Abgerutscht. Marliese Arold
inzwischen die Polizei benachrichtigt? Würde man die Suche bis nach Norddeutschland ausdehnen? Und was, wenn man sie finden würde? Wie sollte bloß alles weitergehen?
Nina war froh gewesen, als es endlich hell geworden war und sie aufstehen konnte.
„Ich hab mir Farbe gekauft“, erzählte sie nun. „Ich will mein Zimmer streichen.“
„Und beim Friseur bist du auch gewesen“, stellte Eileen fest. „Die Locken hast du gestern noch nicht gehabt. Du siehst toll damit aus, wirklich!“
„Danke.“ Die Bestätigung tat ihr gut.
Unwillkürlich wanderten Ninas Gedanken zu Steffen zurück.
Dieses Schwein!
Während sie mit ihren Eltern im Urlaub gewesen war – natürlich Mallorca, wie jedes Jahr! –, hatte er mit Daniela geschlafen. Nicht nur einmal, sondern öfter. Und hinterher hatte er sich eingebildet, mit Nina und ihm sei alles okay.
Nie wieder würde sie auf so einen Typen reinfallen, das hatte sie sich geschworen.
„Was nicht in Ordnung?“, fragte Eileen, der Ninas finstere Miene nicht entgangen war.
Nina zwang sich zu einem Lächeln. „Doch, alles okay. Habt ihr alte Zeitungen? Ich brauch was zum Abdecken, wenn ich streiche. Ich hab zwar feste Farbe gekauft, aber das tropft manchmal trotzdem.“
Sie bekam von Eileen nicht nur einen Stoß Zeitungen, sondern auch noch Lappen, Putzmittel und einen Eimer.
„Hast du das schon mal gemacht?“, fragte Eileen.
„Ich hab mal einer Freundin geholfen“, antwortete Nina und versuchte mühsam, den Deckel vom Farbbehälter abzuziehen.
„Du bist zu Hause abgehauen, wie?“
Es traf Nina wie ein Schlag, als Eileen ihr das auf den Kopf zusagte. Sie wurde blass.
„Wie kommst du denn auf die Idee?“
„Weil ich mit sechzehn selbst abgehauen bin, darum.“
Nina strich sich die Haare aus der Stirn. Jetzt störte sie das ungewohnte Gekräusel. War ja auch hirnrissig! Sie hätte erst nach dem Streichen zum Friseur gehen sollen. Aber alles genau zu planen, war eben nicht ihre Art.
„Na gut“, sagte sie ruppig. „Schön, ich bin abgehauen. Macht’s dir was aus? Die Miete hab ich schon für einen Monat bezahlt, also bleibe ich auch.“
Eileen legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Ich hab’s nicht so gemeint, wirklich. Ich bin damals von zu Hause fort, weil ich schwanger war.“
Nina beruhigte sich. „Schwanger bin ich nicht.“ Das hätte gerade noch gefehlt! Ein Kind von Steffen!
„Ich hatte eine Fehlgeburt im siebten Monat“, erzählte Eileen weiter. „Kurz darauf hab ich mich auch mit meinem Freund zerstritten und es ging auseinander. Damals kam ich mir vor wie der einsamste Mensch auf der Welt. Das Schrecklichste war, dass ich niemanden hatte, mit dem ich über all die Sachen sprechen konnte. Manchmal frage ich mich, ob es anders gekommen wäre, wenn das Baby gelebt hätte.“ Eileen zuckte mit den Schultern.
„Das war bestimmt schlimm für dich“, sagte Nina mitfühlend.
„Na ja, ich hab mich irgendwie über Wasser gehalten. Ich hab dann auch bald wieder einen Freund gehabt, das heißt, eigentlich waren es mehrere. Es ging immer nur ein paar Monate lang. Dann hab ich mich wieder total verliebt …“ Über Eileens Gesicht huschte ein Schatten. „Das war die nächste Katastrophe.“
„Warum?“
„Ach, das erzähl ich dir lieber ein andermal. Jetzt hab ich schon genug geredet und du willst ja anfangen.“ Eileen deutete auf die Wand, von der Nina schon den Tisch weggerückt hatte.
„Aber es interessiert mich wirklich“, betonte Nina.
