Peter Lebegerns große Reise. Max Geißler

Peter Lebegerns große Reise - Max Geißler


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Geschäft hatte die Bügelfalte seiner weissen Hose gelitten. Sie sah einer Flagge mit den sächsischen Landesfarben ähnlich. Und seine neuen gelben Stiefel waren von vorwitzigen Felszacken feindlich zerschürft.

      Nun, es war mit Peters Geist auf dieser Bergfahrt am Ende doch wohl nicht alles im richtigen Gang. Oder es fielen die eisernen Reifen von ihm ab, in die er in der letzten Vergangenheit geschmiedet worden war … Denn auf einer Flucht war er eigentlich nicht. Dazu gehört ein Vorsatz. Dazu gehört ein schwunghafter Wille. Dazu gehört — in Peter Lebegerns Lage — eine unerhörte Tollkühnheit. Von all diesen Dingen war nichts in ihm. Sondern: er verfiel in ein planloses Fahren zu Berge. Voll kindhafter Unbewusstheit. Je einsamer es um ihn wurde, desto ferner wich die Vereinsamung von ihm. Ein sorgloser Schwimmer trieb er dahin zu einer seligen Insel.

      Darüber wechselte das Leuchten des Tages. Er zog aus klingendem Gold in königlichen Scharlach und weiter in die Gefilde der purpurnen Rosen. Er sah hinter gefrorenen Gipfeln die grossen Brände der Sonne, die aus den Spalten der Erde loderten und die ehernen Festen des Himmels schmolzen. Er klomm empor. Und hinter ihm her stieg das veilchenfarbene Träumen der Nacht.

      Um diese Zeit gelangte er an eine Hütte aus Stämmen. — Er hatte deren am Nachmittag andere gesehen, da und dort auf eine Alm oder an einen Waldrand getupft. Die letzte war die dürftigste. Sie reichte ihm mit dem First ihres bemoosten Daches bis an die Hüften. Nach Süden war ein Loch. Da musste er hineinkriechen wie ein Bär — hinein und hinab, vier ausgetretene Erdstufen; denn die Hütte war aus Holz nur halbmannshoch über dem Boden errichtet. Innen war der Grund im Geviert wiederum halbmannshoch ausgeschachtet. Peter Lebegern konnte darin stehen. Es war auch eine Luke da, verschliessbar mit einem gefütterten Rahmen. Ein Lager aus Moos. Und es war eine Feuerstätte vorhanden mit einem eisernen Gestell und einer Stielpfanne. Und getrocknetes Holz. Ein Gaisbub, der bereits zutal gefahren, hauste hier wohl des Sommers. Es lag auch die Losung von Ziegen oder Gemsen um dies Haus. Danach kroch er wieder heraus …

      ihm war zu Sinn, wie einst ihm war

      in wonnigen Jugendschmergen,

      da er noch trug sein langes Haar

      und Sehnsucht im heissen Herzen …

      Die bunten Blumen, sie nickten scheu,

      die Vögel lockten und tiefen,

      und über ihnen stieg ein Weih

      in flutende Himmelstiefen.

      Auf dem Stein vor der Türe der Hütte fröstelte gleich der violette Abend des herbstlichen Hochgebirgs gegen ihn an. Da liess er sich abermals nieder auf die Hände und kroch unter das Dach.

      Er hatte nun den wahnwitzigen Gedanken gefasst, seinen Urlaub an dieser Stätte zu verbringen, ganz und gar, und sich nicht über Rufweite von der gastlichungastlichen Stelle zu entfernen.

      Diese Eingebung hielt er für so gescheit, dass er sich augenblicklich einzurichten begann. Er zündete Feuer auf der Herdstatt an und schnitt die Schwämme in das Pfännlein. Während sie prutzelten, wühlte er das Mooslager zu einer lockeren Streu auf. Dann ass er das Pilzgericht und sank in einen bergetiefen Schlaf.

      Es ist nicht leicht, sich allseitig in die Lage zu versetzen, in der sich Peter Lebegern befand, als er erwachte.

      Äusserlich lag er auf einem Moosbett, das herzhaft mürfelte, hatte seine grün-weisse Hose zu zwei harmonikaähnlichen Beinschläuchen verlegen und das neue dunkelblaue Sacko zu einem unwürdigen Knitterding. „Ich hätte den Rock auch ausziehen können!“ dachte er. Da stand er schon draussen im hohen Lichte des Tages. Er hatte einen traumlosen Schlummer gehabt von einwandfreier Köstlichkeit — sehr krank musste der Mensch sein, der über solch einem Schlafe nicht genesen wäre.

