Von der Seele. Carl Ludwig Schleich

Von der Seele - Carl Ludwig Schleich


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die wir ihr selbst künstlich einschalten, um dann ihre von den Widerständen erzwungenen Äußerungen zu studieren. Die Kraft, an sich einheitlich und unzertrennbar, überall und unvergänglich, allgegenwärtig und allmächtig, wird zu einem sich nur scheinbar selbstwandelnden, metamorphisierenden, irisierenden Proteus, nicht aus eigener spielerischer Variationslust, sondern die Hand der Hemmung zwingt sie, ihr Gewand von Fall zu Fall zu wechseln. Die Art der Widerstände bestimmt die Art der Äußerung der an sich unveränderlichen Urkraft.

      Die gesamte Physik ist nichts als eine Lehre von den Widerständen. Die Chemie ist ebenso nichts als eine Lehre von der Variabilität der Körpereigenschaften unter der Variabilität der Bedingungen, unter denen sie aufeinander wirken. Wir wissen z.B. nichts vom Wesen der Schwerkraft, wir studieren aber ihre Gesetze am Widerstand, welche den fallenden Kräften die verschiedenartig abgeänderte Luft entgegensetzt. Wir wüßten nichts von der Elektrizität, wenn wir nicht gelernt hätten, der Gesamtkraft spezifische Widerstände einzuschalten, welche sie zwingen in einer Form sich zu äußern, welche wir elektrisch nennen. Die Art, in welcher die Kraft die Hemmung durchbricht, ihr ausweicht, um sie herumzukommen sucht, ist entscheidend für die neuen Eigenschaften, welche die unendlich variable Urkraft anzunehmen befähigt ist. Die Faust der Hemmung und des Widerstandes ist es, welche dem Weltganzen Form und Richtung gibt und welche auch in dem Organischen als Gesetz der variablen Bedingungen, als Anpassung an die Widerstände des Milieus ihre universelle Macht täglich mehr erkennbar entfaltet. Wir werden uns ewig umsonst bemühen, das Wesen irgendeiner Kraft zu analysieren, es gibt keine Erforschung von dem eigentlichen Agens der Welt—sein fühlbares Dasein verdichtet unser Denken zum Gedicht, zur Andacht, zum Glauben, die Kraft und ihr religiöser Name "Gott" ist darum kein Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Was aber um so erfolgreicher der menschlichen Erkenntnis unterworfen ist, was in gewissem Sinne sogar unserer experimentellen, künstlichen Abänderung der Weltbedingungen unterliegt, das ist die Hemmung, die Lehre von den Widerständen: das ist eigentlich das Problem aller Wissenschaft. Die Lehre von der Macht der Hemmungen ist eins der Grundgesetze der Weltmechanik. Hier hat auch die Definition von dem Sinne des Rhythmus im Weltganzen einzusetzen, wenn sie bis zu den erkennbaren Grundanschauungen, gleichsam bis zu den Müttern des Wissens vordringen will.

      Der Rhythmus ist nämlich eine Art Kompromiß zwischen Kraft und Widerstand, ein wechselseitiges Gegeneinanderprallen, Sichausweichen, Sichfliehen und -finden, ein harmonisches Spiel von Energieentfaltung und Hemmungsbetätigung, das Sichumkreisen und Sichumsprudeln zweier nie ganz vereinbarer Gegensätze; der Rhythmus ist gleichsam eine Ehe zwischen Kraft und Hemmung, die in Harmonie nur durch ein ständiges wechselndes Nachgeben des einen und des andern zu erhalten ist. Der Rhythmus bekundet die immer hin- und herschwankende Bilanz zwischen dem Ja und Nein des Lebens und der Bewegung, er ist ein immer hin- und herpendelnder, wechselnder Wert zwischen Plus und Minus, eine an- und abschwellende Diagonale im Parallelogramm von Kraft und Widerstand. Und seine eigentliche Ursache? Die Aktivität der Kraft auf der einen Seite und die Elastizität der Materie auf der andern. Die Kraft, nach allen Seiten gleichmäßig aktiv, geht gegen den Stoff gleichsam an, um ihn aus dem Wege zu schleudern, er weicht aus, verdichtet sich, diese Verdichtung komprimiert sein innerstes Gefüge, wodurch wiederum der Widerstand erhöht wird, den er der Kraft bietet, so daß diese nicht wie eine Welle den Schlamm langsam durchrinnt, sondern wie eine Woge vom starren Felsen schäumend zurückgeworfen wird. Aus diesem Anprall, dieser Verdichtung der Materie und dem Wachsen ihres rückstoßgebenden Widerstandes setzt sich der Rhythmus, dieser Tanz zwischen Aktion und Hemmung, zusammen. Das Herz der Welt, die Kraft, treibt seinen Strom in alle Adern, die ihm die Widerstände lassen, und alle Ströme rinnen, abprallend und abgeschleudert vom Widerstande des Alls, zurück in ihre anfängliche, urewige Quelle. Das ist der Kreislauf der Kraft, das ist der Puls der Welt, der Rhythmus!