„Na gut. Also, der Mann, in den ich mich verliebt hatte, war ein Künstler. Ich bewunderte ihn. Wir haben geheiratet. Er war drogenabhängig, aber ich war überzeugt, dass er es schaffen würde, von dem Zeug wegzukommen. Mit meiner Hilfe. Es hat nicht geklappt. Irgendwann hab ich ihn dann verlassen. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Das ständige Auf und Ab war die Hölle.“
„Und dann?“
„Nach der Scheidung hab ich eine Weile allein gelebt. Klar hatte ich Männerbekanntschaften, aber nichts Festes. Dann traf ich Klaus. Wir haben uns auf einer Silvesterparty kennengelernt. Vor fast drei Jahren. Ich war mal wieder ziemlich unten, es ging mir gesundheitlich auch nicht besonders gut. Na ja, und dann kam Klaus. Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick, jedenfalls was mich betrifft. Aber Klaus war ganz anders als die Männer, die ich vor ihm gekannt habe.“ Eileen verstummte. Sie blieb in der Tür stehen, während Nina den Boden mit Zeitungen abdeckte. Nina hatte das Gefühl, dass sie nun auch von sich erzählen sollte.
Es fiel Nina schwer, über alles zu reden. Die Wut und der Groll auf ihre Eltern stiegen wieder in ihr hoch.
„Zu Hause halt ich’s nicht mehr aus“, gestand sie. „Diese Lügen. Das dauernde Geheuchel. Wir leben in einem kleinen Kaff, da kennt jeder jeden. Und es ist unheimlich wichtig, was die anderen Leute denken. Das nervt vielleicht!“
Zornig tauchte sie die Rolle ein und klatschte die Farbe an die Wand. „Ich hab die Nase voll gehabt. Es waren tausend Kleinigkeiten. Ich will nicht so werden wie meine Eltern. Ich will nicht so leben wie sie. Beide sind Lehrer, Papa am Gymnasium und Mama an der Hauptschule. Sie bilden sich immer ein, Vorbild sein zu müssen. Zum Kotzen! Das ganze Getue ekelt mich an, ehrlich.“
„Was denn besonders?“
„Ach … na ja, eigentlich alles. Zum Beispiel glauben meine Eltern nicht an Gott. Den brauchen sie auch gar nicht, sie haben ja alles selber fest im Griff. In die Kirche gehen sie normalerweise auch nicht. Aber in diesem Jahr war Frommsein angesagt. Mein Bruder ist nämlich zur Erstkommunion gegangen. Weil es sich eben so gehört. Florian ist neun. Es war schrecklich. Ein Riesenfest, die ganze Verwandtschaft war da, alle fein gemacht, meine Mutter im neuen Kleid … Ich wär schon damals am liebsten auf und davon.“
„Hm. Verstehe. Kann ich nachfühlen.“
„Es gab zuletzt nur noch Zoff mit meinen Eltern. Sie haben mich total genervt. Meine Freunde haben ihnen nicht gepasst. Nichts war ihnen recht. Tu dies nicht! Lass das! Hör auf damit, was sollen denn die Leute denken? So ’ne Scheiße musste ich mir jeden Tag anhören.“
„Und bevor du von dem ganzen Mist taub wirst, bist du lieber abgehauen?“
Nina schluckte heftig. „Na ja, da war noch was. Mein Freund hat mich nämlich auch noch angelogen. Er war mit einem anderen Mädchen im Bett. Als ich’s rausgekriegt habe, war Schluss. Ich musste einfach fort.“
Es kostete Kraft, die Farbe gleichmäßig mit der Rolle aufzutragen, aber Nina empfand die körperliche Anstrengung fast als Erleichterung.
Eileen trat einen Schritt ins Zimmer. „Die Wand wird gut aussehen“, stellte sie fest. „Die Farbe ist toll.“
„War auch ziemlich teuer.“ Nina geriet langsam ins Schwitzen.
„Für die Decke brauchst du aber eine Leiter.“
„Ich steige auf den Tisch. Der ist stabil genug, so schwer bin ich nicht.“
„Gut. Sonst hätt ich dir eine Stehleiter aus dem Keller geholt. Dort unten muss eine rumliegen.“
„Danke, nicht nötig. Das geht auch so.“
Eileen sah Nina noch eine Weile beim Streichen zu. „Da kriege ich richtig Lust, auch mitzumachen.“
Nina grinste sie an. „Ich hab aber nur eine Rolle gekauft.“
„War bloß Spaß“, entgegnete Eileen. „Ich zieh mich jetzt besser an. Dann will ich einkaufen gehen. Brauchst du was?“
„Nein, ich hab vorhin schon alles erledigt. Ist