Wer die Leidenshaft flieht. Barbara Cartland
sich zu lassen. Aber nun befand sie sich in Gefahr. Früher hatte die Comtesse mit der ihr eigenen Nonchalance alle Angelegenheiten geregelt, und all ihre Anweisungen wurden strikt befolgt. Fleur hatte sich oft amüsiert, daß sogar der Bürgermeister auf den Befehl der Comtesse zum Château gekommen war. So sehr sich Frankreich auch mit der Demokratie brüstete, in den kleinen, abgeschiedenen Dörfern hatten die Aristokraten noch immer Gewicht und wurden wie Herren behandelt. Als die Comtesse nach dem Bürgermeister verlangte, betrat der kleine Mann, ein Kaufmann von Beruf, eine Stunde später zögernd den Salon, in dem Madame auf ihn wartete. Er schwitzte ein wenig, bemerkte Fleur, und drehte seinen Hut in den Händen, während er zuhörte, was Madame zu sagen hatte.
»Monsieur le Maire, wieder einmal sind Barbaren in unser geliebtes Land eingefallen. Wieder einmal schreit das Blut unserer Landsleute nach Rache. Stimmen Sie mir zu, Monsieur le Maire?«
»Ja, Madame - aber Madame werden verzeihen, wenn ich vorschlage, daß Sie von diesen Dingen nicht ganz so laut sprechen.«
Die Comtesse hatte gelächelt.
»Ich bin eine alte Frau, Monsieur le Maire, und ich kann nur einmal sterben. Mein Sohn hat sein Leben bereits für Frankreich gegeben - und ich wäre stolz, meines für dieselbe Sache zu opfern.«
»Madame, Sie sind sehr tapfer.«
Trotzdem hatte Fleur erraten, daß er sich um sich selbst und um seine große fette Frau, die er ständig betrog, und seine sechs Kinder, von denen der älteste Sohn als Gefangener in Deutschland war, Sorgen machte.
»Wir verstehen einander«, fuhr die Comtesse fort. »Es ist nicht nötig, daß ich mehr sage. Aber, Monsieur, über meiner Sorge bezüglich der Politik habe ich ganz vergessen, Ihnen meine Schwiegertochter Fleur vorzustellen - Monsieur le Maire - Madame Lucien de Sardou.«
Für einen kurzen Augenblick sah der kleine Mann überrascht aus, dann begriff er.
»Enchanté, Madame, meinen Glückwunsch«, murmelte er und wartete ab.
»Meiner Schwiegertochter«, fuhr die Comtesse fort, »widerfuhr ein verhängnisvolles Mißgeschick, Monsieur. Ein kleines Feuer brach gestern abend hier aus, nichts Ernstes, wir konnten es selbst löschen, aber unglücklicherweise sind Madames Papiere verbrannt, ihre carte d'identité.«
»Ich verstehe, Madame - die Unterlagen lassen sich ersetzen.«
»Das ist schön, Monsieur le Maire. Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen.«
Die Comtesse streckte die Hand aus, damit der Bürgermeister einen Handkuß darauf hauchen konnte, und damit war die Unterredung zu Ende. Am folgenden Morgen brachte sein zweitältester Sohn, Fabian, einen Personalausweis auf den Namen Fleur de Sardou, das Ausstellungsdatum war verschmiert und nicht mehr zu entziffern.
Fleur war damals sehr erleichtert, aber jetzt erkannte sie ganz deutlich die Gefahr, in der sie sich befand. Am meisten bedauerte sie, daß sie der Aufforderung der Comtesse gefolgt war und ihren britischen Paß verbrannt hatte.
»Diese Papiere bereiten Ihnen nur Schwierigkeiten«, hatte Madame beharrt, und trotz Fleurs Protest hatten die Flammen gierig die blaue Canvashülle verschlungen, dann die Seite, auf der sich die Unterschrift des Außenministers befand.
Aber die Comtesse hatte recht behalten. Am nächsten Tag kamen die Deutschen. Marie, einen besorgten Ausdruck auf dem sonst so ruhigen Gesicht, holte die Comtesse und Fleur aus dem Garten.
»Madame! Nom de Dieu! Verzeihen Sie, Madame, aber da sind Deutsche an der Tür.«
Sie keuchte, die gefältelte Kappe saß schief auf ihrem grauen Haar.
