Das Jahr, als ich anfing, Dudelsack zu spielen. Tanja Köhler

Das Jahr, als ich anfing, Dudelsack zu spielen - Tanja Köhler


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nicht. Internet konnte sich ebenso noch niemand vorstellen, obwohl Serien wie »Raumschiff Enterprise« schon frühzeitig auf diese Entwicklung hinwiesen.

      So sehr ich mich auch anstrenge, ich bekomme nur noch einen vagen Zugang zu meinen Jugendträumen, Wünschen und Sehnsüchten. Wie sieht es bei Ihnen aus? Wissen Sie noch, was Sie damals machen wollten, wenn Sie mal »erwachsen« wären? Ich glaube, dass es nicht nur mir so geht. Wir haben unsere Träume vergessen; das, für was wir früher gebrannt haben und was wir alles so erleben wollten. Ich finde das schade, aber nicht wirklich schlimm. Die Welt ändert sich und vieles im Leben wird vergessen. Das eigentlich Fatale ist, dass der gut gemeinte Satz unserer Eltern oder Lehrer sich zu wiederholen scheint. Im prall gefüllten Kalender zwischen beruflichen und privaten Terminen werden aktuelle Wünsche, Träume und Veränderungsvorhaben auf der Zeitachse nach hinten geschoben. »Dafür habe ich noch viel, viel Zeit … Ich stehe in der Mitte meines Lebens, und das halbe Leben liegt ja noch vor mir!«

      Achtung! Denkfehler! Kognitive Dissonanz! Machen wir es uns ruhig noch einmal bewusst. Auch wenn ich 1988 im schriftlichen Matheabitur null Punkte hatte. Für diese Rechnung brauche nicht einmal ich einen Taschenrechner: Die Hälfte von 82 ist 41 und die Hälfte von 78 ist 39. Wir haben also die Mitte unseres Lebens schon deutlich überschritten.

      Liegt dann nichts näher, als dass wir endlich beginnen, uns unseren Wunschprojekten zu widmen? Ich meine damit nicht, dass wir gleich alle aus unserem heutigen Leben aussteigen sollen. »Fürs Aussteigen sind wir nämlich scheinbar zu feig!«, sang Peter Cornelius in den frühen 1980ern. Ich gebe zu: Das würde mich persönlich auch überfordern. Darum geht es auch gar nicht. Es geht um die scheinbar kleinen Dinge, die das Leben schön machen. Wie zum Beispiel, den Dudelsack spielen zu lernen.

      Was würden Sie gerne tun? Finden Sie so schnell keine Antwort darauf? Dann holen wir einfach eine andere Perspektive herein. Was würde mir Ihr Partner sagen, was Sie gerne machen würden? Oder – noch besser – falls Sie Kinder haben: Was würden mir Ihre Kinder sagen, welche Veränderung Mama oder Papa am liebsten herbeiführen würden?

      Vielleicht gibt es auch etwas, mit dem Sie am liebsten aufhören würden? Vor über zehn Jahren habe ich mit einer Berliner Freundin die Zollstockübung gemacht. Sie hatte ein Gewerbe auf Kleinstunternehmerregelung angemeldet. Kommunikationstrainings. Um finanziell über die Runden zu kommen, hatte sie zusätzlich noch drei weitere Jobs. Damals war sie Anfang 30. Verheiratet. Zwei lebende Kinder, ein totes Kind! Wie es dazu kam? Meine Freundin hatte auf dem Weg in die Berliner Charité in der Hektik einen Unfall gebaut. Ihr jüngstes Kind starb dabei. Eigentlich wollte sie mit der Kleinen in die Notaufnahme, weil sie einen schweren Asthmaanfall hatte. Das zusätzlich Tragische dabei: Es ist schon schlimm genug, wenn das eigene Kind stirbt. Aber wenn man auch noch für den Tod des geliebten Kindes von der Justitia verantwortlich gemacht wird, trifft es einen noch härter. Das eigene Schuldempfinden wird von außen bestätigt. Meine Freundin lernte mit dem Tod ihrer Tochter umzugehen. Sie sprach mit Therapeuten und anderen verwaisten Eltern und fand über die Zeit für sich einen Weg, das Geschehene zu akzeptieren und zu verarbeiten.

      Ihr Mann ging allerdings anders mit dem Unglück um. Er zog sich zurück, schaute viel fern. Horrorfilme. Obwohl die unterschiedlichen Verarbeitungswege sie voneinander trennten, blieben sie dennoch zusammen. Vereint im Unglück. Und beide litten darunter. Meine Freundin traute sich nicht, sich zu trennen, weil »man trennt sich nicht, wenn man zwei kleine Kinder und ein totes Kind hat. Dann bleibt man erst recht zusammen.« Sie sprach mit mir über ihre Lage. Ich ließ sie den Finger auf den Zollstock legen und fragte sie, wie alt sie sei: 33! Und dann fragte ich sie, was sie glaubt, wie lange ihr Mann braucht, um für sie wieder ein echter Partner sein zu können. Sie fand keine Zahl. Und dann fragte ich sie, wie lange sie noch vorhat, in dieser Situation weiter zu leiden. Zwei Wochen später trennte sie sich.

