der »Zeit-Spar-Kasse«! (MO 67 f.)) läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht im geringsten, wenn etwa Roman Hocke über Momo meint:

      […] mit Momo schreibt Michael Ende ein Buch, mit dem er etwas bewirken und verändern, dem »Funktionalisierungswahn« entgegenwirken will. […] Momo ist kein absichtsloses Spiel der Kunst, wie Ende es eigentlich zu fordern pflegte.113


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