Das Jahr, als ich anfing, Dudelsack zu spielen. Tanja Köhler

Das Jahr, als ich anfing, Dudelsack zu spielen - Tanja Köhler


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Frage, die ich dem Publikum bei meinen Vorträgen stelle, lautet: »Wenn man einen Zollstock öffnet und insgesamt vier Elemente vor sich liegen hat, welche Zentimeterzahl steht dann da?« Wenn ich diese Frage zum ersten Mal stelle, sehe ich in viele irritierte Gesichter. Was soll diese Frage? Was hat sie mit dem heutigen Thema »Veränderungen« zu tun? Ich stelle die Frage dann ein zweites Mal. Und jetzt sehe ich, wie sich die Menschen über das innere Auge einen Zollstock vorstellen und Element für Element aufklappen. Oft mit den entsprechenden Handbewegungen. Klapp – klapp – klapp. Und dann kommen die ersten Zurufe. 60 Zentimeter! 100 Zentimeter! 80 Zentimeter! Und irgendwann ist sie dabei. Die richtige Antwort. Hätten Sie es gewusst? Sie lautet 82.

      Da ist sie wieder, die Zahl: 82. Eine denkwürdige Zahl, wie ich finde. Lassen Sie uns dazu eine kurze Übung machen. Legen Sie für einen Moment dieses Buch zur Seite und holen Sie sich bitte einen Zollstock. Wenn Sie gerade unterwegs sind und keinen zur Hand haben, holen Sie diese Übung einfach später nach.

      Legen Sie nun den Meterstab vor sich hin und klappen Sie ihn bitte so auf, dass vier Elemente vor Ihnen liegen. Im linken Blickfeld die null – im rechten die 82 Zentimeter. Sie entsprechen 82 Lebensjahren. Wie gesagt: ein statistischer Mittelwert.

      Legen Sie nun Ihren linken Zeigefinger auf die Zahl, die Ihrem jetzigen Alter entspricht. Nehmen Sie sich Zeit für einen Blick zurück. Wie viel Zeit ist schon vergangen? Was alles ist in Ihrem Leben schon passiert? Von wann bis wann gingen Sie in die Schule? Was waren besonders schöne Momente und wann waren diese auf der Zeitachse? Und wie alt waren Sie bei besonders traurigen Anlässen?

      Und nun der Blick nach vorne, in die Zukunft: Wie viel liegt noch vor Ihnen? Was wird noch geschehen? Was soll alles noch geschehen? Welche Dinge wollen Sie während Ihrer aktiven Berufszeit anpacken, welche haben Zeit bis zur Rente?

      Apropos Rente: Lassen Sie bitte den linken Zeigefinger auf Ihrer Alterszahl liegen und legen Sie Ihren rechten Zeigefinger auf die Zahl, bei welcher Sie in den Ruhestand gehen wollen beziehungsweise sollen. Ich wiederhole jetzt einfach meine Frage von eben: Welche Dinge wollen Sie noch während Ihrer aktiven Berufszeit anpacken? Reicht die Zeit? Oder müssen Sie bald loslegen, wenn’s bis zur Rente noch klappen soll?

      Wenn heute mein letzter Tag wäre, würde ich dann noch Dudelsack lernen wollen?

      82 beziehungsweise 78. Was wäre, wenn die statistische Alterserwartung auf Sie gar nicht zutrifft? Wenn Sie nicht so alt wie der Durchschnitt werden? Was wäre, wenn zum Beispiel morgen Ihr letzter Tag wäre?

      Meine Vortragskollegin Ulrike Scheuermann bringt in ihrem Buch den Leser dazu, diesen unfassbaren Gedanken konsequent weiterzudenken. Würde ich – Tanja Köhler – dann noch anfangen, Dudelsack zu spielen? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich möchte mir meinen eigenen Tod auch nur widerstrebend vorstellen. Aber wenn ich mich doch trauen würde, ihn anzudenken, könnte es sein, dass ich zumindest ein einziges Mal in meinem Leben den Brummbass der drei Bordunpfeifen des Dudelsacks zum Erklingen bringen möchte.

      Definitiv angenehmer ist die andere Denkrichtung, die Richtung »langes Leben«. Denn ich persönlich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich älter als 82 werde. Deutlich älter. Schließlich ist meine Oma auch 96 Jahre alt geworden. Wieso sollte es bei mir anders sein?

      Selbst als Psychologin unterliege ich mit dieser Denkweise einem häufig auftretenden Denkfehler: der sogenannten »kognitiven Dissonanz«. Bedeutet: Wir Menschen reden uns gerne die statistischen Tatsachen schön. Als Gegenbeweis führen wir dann einen, maximal zwei Präzedenzfälle auf. Wir ahnen zwar, dass diese Beispiele eher die Ausnahme als die Regel sind, aber das ist uns tatsächlich mehr oder weniger egal. Die Gegenbeispiele sind in ihrer Wirkung nämlich mächtiger, viel mächtiger sogar. Und so wischen wir die wahrgenommenen Unstimmigkeiten in unserem Kopf einfach so weg, als ob sie kleine Brotkrümel auf unserem Frühstückstisch wären.