      Nicht immer ist es – wie in der Situation meiner Freundin – so klar, welche Veränderung eigentlich ansteht, damit es weitergeht. Damals löste die Veränderung durch die Trennung ein Erdbeben aus. Die Erschütterungen waren überall deutlich spürbar und hatten zum Teil massive Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Auch beruflich. Es kam zuerst zu einer Verschlimmerung der gesplitteten Arbeitssituation. Aber alles, was erschüttert wird, lockert an anderer Stelle wieder auf und fördert Ungeahntes zutage. Und so kam die Möglichkeit, sich neu zu sortieren und zu entwickeln.

      Meine Freundin führt heute erfolgreich ein kleines Coaching-Institut und hat insgesamt fünf Mitarbeiterinnen, Tendenz wachsend. Zudem gibt es seit einiger Zeit einen neuen Lebenspartner an ihrer Seite.

      Wenn sich der Nebel lichtet, um was geht es dann? Ist der Dudelsack ein Dudelsack?

      »Schottland – das Land der Schafe, des Whiskys und der Dudelsäcke. Und freilich auch des Nebels. Kaum ein anderes Land wird mehr mit Nebel in Verbindung gebracht als Schottland. Es gibt ihn zu jeder Jahreszeit. Oft undurchdringlich wie eine fette Sahnesuppe. Im Nebel kann man nicht ausmachen, woher die Klänge eines Dudelsacks kommen. Sie hören sich aber Furcht einflößend an, wenn man nicht darauf vorbereitet ist. Das war Teil der Kriegsstrategie der Highlander. Die Feinde sollten Angst haben. Sich nicht trauen, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Wenn sich der Nebel in Schottland jedoch lichtet, so wird der Blick auf zum Teil unglaublich bizarre Landschaften frei. Und dann spürt man, wo man sich wirklich befindet.«

      Den Dudelsack zu erlernen bedeutet für mich nicht, einfach ein Instrument zu spielen. Würde es mir lediglich darum gehen, hätte ich wieder mit Klavier oder Gitarre begonnen. Ein Privileg der Babyboomer war es, dass wir in unserer Jugend fast alle ein oder mehrere Instrumente lernen durften. Viele von uns vielleicht – ohne es so gefühlt zu haben – sogar mussten. Ich nenne dieses Phänomen »Instrumenten-Delegation«: Weil unsere Eltern in den entbehrungsreichen Zeiten des Zweiten Weltkriegs selbst keine oder nur wenig Möglichkeit dazu hatten, mussten wir an ihrer Stelle ein Instrument lernen. Schließlich gehörte man nicht mehr zu den armen Schluckern, und zudem wirkte sich das Erlernen eines Instrumentes positiv auf die Entwicklung des Kindes aus.

      Klavier oder Gitarre spielen? Ich könnte an bestehende Fähigkeiten anknüpfen, und es wäre günstiger, als den Dudelsack zu erlernen. Deutlich günstiger. Mal abgesehen von den Unterrichtskosten: Ein guter Dudelsack beginnt preislich bei circa 1500 Euro – die Skala nach oben hin ist offen. Meine Duncan MacRae Blackwood Bagpipe hat knapp 2000 Euro gekostet. Also warum nicht lieber einfach nur Klavierunterricht nehmen? Mein Jugendklavier steht noch immer bei meinen Eltern im Wohnzimmer; seit dem Ende meiner Klavierkarriere vor über 30 Jahren umfunktioniert zum dekorativen Raumteiler. Oder wieder mit Gitarre starten? Meine Gitarre habe ich zwar vor vielen Jahren verschenkt. Eine neue kostet aber nicht viel und wäre schnell gekauft. Warum also Dudelsack und nicht Klavier oder Gitarre?

      Ganz einfach: Anders als der Dudelsack berührten diese Instrumente nie meine Seele. Der Dudelsack bedeutet für mich nicht ein weiteres Instrument. Er steht für mehr. Für sehr viel mehr. Wenn sich der Nebel lichtet, dann ist der Dudelsack für mich ein Lebensgefühl, ein Sinnbild. Er steht für die Freiheit, jederzeit das tun zu können, was ich möchte. Und es auch zu tun. Eine Einladung von mir an mich selbst.

      Nebel – im Deutschunterricht haben wir gelernt, dass dieses Wort ein sogenanntes Palindrom ist. Ein Wort, das sich sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen lässt. Dann wird aus Nebel Leben.

      Nebelbänke sind überall.

      »Um was geht es, wenn sich der Nebel lichtet?« Diese Frage leitet mich in meinem Job. Immer. Jeden Tag. Bei jedem Kunden. Dort treffe ich auf viele Nebelbänke. Ich habe sie für mich in zwei Kategorien unterteilt. Die Nebelbänke des Unternehmens und die Nebelbänke der Angestellten in diesem Unternehmen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie den Blick auf das, um was es wirklich geht, verschleiern. Im Nebel verhüllen.

      Ich begleite Unternehmen in Veränderungsprozessen. Der Großteil meiner Kunden sind mittelständische Familienunternehmen. Meistens inhabergeführt und oft schon an die Nachfolgegeneration übergeben. Zumindest auf dem Papier. Auch das ist Teil des Nebels. Auf diese spezielle Nebelbank treffe ich oft. Sie gehört zur ersten Kategorie.

      Ich freue mich, wenn ein Unternehmer seinen Weg zu mir findet. Dann ist die erste Hürde genommen. Bereits bei der ersten Kontaktaufnahme bekomme ich eine Ahnung davon, ob es eher


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