Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner
wäre nur dann der Fall, wenn wir absichtslos mit unethisch oder neutral gleichsetzten. Neutralität in der Bedeutung von Gleichgültigkeit gegenüber den großen Fragen seiner (und unserer) Zeit war dem Schriftsteller wie dem Menschen Ende, der in zahlreichen Gesprächen seine Grundsätze geradezu leidenschaftlich verfocht, freilich zeit seines Lebens fremd; absichtslos in dem Sinne, wie es Hocke hier impliziert, ist wohl kaum eines seiner Werke. Müssen wir also damit rechnen, daß uns Ende letztlich doch wieder jene Art von »Botschaften« aufzudrängen versucht, die er eigentlich so vehement ablehnte? Dem widerspricht, daß es sich bei seinen Werken eben nicht um bloße Illustrationen moralischer Lehr- oder philosophischer Grundsätze, sondern um in sich stimmige und für sich bestehende Kunst handelt, deren ethischer Gehalt gerade dadurch bedeutsam wird, daß er innerhalb des Werkes weitestgehend in den Hintergrund tritt. Es war niemand anderer als Tolkien, der dieses scheinbare Paradoxon auf den Punkt brachte:
Es gibt […] keinen geeigneteren Träger moralischer Belehrung als ein gutes Märchen (worunter ich eine wahrhaft tiefverwurzelte Geschichte verstehe, die um ihrer selbst willen erzählt wird und nicht als Mäntelchen für eine moralische Allegorie dient).114
Hier also sind wir doch noch an einen Punkt gelangt, an dem sich Ende durchaus mit Tolkien trifft.115 Dem ethischen Gehalt von Tolkiens Werken, denen die Reflexivität Endes fehlt, haftet freilich nichts Unverwechselbares an; er bleibt vergleichsweise allgemein. Tolkiens Schaffen stellt in erster Linie einen Triumph der imaginativen Vorstellungskraft dar; Ende hingegen thematisiert die Bedingungen der Möglichkeit von Imagination, ja von Kunst überhaupt, was ihn zu sehr konkreten ethischen Fragestellungen führt – Fragestellungen, die es im Zuge dieser Untersuchung auszuloten gilt.116
Was bedeutet dies nun mit Blick auf die Grundfragestellung dieser Arbeit? Wenn Endes philosophisches Denken tatsächlich begrifflich faßbar ist, so können wir davon ausgehen, daß es sich seinem Wesen nach als Kunsttheorie erweisen wird – freilich in jenem weiteren Sinne, in dem auch Bastian oder die Kinder um Momo Künstler sind. Die Frage, wie weit der Kunstbegriff Endes letztlich geht, würde in diesem Fall auch die Grenzen seiner Philosophie abstecken. Weiters steht zu erwarten, daß jener Begriff eine dezidiert ethische Komponente zumindest miteinschließt. Ob diese Thesen zutreffen, wird sich im Fortgang der Untersuchung erweisen.
4.Warum »Momo« und »Die unendliche Geschichte«?
Eine Frage bleibt im Rahmen dieses Abschnitts noch zu klären. Wenn es, wie oben angenommen, stets dieselben Grundthemen sind, die sich durch das künstlerische Schaffen Endes ziehen – warum konzentriert sich diese Untersuchung dann ausgerechnet auf Momo und Die unendliche Geschichte? Wodurch zeichnen sich diese Romane in bezug auf das (vermutete) Endesche Denken aus? Und könnte es nicht zielführender sein, die Untersuchung auf einen der beiden zu beschränken?
