Abgerutscht. Marliese Arold
alles zu reden. Der innere Druck war doch größer, als sie gedacht hatte.
Nina strich bis in die Nacht hinein. Obwohl das Zimmer so klein war, machte es eine Menge Arbeit. Es kostete viel Zeit, die Möbel zu verrücken. An manchen Stellen deckte die Farbe nicht richtig und sie musste nachstreichen.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht war sie endlich fertig. Das Zimmer sah viel besser aus als vorher, aber Nina fühlte sich wie erschlagen. Sie hatte Kopfschmerzen vom Farbgeruch. Überall an Händen und Kleidung waren winzig kleine Farbspritzer. Auch das Haar war verklebt. Obwohl es schon so spät war, nahm Nina noch ein heißes Bad. Vorher musste sie den Wäscheständer, diesmal mit lauter Männersocken, entfernen. Ihre eigenen Klamotten weichte sie in kaltem Wasser ein. Hoffentlich gingen die Farbspritzer raus. Die Jeans waren noch so gut wie neu, sie konnte sich momentan unmöglich andere kaufen.
Nina träumte vor sich hin. Sie stellte sich vor, wie es wäre, reich zu sein und eine große, toll eingerichtete Wohnung zu haben. Natürlich mit einem breiten französischen Bett. Edle Bettbezüge aus echter Seide. Jemand würde ihr ein Tablett mit appetitlichen Häppchen ans Bett servieren. Dazu vielleicht Champagner … Und als Krönung des Ganzen gab es noch einen gut aussehenden Lover, der ihr zu Füßen lag und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.
4
Jemand stolperte über sie.
Nina spürte im Halbschlaf einen schweren Männerkörper, der neben ihr auf die Matratze plumpste.
„Du bist so süß“, lallte Klaus. „Mein Gott, bist du süß!“ Und seine Hände fingen an, an ihr herumzutatschen.
Nina wurde wach. Sie roch den Alkohol. Der Kerl war ja stockbesoffen! Energisch schob sie ihn von sich.
„Hau ab, du Schwein!“, schimpfte sie. „Was fällt dir ein?“
„Nur ein Kuss …“
Sie holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Das brachte ihn zur Besinnung, er zog sich zurück. Nina rappelte sich inzwischen auf und suchte den Lichtschalter.
Das Flurlicht ging an.
Die Szene war grotesk.
Klaus lehnte an der Wand und hielt sich die Nase. Nina konnte nicht sehen, ob sie blutete. Auf alle Fälle hatte sie wohl einen Volltreffer gelandet.
Sein gestreiftes Pyjamaoberteil klaffte vorne auseinander und gab den Bauch frei. Eine Wölbung wie bei einer Schwangeren, bloß mit lauter schwarzen Haaren. Es sah lächerlich aus. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Nina laut gelacht, aber jetzt war sie stinksauer.
„Glaubst du, ich hab mich in den Flur gelegt, nur dir zum Spaß?“, donnerte sie los. „In meinem Zimmer stinkt’s so nach Farbe, dass man unmöglich schlafen kann. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du über mich herfällst, hätte ich unten im Erdgeschoss geschlafen, selbst wenn’s dort von Mäusen wimmelt! Du Arsch!“
Klaus wirkte kleinlaut. Die Ohrfeige hatte ihn ernüchtert. Er sah nicht so aus, als wollte er seine Bemühungen fortsetzen.
„Ich hab ja nicht gewusst, dass du hier herumliegst“, grunzte er. „Ich wollt bloß pinkeln gehen.“
„Ach!“ Nina nahm ihm die Ausrede nicht ab. „Und da bist du über die Matratze gestolpert und hast dir gedacht, dass du gleich liegen bleiben kannst?“
Klaus sagte gar nichts, sondern massierte seine Nase.
„Hast mich wohl mit Eileen verwechselt“, stichelte sie.
Beim Stichwort Eileen hielt Klaus seine Armbanduhr vor die Augen, aber er war zu betrunken, um die Uhrzeit zu erkennen. „Zum Teufel, wie spät ist es überhaupt?“
„Viertel nach vier.“
„Und sie ist immer noch nicht da.“ Klaus’ Stimme klang fast weinerlich. „Bestimmt hat sie einen anderen Kerl!“
„Und du denkst, du kannst es dann mit mir treiben“, empörte sich Nina.