      Ich weiß also, dass ich 96 Jahre alt werde. Mindestens! Genügend Zeit, um das Dudelsackspiel so richtig zu erlernen. Und wer weiß? Vielleicht stehe ich eines Tages beim Edinburgh Military Tattoo auf der Esplanade vor Edinburgh Castle und spiele auf meiner Great Highland Bagpipe »Scotland the Brave« – die bekannteste der drei inoffiziellen schottischen Nationalhymnen.

      Oder sogar das bekannte »Highland Cathedral«, selbstverständlich nur als Solo-Piperin. Unrealistisch? Egal! Ich unterliege gerne diesem Denkfehler. Er tut mir gut. Mir gefällt der Gedanke, dass ich noch viel Zeit zur Verfügung habe. Zeit, alle die Dinge zu machen, die ich in meinem Leben noch machen möchte. Und wissen Sie, was ich richtig cool fände? Wenn Sie im Publikum sitzen würden, währenddessen Sie gerade Ihren lang gehegten Traum eines Schottlandurlaubs verwirklichen!

      Ein Gespür für die Zeit bekommen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

      In Bewegung kommen

      Gezielte Fingerübungen verhelfen dem Dudelsackspieler, die nötige Beweglichkeit, Kraft und Koordination der Finger zu entwickeln. Nur mit geübten Fingern lassen sich die Stücke schön spielen.

      Ich brauche nicht zu erwähnen, dass es gut ist, dass wir nicht wissen, wann wir sterben werden. Dieses Wissen braucht kein Mensch. Zumindest keiner, der normal tickt. Aber wir tun gut daran, uns die statistischen Zahlen und typischen Denkfehler bewusst zu machen, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, wie viel Zeit uns potenziell noch zur Verfügung steht.

      Wenn ich das Zollstockexperiment mit jungen Menschen mache, freuen sich diese stets über den noch unverbrauchten Zeitstrahl. Bei solchen Langzeitaussichten kann schon mal bei dem einen oder der anderen die Orientierung verloren gehen. Die Vorstellungskraft für die vor einem liegende Zeit fehlt. Das war bei uns, als wir jung waren, nicht anders. Doch auch bei jungen Menschen gelingt das Zollstockexperiment.

      In einem meiner Vorträge in der Berliner Kalkscheune fragte ich eine junge Frau, wie alt sie sei. 23! Ich fragte sie, was sie in ihrem Leben gerne so machen möchte. Ihre Antwort: »Auf jeden Fall für eine längere Zeit ins Ausland gehen! Und einen guten Abschluss im Studium. Und Kinder und Familie möchte ich auch!« Ich fragte sie, ob sie bei Letzterem eine innerliche Zahl verspürt, bis wann sie gerne ein Kind hätte. Ihre Antwort nach kurzer Überlegung: »So mit 27 Jahren!« Wir schauten wieder auf den Zollstock. Ihr Zeigefinger lag ruhig auf ihrer Alterszahl 23. Ich bat sie, ihren anderen Zeigefinger auf die 27 zu legen. Überrascht schaute sie auf die kurze Zeitspanne, die ihr nur noch zur Verfügung stand, um ins Ausland zu gehen und ihr Studium fertig zu machen. Sie schaute mich an und meinte: »Hmmm … dann muss ich mich wohl langsam an die Planung für Amerika machen!« Was die junge Frau tatsächlich daraufhin gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber sie hat sicherlich ein Gespür für die verfügbare Zeit bekommen.

      Junge Menschen legen beim Zollstockexperiment den Zeigefinger frisch und frech auf ihre Alterszahl. Zielgerichtet. Sich ihrer Jugend bewusst. Bei uns Älteren hingegen beobachte ich in den allermeisten Fällen eine kreisende Fingerbewegung. Als ob unser Finger ein Rotorblatt eines Hubschraubers wäre. Wenn die entsprechende Alterszahl dann entdeckt wird, »ditscht« bei vielen der Zeigefinger nur einmal kurz auf dem Zollstock auf, um unverzüglich wieder in die Luft zu gehen. Zollstöcke können scheinbar ziemlich heiß sein! Einige Zeigefinger weigern sich sogar, zu landen. Könnte es sein, dass einige von uns die Tatsache wegleugnen wollen, dass wir nun auch zu den Älteren gehören? Auch wenn wir uns ganz und gar nicht so fühlen. Ich glaube, keine Generation vor uns hat sich wirklich alt gefühlt. Es ist die Arroganz der Jugend, dies zu denken.

      Was ist Ihr Dudelsack?

      Erinnern Sie sich, wie es bei Ihnen war? Als Sie selbst jung waren? Egal ob zehn, 13 oder 15 Jahre alt. Wie wurde in Ihrer Familie damit umgegangen, wenn Sie mit strahlenden Augen von Ihren Zukunftswünschen berichtet haben? Haben sich Ihre Eltern begeistert Ihre Pläne angehört und gemeinsam mit Ihnen an Ihren Träumen gearbeitet? Oder hat sich eine gut gemeinte Hand auf Ihre Schultern gelegt und gesagt: »Dafür hast du noch viel, viel Zeit! Du hast das ganze Leben vor dir! Wer weiß, was bis dahin ist! Jetzt mach erst mal … und dann sehen wir weiter.«

      Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber ich bin mir fast sicher, dass meine Eltern eher zur letzten Version tendierten: »Wer weiß, was bis dahin ist …« Diese Worte waren bestimmt nicht böse gemeint und für


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