Tod.Ernst. Dave Cousins
«Einfach, oder?»
Grauenhaft einfach und total wahnwitzig. Gott sei Dank ist es nur ein dämlicher Traum.
«Jetzt kommt noch etwas Wichtiges, Alex.» Gerry packt meine Schultern und zieht ein ernstes Gesicht. «Du musst dich daran erinnern, was hier geschehen ist. Du musst daran glauben!»
Meine Wangen werden heiß. «Ja, natürlich!» Obwohl ich bereitwillig nicke, ist mir das alles plötzlich sehr unangenehm. «Äh … und wenn es mir kurz entfällt oder wenn ich beim Aufwachen glaube, es sei alles nur ein Traum?»
«Echt? Ich hätte dich für klüger gehalten.» In seiner Stimme klingt nun eine gewisse Schärfe mit. «Dieses Traumding ist ein blödes Klischee, Alex. Wenn du es vergisst oder verdrängst, wirst du höchstwahrscheinlich genau das Gleiche tun wie vorher und das gleiche Ergebnis erzielen.» Er weist mit dem Kopf auf das tote Mädchen.
«Aber das kann ja eigentlich nicht passieren, oder? Das kann ich doch gar nicht vergessen!»
«Es gibt leider keine Garantie, denn das hängt davon ab, wie dein Gehirn mit einem eventuell noch vorhandenen Sterbetrauma umgeht.» Gerry zeigt auf das Glas, das ich in der Hand halte. «Trink das Wasser lieber aus. Der Flüssigkeitspegel kann in Bezug auf die Schmerzen bei einem Neustart viel ausmachen.»
«Schmerzen?»
«Du bist gestorben, Darling. Da geht’s nicht einfach ohne Nebenwirkungen weiter.» Er lächelt. «Hattest du schon einmal einen Kater?»
Ich nicke und zucke bei der Erinnerung zusammen.
«Tja, ich muss gestehen, so wird es im Allgemeinen wahrgenommen. Wenn du aufwachst, fühlst du dich wie nach einer sehr harten Nacht!»
«Na super!»
«Besser als die Alternative, das kann ich dir versichern. Oh, und noch etwas: Beim Aufwachen hast du die ersten fünf Stunden nach dem Neustart bereits verschlafen, also würde ich mich an deiner Stelle ranhalten. Bist du bereit?»
«NEIN!»
Wie eine Flut rauscht Schwärze von allen Seiten auf mich zu. Als Letztes sehe ich ein blendend weißes Lächeln in der Luft hängen, das unmittelbar von dem Gefühl begleitet wird, als hätte mir jemand voll ins Gesicht geschlagen.
1DAS ALEXANDRA-SYNDROM
Ich höre Gesang. Lieblich. Besänftigend, vielleicht ein Engelschor. Mein Körper schwebt, sinkt zurück in den Schlaf … und in warmes dunkles Vergessen …
Eine Kreissäge von Gitarre bricht kreischend in das Wiegenlied hinein und holt mich zurück. (Ich habe diesen Song aus gutem Grund zum Wecken ausgesucht.) Obwohl ich eigentlich die Augen lieber immer noch nicht aufschlagen würde, kann ich die innere Alarmglocke, die mich schrillend auf etwas hinweist, nicht ignorieren. Es ist dringend und benötigt meine Aufmerksamkeit.
Es geht um die Toilette.
Ich taumle aus dem Bett quer durchs Zimmer und fluche, weil mein Schädel so furchtbar wehtut und mir mein aufgewühlter Mageninhalt hochkommt.
«Wo zum Teufel kam das denn her?»
Meine Stimme hallt durch die Kloschüssel.
So muss sich der weltschlimmste Kater anfühlen.
Abgesehen davon, dass ich nichts trinke.
Seit dem letzten Mal.
Es sei denn …
Doch in dem Moment, wo ich mich an letzte Nacht erinnern will, fühlt es sich an, als hätte mir jemand eine Axt in den Schädel gerammt und würde versuchen, sie wieder herauszuziehen. Ganz schlecht. Glaubt mir.
Ich wanke zum Waschbecken und lege meinen feuchten Kopf einen Augenblick lang auf meine zitternden Arme. Als ich aufschaue, blickt mir ein totes Mädchen aus dem Spiegel entgegen, mit blutunterlaufenen Augen in tiefen Höhlen, die Haut so blass, fast durchsichtig – ein Geist. Die hohläugige verwesende Leiche meines früheren Ichs. Offenbar werde ich krank.