„Ich denke gar nichts“, behauptete Klaus. Er hatte Mühe aufzustehen, erwischte eine Türklinke und hangelte sich an der Wand hoch.
„Mensch, geh bloß wieder ins Bett. Du bist ja völlig zu.“
Nina sah ihm nach, wie er in Richtung Schlafzimmer abzog. Er taumelte dabei von links nach rechts. Fast tat er ihr leid. Aber dann schob sie alles Mitleid beiseite. Es war sein Problem, wenn er sich betrank!
Nina war jetzt völlig aufgekratzt. Sie konnte nicht einfach das Licht ausmachen und sich wieder hinlegen!
Ihr Herz hämmerte noch immer. Klaus würde sich nicht noch mal trauen, da war sich Nina ziemlich sicher. Wahrscheinlich war er ohnehin gleich wie tot ins Bett gefallen und schnarchte schon längst. Und morgen würde er sich vermutlich nicht einmal mehr daran erinnern, was passiert war!
Trotzdem mochte Nina nicht mehr auf dem Flur schlafen. Sie wollte lieber in ihr Zimmer und die Tür hinter sich abschließen, selbst wenn es noch so sehr nach Farbe stank!
Mühsam wuchtete sie die Matratze vom Flur in ihr Zimmer zurück. Der Farbgeruch kam ihr nicht mehr so schlimm vor. Die ganze Zeit hatte das Fenster sperrangelweit aufgestanden. Nina ließ es offen, legte sich hin und löschte das Licht. Die Nacht war mild und ein leichter Wind wehte herein. Hoffentlich kam kein Fassadenkletterer auf die Idee, ihr einen Besuch abzustatten. Von nächtlichen Übergriffen hatte sie genug!
Sie konnte nicht einschlafen. Irgendwo in der Ferne schlug eine Turmuhr. Wenig später hörte Nina, wie sich ein Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Eileen kam zurück.
Nina kämpfte mit sich. Sollte sie ihr erzählen, was passiert war?
Eileen summte draußen im Flur vor sich hin. Zweimal plumpste etwas zu Boden – ihre hochhackigen Schuhe. Dann ging Eileen leise trällernd ins Bad.
Nein. Nina rollte sich auf der Matratze zusammen. Sie würde Eileen nichts sagen. Jedenfalls jetzt nicht. Vielleicht auch nie.
Nina versuchte, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Sie brauchte unbedingt Geld. Morgen würde sie alle Zeitungen nach Anzeigen durchsehen. Wenn sie nicht gleich einen Job fand, was dann? Betteln? Oder stehlen? Einmal hatte sie in einem Kaufhaus einen Lippenstift mitgehen lassen. Es war ihr nicht leichtgefallen. Nein, zum Klauen hatte sie wahrscheinlich nicht die Nerven.
Auf alle Fälle kam es nicht infrage, dass sie reumütig nach Hause zurückkehrte. Irgendwie würde sie schon Geld auftreiben.
Viel Geld.
5
Lichter zuckten, Bässe dröhnten.
Nina schob sich auf die Tanzfläche. Ihre Laune wurde zusehends besser. Auf der Bühne spielte eine Live-Band, die Dangerous Drops. Die Band übertraf alle anderen, die Nina von daheim kannte. Sie spielten ungeheuer rockig und es gelang ihnen, die Gäste mitzureißen.
Nina ließ sich von der Stimmung anstecken. Sie tanzte nach vorne, zur Bühne. Den Bassisten fand sie besonders süß. Er hatte lange blonde Haare und trug ein dunkelblaues T-Shirt mit glitzernden Sternen. Ein bisschen ähnelte er Steffen, aber nicht viel. Nina lächelte ihm zu. Er lächelte zurück und Ninas Laune hob sich.
Die Musik heizte sie immer mehr an. Sie flippte über die Tanzfläche, gab sich ganz dem Rhythmus hin und sang bekannte Songs mit. Alle Probleme abschütteln. Bloß nicht mehr daran denken, wie mistig der Tag verlaufen war.
You make me feel so good …
„So good“, summte Nina und wirbelte zwischen einem Pärchen hindurch. Den ganzen Tag hatte sie am Telefon gehangen, auf der Suche nach einem Job unzählige Nummern angerufen. Überall dasselbe. Vergeben oder unterbezahlt. Oder sie erfüllte die Voraussetzungen nicht, weil sie weder einen PC noch ein Auto hatte.
Sie war desillusioniert, enttäuscht und frustriert.
Ein