Von der Seele. Carl Ludwig Schleich
ist ihr und uns gleich wert. Lehrt diese Lehre nicht eine grandiose Pietät nicht nur gegen das Mitlebende, sondern auch gegen das Mitunbelebte?
Da es nun also feststeht, daß aus allem Sichtbaren und Unsichtbaren (alles als physikalisch bewegte Materie gedacht) ein unendlich komplizierter Bewegungsrhythmus sich gleichsam herauskristallisieren läßt, da es nun auf der Welt nichts Unbewegtes und nichts Arhythmisches geben kann, so muß auch das Organische dem Gesetze des Rhythmus in gleicher Weise unterstellt sein. Und in der Tat ist ja die Lehre von der Determination nur eine Variation von der rhythmischen Abhängigkeit auch alles organischen Geschehens vom Rhythmus des Weltganzen. Was wir Geschick oder Zufall nennen, ist immer nur der Schnittpunkt, wo der Rhythmus des inneren Lebens mit dem Rhythmus des äußeren zusammentrifft.
Wenn man sagt mit Darwin, das Organische hat sich den wechselnden Bedingungen angepaßt, so kann man das bis in die gleichsam mikroskopische Denkweise auch so ausdrücken, daß der Rhythmus der organischen Substanz in Bewegung sich, um lebensfähig zu sein, stets dem Rhythmus der Gesamtheit einfügen mußte. Leben konnte also nur bestehen in gleichsam konzentrischer Einfügung des Einzelrhythmus in den kosmisch-tellurischen Gesamtrhythmus. Wenn dieser Allrhythmus variierte, so mußte also auch der Sonderrhythmus folgen, und so löst sich für uns die Entwicklungslehre auf in eine Lehre von der variablen Hemmung als eigentlicher Gestalterin der Variationen der Lebenserscheinungen, welche stets dem Hemmungsfortfall der Weltbewegungen als Ganzes gedacht unweigerlich folgen mußten und noch müssen. Solche Hemmungsfortfälle und rhythmischen Variationen sind nun im All und auf Erden durch Versinken und Erlöschen zahlloser Welten direkt erweislich, und ich bekenne mich in diesem Sinne ohne Zögern zu einer Art moderner Astrologie, wonach das Organische sehr wohl seine Bildungsvariationen dem kosmischen Geschehen verdanken kann und wonach die Form der Lebewesen, die Entwicklung neuer Arten vielmehr buchstäblich im Himmel beschlossen wird als auf unserem winzigen Planeten. Der mechanische Weg dieser Abweichungen wird uns einzig und allein verständlich mit dem Bilde der rhythmischen Einbeziehung alles Mitbewegten in den Strudel des Weltganzen, der in den Nebeln des Orion nicht weniger am Werke ist als bei der Bildung einer Emulsion aus Fett und Wasser oder dem Zusammenrühren einer Mayonaise. Der Weltallsrhythmus weist auch dem Organischen Pole und Äquator zu und gibt ihm, seinem eigenen gewaltigen Takte eingefügt, das stabil-harmonische Gleichgewicht. Zu diesem Gleichgewicht gehört, was meines Wissens noch nie betont ist, auch die Form, die, wie wir nun gezeigt haben, ja sich mit Hilfe der Elektronenlehre sehr wohl auffassen läßt als in direkter Abhängigkeit von der Rhythmik der Atome.
Die gesamte Morphologie wird sich einst auflösen lassen in eine ideelle Rhythmologie! Wie aber sollen wir uns überhaupt die Rhythmik des Organischen vorstellen? Wie konnte sich vom anorganischen Kreisen der Materie, gleichsam gegen den Gesamttakt, die Synkope des Lebens loslösen?
Nun, die Wissenschaft der Kristallisationen und der Kolloidalsubstanz, die Chemie der Eiweißvorstufen der Peptone und Albumosen erkennt einen prinzipiellen Gegensatz zwischen belebter und unbelebter Substanz schon lange nicht mehr an. Mit Fug und Recht kann man jetzt schon von einem Kristalleben sprechen, wie von Haß und Lieben der Elemente. Die Wahlverwandtschaft im Goetheschen Sinne ist längst ein chemischer Begriff, und schon lange hat man das Lächeln verlernt über den alten Fechner, welcher kühn den Sternen und auch der Erde alle Kriterien lebendiger Wesen zusprach. Aber trotz allem bleibt dem organischen Leben deutlich ein Sonderrhythmus übrig, der mit der vielleicht nur scheinbaren Freiheit der Bewegungen der belebten Materie eine Ausnahmsstellung vom starren und konstanten Rhythmus des Anorganischen sichert. Möglich, daß keine anderen Gesetze im Organischen walten als im Unorganischen, eine durchgreifende, prinzipielle Variation des Kräftekreises muß doch stattgefunden haben, damit die Materie zum Stoffwechsel, zur Eigenbewegung, zur Fortpflanzung, schließlich zum Denken gelangte.
Ich will hier der Versuchung widerstehen, ein neues Märchen der Schöpfungslehre auszuspinnen und es den wundervollen Dichtungen der Bibel und dem Traum Goethes und Darwins, dieser beiden Patriarchen des Entwicklungsgedankens, anmaßlich anzureihen—um ein Märchen mit dem Beginn "es war einmal!" kommen wir ja bei den Schöpfungsphantasien nie herum, denn kein Mensch wird je wie Mephisto ausrufen können: "wir waren selbst dabei"—: ich will nur auf die Möglichkeit hinweisen, daß ein Fortfall kosmischer Hemmungen bestimmend gewesen sein kann für eine bis dahin neue, aber doch im Wesen der allmächtigen Kräfte liegende Variante kompliziertester Rhythmen, die wir eben Leben nennen.
