Die Lobensteiner reisen nach Böhmen: Zwölf Novellen und Geschichten. Alfred Doblin
Armand Mercier geht seinen Freund Louis suchen.
Weiche schmelzende Schultern, Louis Poinsignon, in blaue Kittel gehüllter dünner Rumpf, schiebende Beine in hohen schwarzen Stiefeln, Louis, den blauen Schal um den Hals.
Daß er tot ist, wer glaubt das? Seine Mutter in Vareau heult, steckt sich die Daumen in die Ohren, kaut Teeblätter. Seine Mutter heult! Hähä, wollen sehen. Noch hat man einen Kopf und spuckt auf einen Wisch von Depesche.
Armand prustet neun Tage um sich, hat eine blasse Nase, merkt nicht, daß Frost da ist; sein Schacht verdreckt, Wasser rennt armdick über den Boden, Pumpen ziehen nicht.
Louis Poinsignon mit dem strohblonden glatten Haar steht nicht im Maschinenhaus, kommt nicht zum Tricktrackspiel. Gegen die Preußen gekrabbelt mit den andern; und ich auf eine Grube aufpassen. Die Ameise, das Ameischen, Louis Poinsignon, das fleißige saubere Ameischen, das sie zertreten haben, und ich auf die Grube aufpassen. Das alte Weib heult: was geht’s mich an! Die Frau hat keinen Begriff. Entweder ist er tot und dann, — Armand kaut an seiner Zunge und ist besinnungslos, — oder eben: er ist nicht tot. Oder er ist eben nicht tot. Er ist eben nicht tot. Ist nicht tot. Louis ist nicht tot.
Am zehnten Tage sagt er sich: man ist kein Sklave; wenn Louis Poinsignon im Hügelland von Roye gefallen ist, dann ist es um was geschehen. Pfeifen, Trompeten, Trommeln, dann sollen sie mal trommeln, bumberum bumm bumm, titiliti. Mütze in die Ecke, Rock in die Ecke, ein Bad genommen. Nach Hause. Sieben Uhr abends. Armands Augen lesen die Schilder des Städtchens ab: Féréol Gide, Drogerie; Witwe Walter, Kostüme; Camille Ticeuze, Pfandleihe. Nun ade, du mein lieb Heimatland.
Elf Uhr; noch einmal in der Kammer rasiert. „Adieu, liebe Frau, ich geh’ ins Wirtshaus, Muscheln essen.“
„Pssst, Amélie schläft.“
„Nacht, lütte Amélie.“
Bergmannskappe über die Ohren, Finsternis in den gewundenen Straßen, Novembersturm. Verkrochen in den steifen schwarzen Ledermantel, Blendlaterne ins dritte Knopfloch gehakt. An den roten Wirtshausfenstern geduckt vorbei. Witwe Walter, Kostüme; Féréol Gide, Drogerie; Metzgerei vom dicken Camille.
Nasser Gischt in der Luft, freie Äcker. Preußen, Bayern, wenn ihr Louis habt, gebt ihr ihn her. Weißer zappelnder Laternenkreis immer zwei Schritt vor den Stiefelspitzen. Marschieren. Der Lehm saugt an den Stiefeln. Marschieren.
Zunächst Dizennes; geschlossene Fensterläden. Dann der Besitz von Herrn Uzaire; durch den gesperrten Wildpark; alles tot; die Vögel runtergeholt; kein Wächter; ah, Kaninchen. Chaussee nach Craor. Ein Leiterwagen. „Nehmt ihr mich mit nach Roye?“ „Wenn du blechst, bis Craor.“ „Und nach Roye?“ „Geht nicht weiter.“
Auf Mehlsäcken bis in den Vormittag hinein, schnarchend, kauernd, hochfahrend. Einmal kollert er rückwärts, faßt einen Sackträger beim bloßen Hals, rollt ihn seitlich über die Bretter; der wollte ihm was wegnehmen, ihn berauben. Mißverständnis im Halbschlaf, aber das Glas der Blendlaterne vorn ist kaputt, das Blech vom Gehäuse verbogen, das Mantelleder qualmt, stinkt.
Kalte graue Helligkeit. Nackte Felder, endlose Felder. Es bullert. Es stößt gegen den Horizont. Deutlicher, abgegrenzt, ein langgezogenes „Dumm“; immer Orgelgrundbaß nachschwingend.
Gefahrenzone.
Radfahrersoldaten rechts nach vorn vorbei, links nach vorn vorbei; Konservenbüchsen in den Tornistern klappern. Patrouillen latschen zu zwei, zu fünf, Knarre auf dem Buckel, kalte Tabakspfeifen zwischen den Zähnen; blinzeln gegen den Himmel; die Stiefel unten zerquarken den Lehm. Linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Alles Wurscht“, linker Stiefel: „Alles Wurscht“, rechter Stiefel. Pässe, Pässe. Man kommt nicht durch. Runter vom Wagen. Dicke Menschenhaufen aus dem Dorf. Alle rückwärts nach Bagolles, nach Petit-Bagolles, nach Bordigaux. Bettsäcke, Kinderwagen, Handkarren, Vogelbauer. Armands Heimat wird morgen Großstadt, der Heurige, die Schnecken werden nicht reichen. Alle rückwärts.