      So war denn auch Peter Lebegern wohlauf. Es wäre also an der Zeit gewesen, einen Vorsatz zu fassen, der ihn mit stolzem Schwunge hinabwarf ins Land der Vernunft. Etwa so: ‚Nun, Peter Lebegern, du hast gestern eine sehr abenteuerliche Bergfahrt unternommen und dankst es einem gütigen Schicksal, dass du noch am Leben bist. Augenblicklich hast du peinliche Ähnlichkeit mit einem Pennbruder. Betrachte dir also noch drei Stunden lang die machtvoll getürmte Herrlichkeit dieses Hochgebirges. Dann steige hinab ins Land, da die Menschen wohnen, und schlüpfe hinter dem gütigen Vorhange der Nacht in dein Zimmer und in die Kultur!‘

      Äusserlich hatte er sich in den letzten vierundzwanzig Stunden also sehr zu seinem Nachteile verändert. Von der inneren Verfassung lässt sich ein zutreffendes Abbild viel schwerer entwerfen. Peter Lebegern dachte nämlich gar nicht daran, gegen Mittag wieder zutal zu fahren. Sondern: über Nacht schien der wahnwitzige Vorsatz von gestern erst recht unumstösslich in ihm geworden zu sein. Es war keine Stimme da, die ihm ängstlich warnend zurief: „Mensch, erkennst du denn nicht, dass du dich an dieser Stätte langsam in den Tod hungerst? Du hast die Brieftasche voll Geld. In schmucken Gasthäusern warten fürstliche Mahlzeiten auf dich!“ … Die innere Stimme hätte nach dem Muster des Pius Heidvogel vier Spalten der schönsten Lockmittel aufzählen können. Aber — die innere Stimme war nicht da.

      So war er entweder von allen guten Geistern verlassen, oder: hatte sich sein Auge über der Hochlandfahrt dermassen geschärft, dass er sein Dasein während der zwei letztvergangenen Jahre als Ungeheuerlichkeit erkannte? Hatte er von dieser Gipfelhöhe aus ermessen gelernt, wie weltenweit er abgeirrt war von den Wegen, auf denen er dereinst gewandert: ein Sonnenpilger, ein Königsträumer, ein Dichter, ein Liebling Gottes?

      Aber: weder das Verlassensein von allen guten Geistern schuf ihm Beschwernis, noch waren seine Augen in der klingenden Bergluft übersichtig geworden. Sondern: er war sich der Ausgelassenheit seines Vorhabens gänzlich unbewusst. Er dachte nicht an einen Zweck und er dachte nicht an die Gefahren seiner Bergsiedelei. Es war das beseligende Gesühl der Erlösung, dem er sich ohne Sinnen und Sorgen hingab. Es war das Glück, an dem andren Ufer der blauen Wässer zu sitzen, über die ihn seine Sehnsucht durch Jahre getragen. Es war die köstliche Erfüllung in ihm, nach der er lange, lange suchen gegangen war mit der Seele.

      Von den notwendigen Gerätschaften für eine derartige Einsiedelei besass Peter Lebegern nur zwei: ein gutgefülltes Benzinfeuerzeug und ein Taschenmesser.

      Damit getraute er sich vier Wochen den Kampf ums Dasein sieghaft zu bestehen. Er ging auf den Vogelfang, er suchte Schwämme und Beeren. Er stieg ein Stück weiter hinab auf eine Alm, auf der er noch einen Gaisbuben mit seiner Herde gewahrte, und kaufte sich Milch, so viel er mochte. Er wusch sich am Quell, der rückwärts der Hütte aus dem Gestein rann, und liess sich von Sonne und Bergwind trocknen. Ja, er brachte, genau genommen, den ganzen Tag damit zu, für seines Leibes Nahrung und Notdurft zu sorgen. Dabei geriet er an seinem Gewand in eine schier unsagbare Verfassung. Aber es fiel ihm gar nicht ein, an Heimkehr zu denken. Nicht aus Hartnäckigkeit. Nicht aus Lust am Abenteuer. Sondern: weil sein Glück über alles Mass hinausging.

      Auf der Erde, auf der die Menschen wohnten, hatte man ihn inzwischen natürlich vermisst. Zwei Wochen nach seinem heimlichen Weggange von Partenkirchen stand er als verschollen in den Zeitungen. Und weil er Redakteur gewesen war, brachten alle Blätter den Fall zur Kenntnis ihrer Leser. Die ‚Neuesten Nachrichten‘, von Herrn Pius Heidvogel geleitet, enthielten einen Nachruf, der besagte: das geistige Deutschland habe einen schwer ersetzbaren Verlust erlitten. Ein Künstler und Dichter, ein Auserwählter sei mit Peter Lebegern dahingegangen.

      Dieser Peter Lebegern sass indessen in seiner Bergsiedelei und ahnte nicht, dass sie drunten auf Erden Totenlieder um ihn sangen und ihn zum Dichter krönten.

      Aufrichtige Trauer kehrte darob ein im Hause des Doktors Ferdinand Wurzler. Man sprach dort abendelang von Peter Lebegern. Man sprach mit jener sanften Dämpfung der Stimme, die die Andacht gebiert. Man sprach von ihm mit der Wärme innigster Zuneigung. „Er hat heimfinden wollen,“ sagte der kleine Doktor bewegt — „nun, er hat wohl auch heimgefunden. Wege, die er suchte, sind nicht auf der Erde. Und ein Reich, in dem er hätte gebieten können, hätte er sich erst schaffen müssen … Du bist in Kümmernis aus dem Leben geschieden, Peter Lebegern, und wärest so gern in Heiterkeit dahingegangen … Schlaf du in Frieden!“

      In dieser Stunde — es war eine herniederdämmernde Regennacht im Oktober —


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