Unter der Faust der Hemmungen mag sehr wohl das rhythmische Gefüge des Anorganischen unendlich konzentriert und zu besonders dichter, latenter Energie in den Stickstoffverbindungen zusammengepreßt, gleichsam zu einer unendlich komplizierten Kraftspirale aufgezogen und verankert worden sein, bis dann wieder durch himmlisches Geschehen die letzte Hemmung der aufgespeicherten latenten Kräfte fortfiel: gleichsam wie lebendiges Gewürm hervorquillt unter einem erhobenen Stein, wo es zuvor dem Auge unerreichbar in Fesseln lag, oder wie ein Schlüssel, ein Funke, ein Schlag, ein Sprung eines Kessels Dinge sind, die aufgespeicherten Energien Gelegenheit zum Hervorbrausen gewaltiger Spannungen Veranlassung gibt. Schließt nicht die befruchtende Samenzelle, das Spermatozoon, am Ei mit goldnem Schlüssel die Hemmungen auf, so daß sich die verborgenen Wunderwerke des Leibes auftun und emporblühen zu königlichen Thronen des Lebens und der Gedanken? Schläft nicht alles Leben im Mutterschoß wie Dornröschen in den Hecken, bis ein einziger Ritterkuß den hemmenden, bannenden Zauberschlaf hinwegscheucht? In sich geschlossen, in immer gleichem Rhythmus um sich selber kreisend, liegen die anorganischen Bausteine wie in einer undurchdringlichen Zauberkapsel, bis der Keim der Befruchtung eindringt, die Hemmung aufschließt und sich das Werk vollendet. Was ist denn Zeugung und Ernährung anderes, als ein ewiger Austausch verschiedenartigster rhythmischer Spannkräfte auf kleinstem Raum der Zellsubstanzen zusammengepreßt, ein dauerndes Kartenmischen tierischer und pflanzlicher Rhythmenträger durcheinander? Was ist Arzenei- und Giftwirkung anders, als das Eingreifen aufgesammelter, von der Sonne akkumulierter Spannkräfte in die Rhythmen des organischen Geschehens? Wie kann eine Außenkraft dem inneren Gefüge anders nützen, als indem sie Schwungkraft den ermattenden Rhythmen hinzufügt? Das Leben wird nur vom Leben gepeitscht, getrieben, emporgehoben wie der brodelnde Schaum der Flüssigkeiten, in die ein Tröpfchen Säure fällt. Auch in chemischen Verbindungen werden Hemmungsketten fortgerissen, damit latente Kräfte zu neuen Formenkreisen sich stabilisieren. Ich will das berauschende Bild, wo Rhythmus sich zum Rhythmus gesellt, um neue Formen hervorzubringen, nicht weiter ausspinnen, es genügt mir, die Möglichkeit betont zu haben, daß das Leben nichts ist als eine neue, durch Hemmungsfortfall ermöglichte rhythmische Wellenform der sogenannten unbelebten Kräfte. In diesem Sinne kann in der Tat das Leben rhythmisch als eine Synkope des Weltallrhythmus, als eine Sondertaktbewegung, nur scheinbar losgetrennt von der Symphonie des Ganzen, definiert werden. Es mag einen langen Schlaf gehabt haben im ewigen Barbarossagrab: der Felsen brach, die Hemmung fiel, und die junge Majestät des Organischen stieg auf den Thron der Erde.
Wenn wir diese Anschauungen in uns lebendig werden fühlen, so muß natürlich zwingend das Motiv des Rhythmischen in allen Phasen des menschlichen Betriebes, körperlich und geistig, nachweisbar sein. Es ist längst bekannt, welche Rolle die Periodizität im Körperlichen und Geistigen spielt, wie die ganze Summe physischen und psychischen Geschehens in unserem Leibe und unserer Seele in dauernder Abhängigkeit vom Rhythmus ist, von dem wiederum gar nicht anders zu denken ist, als daß er in Harmonie mit dem Welttakte sein muß, um nicht einfach hinweggefegt zu werden vom Schwungrad des Kosmos, wie ein Sonnenstäubchen vom wehenden Atem. Ich will niemand behelligen mit der Aufzählung aller physiologischen und pathologischen Periodizitäten, den Bedingungen des Pulsschlags und der Atmungszahl, den periodischen Sekretionen, Schlaf und Wachsein, Pubertät und Adynamie, Ein- und Ausgabe der Nahrungsmittel, nicht mit der Rhythmik der Schmerzanfälle, der Krämpfe, der Zuckungen, Wallungen und Blutungen, ich will nur verweilen bei dem psycho-physischen Grundgesetz des Rhythmischen auch im menschlichen Leben und will den Mechanismus zu ergründen suchen, auf dem sich auch dieses psycho-physische Geschehen auf einem Widerspiel zwischen Aktion und Hemmung, als dem eigentlichen Grunde der Rhythmik, aufbauen läßt. Ich muß hier bemerken, daß ich alles seelische Geschehen in Abhängigkeit setze von einer Aktion der Nervenströme und einem Hemmungsmechanismus, einer Art periodischer Isolation durch die Neuroglia, bzw. von dem sie durchströmenden Blutsafte, welcher ja nach Ritters Untersuchungen aus Biers Schule in der Tat stromhemmende,