Dahinten brennt’s doch nicht! Dahinten brennt’s. Die Preußen schießen.
„Wo geht’s nach Crataires?“
„Verrückt. Nicht durchzukommen. Die Preußen schießen.“
„Wo geht’s nach Crataires?“
„Was willst du in Crataires? Die Großmutter abholen? Die wärmt sich die Beine da. Guck hin.“
„Herr Wachtmeister, ich heiße Armand Mercier, ich muß durch. Ich habe Verwandte in Crataires, eine Frau, meine Schwester, mit zwei Kindern, zwei kleinen Kindern; das eine acht Monat. Der Mann steht in Toulon. Man kann die Frau nicht umkommen lassen.“
„Wie lange wollen Sie noch reden.“
„Die Frau ist hilflos. Ich bin aus diesem Kreis, Mercier heiße ich, man muß mich durchlassen. Ich kann es nicht auf mich nehmen.“
„Wie lange wollen Sie noch reden. Etappenwache drüben links, holen Sie einen Paß.“
„Es eilt, sehen Sie ja, Herr Wachtmeister, um Marias willen. Bester Herr. Der Mann steht bei der Hafenkommandantur, Vizefeldwebel, ein sehr zuverlässiger Mann, Sie können sich denken. Ich werde es Ihnen nicht vergessen. Ich wohne in der Straße, wenn Sie über Dizennes kommen, gleich links die zweite Querstraße.“
„Hollah, hol-lah! Die Herrschaften da! Wo wollen die Herrschaften hin? Sie in dem Auto! Haben Sie Paß! Kommen Sie runter, wenn Sie nicht verstehen. — Drüben links, Etappenwache. Ich sage doch ‚links‘. — Wie lange wollen Sie noch reden.“
Soldaten kommen durch. Eine Uniform stehlen. Wo liegen Verwundete? Wo ein Schlachtfeld? Armand Mercier stellt sich in eine Nische neben den Paßkontrolleur, studiert Menschen. Braucht Größe 1,80. Sachte trabt ein Korbwägelchen an, herum rutscht es um den Zaun, auch zurück nach Dizennes.
Zwei Soldaten drauf, stämmige Burschen, einer mit rotem Bändchen, aber Kopf verbunden. „Dumm! Dumm!“ Bullert gewaltig, man geht, fährt, läuft schneller.
„Guten Morgen, Kamerad.“ Sie schreien „runter“, der mit dem Kopfverband will mit den Hacken gegen Merciers anklammernde Finger; schon kniet Mercier auf der scharfen Bodenkante des Wägelchens, Seitenlatte angepackt, das Pferd rast vorwärts, lang fegt der schwarze Ledermantel durch den Straßenmist. Mercier keucht: „Nach Roye; ihr nehmt mich doch mit. Ich zahle.“ Mercier ist verbissen; er brabbelt den beiden stier ins Gesicht, während er sich hochhangelt: „Meine Schwester hat zwei Kinder, der Mann steht in Belfort, Vizefeldwebel, ein zuverlässiger Mann.“
„Wir fahren ja nach Dizennes, rückwärts fahren wir.“
„Ich meine Dizennes. Er hat mir ans Herz gelegt, für seine Kinder zu sorgen.“
Vorn flüstern die beiden. Armand hockt hinter ihrem Rücken unter dem runden Dach, schielt über ihre Schultern, prüft ihre Uniformen. Sie flüstern schärfer. Als sie kurz vor Dizennes langsamer fahren, übernimmt der gesunde schlankere die Zügel, der mit dem Bändchen stemmt sich plötzlich mit seinem ganzen Katzenbuckel gegen den hochgestülpten Pferdetrog, ruckt nach hinten herumschnellend die Beine gegen Armands Beine, wie ein Hampelmann. Rutscht dabei vom Trog ab, gibt sich heftige Stöße gegen Kopf und linke Schulter an zwei Kistchen mit Liebesgaben, weil Armand inzwischen seine Füße über den Knöcheln zu fassen gekriegt hat und er nicht loskommt. Der Schlanke haut das Pferd. Als sie sitzen und Armand sich die Hände an den Kistendeckeln abgewischt hat, verlangt er von dem Schlanken, der kutschiert, Uniform und Urlaubspaß, für fünfzig Frank in Gold, leihweise. Gelächter. Der mit der Kopfwunde will kutschieren; hat vor, aus Wut, sie alle drei in Dreck zu setzen. Vorher gelingt es Armand, nachdem er lange mit der Zunge geschnalzt und ein verliebtes Schmunzeln hinter mehreren spazierenden Mädchen aufgesteckt hat, den Schlanken, der rauflustig ist, hinter sich herzulocken auf die Chaussee, einer kleinen Bäuerin nach, die auf dem Kopf mit dem Strohkranz einen hohen Korb balanciert. Statt aber das Mädchen im Birkengehölz hinzulegen, wird der Soldat dicht hinter