Aber was kann ich nur haben, dass ich so furchtbar aussehe und mich genauso fühle?
Sofort türmen sich unliebsame Vorschläge wie schmutziges Geschirr in mir auf: Gehirntumor, Herzinfarkt oder irgendeine bisher unentdeckte Krankheit, bei der man sich fühlt, als hätte jemand einem einen Holzpflock durchs Auge gestoßen und das Gehirn rausgetrieben.
Das passt. Ich werde an einem seltenen Fall von Gehirnablösung krepieren. Damit werde ich berühmt.
Tot, aber berühmt.
Auf jeden Fall schaffe ich es auf die Titelseite der Hardacre Gazette: STADT TRAUERT UM TOTE SCHÜLERIN. Mein Gesicht wird in unserem Viertel auf Katzenstreusäcken abgebildet, und anerkannte Ärzte schreiben Artikel oder geben Vorlesungen über mich. Vielleicht benennen sie das Leiden nach mir – zum Beispiel die «Ernst-Erkrankung» oder das «Alexandra-Syndrom» oder «Morbus Alexis»? Das klingt gut, finde ich, wenn man davon absieht, dass ich vorher daran sterben muss.
Meine Kopfschmerzen treiben den Holzpflock eine Umdrehung weiter.
Es könnte natürlich auch am Schlafmangel liegen. Um halb zwölf war ich noch wach – ich erinnere mich daran, weil ich in Tashs Küche auf die Wanduhr geschaut habe.
Was rede ich denn da? Gestern Abend war ich gar nicht bei meiner Freundin Tash. Ich war … Bilder von Orten und Menschen gehen mir bruchstückhaft durch den Kopf, aber sie sind zu vage und zu fern, um sie festzu halten. Sie können auch gar nicht stimmen, weil ich gestern Abend hier war – allein. Anscheinend habe ich Wahnvorstellungen.
Mein Hals fühlt sich an, als hätte ich Glasscherben gegurgelt. Kopfschmerzen und Durst bis zum Umfallen? Irgendwo habe ich gelesen, dass dies klassische Symptome für etwas ganz Schreckliches sind. Ich nehme die Zahnbürsten aus dem Becher und halte ihn unter den Wasserhahn. Das Wasser schmeckt nach Minze und etwas körnig, ist aber trotzdem einfach himmlisch. Ich trinke den Becher aus und fülle ihn erneut.
Vielleicht fehlt mir nur Flüssigkeit.
Aber Flüssigkeitsmangel ist keine ausreichende Erklärung für diese entsetzlichen Schmerzen. Und wenn es nun doch ein Tumor ist?
Ich gehe lieber wieder ins Bett.
Aber etwas nagt in meinem Hinterkopf und will sich durch die Kopfschmerzen und die Übelkeit bohren, beharrlich und drängend, als wollte es mir sagen:
DAS MUSST DU DIR ANHÖREN – JETZT!
Als ich die Uhrzeit auf meinem Handy sehe, fluche ich.
ARBEIT! Natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Warum sollte ich sonst an einem Samstag um zehn vor sechs aufstehen?
Trotzdem merkwürdig – ich hätte schwören können, dass heute Sonntag ist.
Um genau zu sein, kann ich mich daran erinnern, dass ich gestern aufgestanden bin, um arbeiten zu gehen.
Doch sobald ich diese Erinnerung festhalten will, entgleitet sie mir.
Ich prüfe das Datum. Eindeutig Samstag, schon wieder! Anscheinend verfliegen die Wochen im Nu, wenn das Leben eine lustige Achterbahnfahrt ist wie meins.
Bevor ich noch einen Gedanken fassen kann, fängt mein Handy erneut zu trällern an.
2MEIN HELD
Das dürfte Dad sein, der hören will, ob ich die Nacht überlebt habe. Wenn er auswärts arbeitet, ruft er morgens sofort an. Er macht sich Sorgen, wahrscheinlich weil wir nur noch zu zweit sind und ich, wie er andauernd betont, sein Ein und Alles bin. Die Frau zu verlieren ist schlimm genug, aber Frau und Tochter – das würde er wohl nicht überleben.
«Hey, Dad!» Ich lege meine beste Good-Day-Sunshine-Stimme auf, aber heute Morgen klingt sie ein wenig wolkenverhangen. Vielleicht merkt er es nicht.
«Ich wollte nur mal sehen, ob du auch aufgestanden bist.