      War das Gesetz des Rhythmischen, der "ewigen Wiederkehr" aller Dinge vom Sternenhimmel her, von Tag und Nacht, von Schlaf und Wachen, von Ebbe und Flut, von Jahreszeiten, von Krankheiten und Störungen des Wohlbefindens, von Geburt und Tod, von Saat und Ernte, von Wind und Wetter, von Haß und Liebe—kurz von jeder Form der Polarität her bekannt, die einzig auf unsere Sinne zu wirken imstande ist, und hat man zu allen Zeiten in dem Bewegten leicht und schon in den Kinderschuhen der Wissenschaft dies Gesetz des metrischen Bewegungswiederholens, dieses Pendelns der Erscheinungen sinnfällig beobachtet, so ist doch erst den neuesten Forschungen über Elektrizität, nämlich der Lehre von den Ionen und Elektronen, die Anschauung zu danken, daß auch die festesten Körper der Erde nur scheinbar fest sind, daß wir annehmen müssen, im inneren Gefüge des starren Steins eines Felsens kreisen Milliarden kleinster Teilchen mit einer so unendlichen Schnelligkeit und einer so vollkommen harmonischen Gleichmäßigkeit, daß unseren Sinnen so ein innerlich von rasender Bewegung durchströmter Körper eben fest nur erscheint, ähnlich wie ja auch das scheinbar festeste Ding der Welt, die Erde, in Wirklichkeit in sausendem Rhythmus der Selbstdrehung und der Drehung um die Sonne dahinrast. Es gibt schlechterdings vom heutigen Standpunkte aus nichts Festes mehr, sondern alles ist rhythmisch bis in die mikroskopischen Skelettgefüge hinein, mehr oder weniger in schwingender Bewegung, so daß der Unterschied der Aggregatzustände der Körper, fest, flüssig, luftförmig, sich als ein ganz ärmlicher Schulmeisterkniff herausgestellt hat, um den braven Faustlehrlingen statt des Brotes der Wahrheit den Stein gröbster Sinnentäuschung hinzureichen. Es müßte für einen phantasiebegabten Mathematiker eine seltsam lockende Aufgabe, wie ein letzter Triumph des mathematischen Gedankens sein, für jeden sogenannten festen Körper die Idealformel finden zu wollen, gewissermaßen die unendlich schnell rotierende lineare Kurve darzustellen, die, um ihre Achse sich drehend, dem Auge nicht minder wie der tastenden Hand den Eindruck des Körperlichen hervorruft. Nach Graßmann hat jede auch noch so komplizierte Form, jeder Kristall, aber auch jede amorphe Gestalt eines Körpers gewissermaßen ihr ideelles Rotationsskelett, ebenso wie etwa eine Kugel entstanden gedacht werden kann durch einen Komplex unzähliger konzentrischer Kreise, welche alle in den verschiedensten Achsen sich um- und durcheinander drehen. Hätte Graßmann doch die Zeit der elektrischen Analyse der Atombewegung erlebt, die uns zwingend gelehrt hat, daß tatsächlich alle Eigenschaften der Stoffe, auch ihre Form, Folgen unendlich variabler, rhythmischer Atomschwingungen, kleinster symmetrisch bewegter Stoffteilchen, der aktiven Elektronen, sind! Wir wissen jetzt mit aller Bestimmtheit, daß durch diese gleichmäßige, bis in das feinste Körpernetz ausgedehnte, symmetrische Atombewegung Farbe, Gefüge, Aussehen und das ganze Heer der physischen und chemischen Eigenschaften der Körper bedingt ist. Wir Modernen wissen also auch, daß der Rhythmus somit auch im Unsichtbaren oder auch nur Erschließbaren, selbst in der Idee der Dinge seine Macht entfaltet. Die Wellen, die das Meer aufwirft und am Widerstand der Düne verrinnen läßt, nur um im mikroskopischen Gefüge des Sandes, der Luft, der Pflanzen, der Tiere ihren Rhythmus weiter zu spinnen, sie durchrauschen auch das Meer der Luft, als Licht und Ton, als Elektrizität und Wärme in unendlich variabler Gestalt, und alles dies Bewegte, Wogende, Wellende ist nichts als die Urkraft "Äther", von dem Urwiderstand, in unausdenkbaren Variationen zu kleinsten Körperchen zusammengeballt oder zerrissen, die wiederum in unbeschreibbar zahlreichen Bewegungskurven sich untereinander umkreisen und tatsächlich nicht den Gegenstand stofflich ausmachen, sondern ihn immer kreisend, rollend, kurven- und wellenbildend jeden Augenblick von neuem bilden. Es sind Weberschiffchen, goldene Eimer, Tautröpfchen des Alls, die nach ewigen Gesetzen ihres Daseins Kreise mit Bewegung vollenden, und zugleich ist hier das Webende das Gewebte, der schöpfende Eimer ist der Trank, der Tropfen die neue Quelle! Die ganze moderne Elektrizitätslehre ist nichts als ein Hymnus auf den schwingenden Äther, aus dessen unendlich variabler Bewegungsschnelle um den Widerstand des Körperlichen alle Form und alle Bewegung geboren wird. Es könnte dem Denker schwindeln bei der Vorstellung, daß das Sandkorn mit seinen Milliarden schwingender Ätherklümpchen nichts mehr und nichts weniger ist als ein Weltall für sich, ein Weltall mit einem geschlossenen System sich umrasender Sterne, wenn nicht dieser Gedanke zugleich etwas unendlich Befreiendes hätte. Es gibt eben kein Groß und Klein in der Welt, die Sorgfalt des Gesetzmäßigen war nicht um ein Titelchen weniger intensiv beim Aufbau des Eiskristalles als bei der Komposition des Planetendiadems um den Edelstein Sonne. Weder im Größten noch im Kleinsten kennt die Natur eine Begrenzung, und jedes neue Untersuchungsmittel erweitert nur den Kreis der Probleme nach oben ins Gigantische, nach unten ins Winzigste! Also sind auch wir, die Menschen, denen die Sonne Augen schuf, um sie zu bewundern und in ihren Strahlen Leid und Glück dieser Erde


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