Eines der gewichtigsten Argumente gegen eine isolierte Betrachtung von Momo oder Die unendliche Geschichte findet sich in der Tatsache, daß ein Verbindungsstück zwischen ihnen existiert, welches die beiden zentralen Romane Endes auf eindrucksvolle Weise als Einheit erscheinen läßt. Die posthume Veröffentlichung dieses Missing Link, des Romanfragments Der Niemandsgarten (1998), kann als mittlere literarische Sensation bezeichnet werden – beginnt dieses doch als eindeutige Fortsetzung von Momo (die lediglich das Happy End des Märchenromans ignoriert, also von einem Sieg der Grauen Herren ausgeht), um dann unverkennbar in eine Urfassung der Unendlichen Geschichte überzugehen, der eigentlich nur eines fehlt – die Idee, die Ende in Genzano di Roma aus dem Zettelkasten zog.117 Roman Hocke, der als Herausgeber zeichnete, schreibt über das Fragment:
Wie der Leser mühelos feststellen wird, handelt es sich bei Der Niemandsgarten um eine Vorstufe zu Die unendliche Geschichte. Wir erkennen darin eine beeindruckende Verbindung zwischen der Welt Momos und der phantastischen Reise von Bastian Balthasar Bux. Während der Anfang von Der Niemandsgarten noch an die Welt der Momo erinnert – Norm heißt hier die Stadt, die von den Grauen Herren zu einem Muster an Effizienz umgestaltet wurde –, beginnt mit dem Eintritt in das »Niemandsland«, das niemand [sic] oder eben allen gehört, die Schilderung einer Phantasiewelt, in der der Leser rasch die wesentlichen Konturen des Phantásien aus der Unendlichen Geschichte erkennt. (NG 321)
Tatsächlich vollzieht sich der Übergang zwischen Momos und Bastians Welt nicht bloß durch jenen Eintritt des Mädchens Sophie ins »Niemandsland«, sondern läßt sich das ganze Romanfragment hindurch verfolgen – nicht zuletzt deshalb, weil Sophie selbst eine Art »Übergangsfigur« zwischen Momo und Bastian darstellt. Als unschuldiges Kind in einer zutiefst feindlichen Welt gleicht sie Momo, deren mystische Aura ihr allerdings fehlt. Dies wiederum läßt sie plastischer, »menschlicher« wirken als jene, weniger plastisch freilich als Bastian, dessen negative Charaktereigenschaften sie nicht teilt. In einem jedoch gleicht sie Bastian völlig: Sie ist hochbegabt mit jener Fähigkeit des Träumens und Geschichtenerfindens, die Momo, wie ausdrücklich festgehalten wird (MO 25), keineswegs in besonderem Maße besitzt.
Außer Zweifel steht, daß es sich bei Sophies Heimatstadt Norm um den vollkommen trostlosen Endzustand jener namenlosen Großstadt handelt, an deren Rand das Amphitheater Momos lag; ebenso, daß die Unterschiede zwischen Niemandsland und Phantásien marginal und weitgehend bedeutungslos sind. Da die Hauptfigur des Romanfragments weiblich ist, finden wir anstelle der Kindlichen Kaiserin einen »kleinen Zaren«, in den sich Sophie ebenso auf kindliche Weise verliebt wie Bastian in Mondenkind; der Elfenbeinturm ist hier noch ein »Schloß aus buntem Glas« (NG 215); und dergleichen mehr. Im Wesentlichen aber betritt Bastian Balthasar Bux mit Phantásien eine bereits fertige Welt, die von Ende in bewußtem Gegensatz zur von den Grauen Herren verwüsteten »Menschenwelt« gestaltet wurde. Selbst die fragile und komplexe Wechselwirkung der beiden Welten, die für die Unendliche Geschichte so bedeutsam sein wird, ist hier schon angedeutet: Die von den Grauen Herren mit der Krankheit der »tödliche[n] Langeweile« (MO 244) infizierten Menschen wissen nichts mehr vom Niemandsland; dessen kleiner Zar aber, auf sie angewiesen wie die Kindliche Kaiserin in ihrer Krankheit, schläft und kann nicht mehr erwachen.
Der Niemandsgarten lehrt uns also, daß Momo und Die unendliche Geschichte in Endes Schaffensprozess ursprünglich eine thematische Einheit bildeten. Dennoch fällt auf, daß die beiden Romane einander durchaus unähnlich sind. Worin ist diese Verschiedenheit begründet? Hocke/Neumahr118 nennen Momo ein sozialkritisch-utopisches, Die unendliche Geschichte hingegen ein psychologisches Buch. Dies könnte man so verstehen, daß Die unendliche Geschichte zu zeigen versucht, wie jene gesellschaftliche Problematik, welche in Momo das Individuum bedrängt und bedroht, im Individuum zu bewältigen ist. Es wäre – so dies zutrifft – kein Zufall, daß Ende im Verbindungsstück Der Niemandsgarten den märchenhaft-naiven Schluß von Momo revidiert. Anders als Momo hat das Mädchen Sophie nicht mehr die Möglichkeit, durch simple Kunstgriffe wie das Schließen und Öffnen einer Tresortür die Welt vor den Grauen Herren zu retten; wie Bastian muß sie den Weg durch ihr ganz persönliches Niemandsland gehen – ihre »Innenwelt«119, das Reich ihrer Phantasie.
Es wurde oben die These geäußert, die Grundfrage Endes sei jene nach den Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Kunst – und zwar im weitesten Sinne des Wortes. Betrachten wir Momo und Die unendliche Geschichte unter diesem Aspekt, so zeigt sich uns eine deutliche thematische Zweiteilung. Momo ist insofern sozialkritisch zu nennen, als es jene Strukturen und Mechanismen zum Thema hat, welche die menschliche Kreativität behindern, ja erstikken – und damit, wenn wir Ende folgen, das Menschsein selbst. Für ihn nämlich war, wie sich in seinem ganzen Werk zeigt,
das Schöpferische einfach schlechthin das Menschliche. Es ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich daß er schöpferisch sein kann.120
Genau dieses »Schöpferische« aber, das in Momo eigentlich nur gestreift wird,121