»Deutsche?«
»Ja, Madame. Sie wünschen Sie zu sprechen.«
»Danke, Marie. Bleib ganz ruhig.«
»Oui, Madame.«
Die Deutschen durchsuchten das Haus. Sie suchten in jeder Nische, in jedem Winkel nach französischen Soldaten. Sie schleppten Schweine und Hühner fort, auch einen Schinken, der in der Vorratskammer gehangen hatte. Sie saugten das Benzin aus dem Wagen in der Garage ab und beschlossen, den Wagen selbst später zu holen.
Ein paar Tage später kamen sie wieder und holten Louis, den Mann, der im Garten arbeitete.
Fleur stand auf und ging zum Fenster. Der Garten lag ruhig und friedlich vor ihr.
Es fiel ihr schwer zu glauben, daß auf dem ganzen Kontinent Krieg und Feindschaft herrschten und daß Männer erschossen und gefangengenommen wurden.
O Gott, ich habe Angst! dachte Fleur.
Aber dann wußte sie, daß sie auf irgendeine Art und Weise alle Schwierigkeiten überwinden konnte.
3
Irgendetwas ging hier vor... irgendetwas ängstigte sie. Fleur bewegte sich, versuchte zu schreien. Im selben Augenblick wurde eine Hand auf ihren Mund gepreßt. Einen Moment lang empfand sie nichts als schieres Entsetzen ... dann hörte sie Maries Stimme.
»Alles in Ordnung, Mademoiselle - ich bin es, Marie. Haben Sie keine Angst.«
»Marie!«
Fleur drehte sich um. Sie konnte noch immer fühlen, daß ihr Herz zu schnell schlug und ihr Atem keuchend und stoßweise über ihre Lippen kam.
»Pst! Wir müssen ganz leise sein. Ich habe Neuigkeiten für Sie.«
Fleur setzte sich im Bett auf. Eine brennende Kerze stand auf dem Nachttisch, aber sie erhellte mit ihrem Flackern nur einen kleinen Teil des Zimmers; der Rest lag düster und bedrohlich im Schatten.
»Was ist denn los?«
Marie kam so nahe, daß sich ihre Gesichter fast berührten.
»Fabian hat die Information gebracht. Sie müssen noch heute von hier fort, Mademoiselle. Sie sind in Gefahr.«
»Was hat er gesagt?«
Maries Stimme wurde noch leiser, so daß Fleur die Ohren spitzen mußte, um zu hören, was sie sagte.
»Es ist wegen Monsieur Pierre. Er ist nicht nur ins Dorf gegangen, um mit dem Pfarrer und dem Arzt zu sprechen, sondern er hat auch telefoniert - mit Paris, Ihretwegen, Mademoiselle!«
Marie machte eine dramatische Pause, wie jemand, der am Höhepunkt seiner Geschichte angelangt ist.
»Über meine Heirat!«
Marie nickte.
»Ja. Er hat mit einem Freund telefoniert und ihn aufgefordert, gleich morgen früh zur Madeleine zu gehen und Erkundigungen einzuziehen, ob Sie und Monsieur Lucien dort getraut worden sind.
Fabian hat erzählt, daß er seinem Freund befohlen hat, sich gleich morgen früh zu erkundigen. Mademoiselle, Sie müssen fort!«
»Wenn er keine Unterlagen findet«, überlegte Fleur laut, »was dann?«
»Dann wird Monsieur Pierre nicht lockerlassen und alles herausfinden. Ach, Mademoiselle, ich habe gestern abend zugehört, als sie sich beim Essen mit ihm unterhalten haben. Sie sprechen wunderbar Französisch,- aber es ist nicht gut genug, um einen Franzosen zu täuschen. Einen Deutschen, ja - was wissen die schon von unserer Sprache? Aber Monsieur Pierre ... Ich konnte sehen, wie er Sie beobachtet hat, die Art, wie er zuhörte. Mademoiselle, er ist mißtrauisch.«
»Aber würde er es wagen, mich zu verraten - nachdem seine Tante mich all die Monate hindurch beschützt hat? Bestimmt...«
»Monsieur Pierre hat auch unser Land verraten«, unterbrach Marie sie. »Er hat sich mit den Deutschen verbündet, er wäre nur zu froh, ihnen einen Gefallen tun zu können. Glauben Sie etwa, daß der Familienstolz ihm wichtiger ist als sein persönlicher Vorteil? O nein, Mademoiselle, ein Mann, der Frankreich in den Rücken fällt, würde gewiß nicht zögern, die Ehre seiner Familie aufs Spiel zu setzen. Sie befinden sich in Gefahr, ma petite. Sie müssen fort.«
»Aber wohin? Wohin kann