Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen. Max Herrmann-Neisse
ihm zugute, daß er keine sehr sinnliche Natur war und unter Anfechtungen fleischlichen Gelüstes nicht zu leiden hatte.
Zur Bernert-Paula brachte ihn seine Vorliebe für die Unterdrückten und Benachteiligten, sein Mitleid mit jeder vom Schicksal schlecht behandelten Kreatur. Er lernte sie auch unter Umständen kennen, die sie ihm als ein bedauernswertes Opfer der grausamen Feigheit körperlich Überlegener erscheinen ließ.
Nachdem ihr das Verfahren mit Elfriede Kausch so gut gelungen war, hatte Paula den Musiker Kusche, dem für seine Helferdienste sehr konkrete Genüsse versprochen worden waren, immer wieder hinzuhalten gewußt. Zuletzt wurde sie übermütig und erlaubte sich unangebracht freche Späßchen mit ihm, bestellte ihn hinaus nach Davidshöhe und versetzte ihn dort, oder lud ihn, war ihre Mutter auf Arbeit, bei sich ein, hatte dann noch zwei, drei Mädel zu Gast und es kam zu nichts als einem durch albernes Geschwätz verlornen Nachmittag.
Nun aber hatte der Hoboist genug und eine massive Wut im Bauche, Zeit war es, der unverschämten Vogelscheuche einen Denkzettel zu erteilen, und er legte sich auf die Lauer. Und da Paula nicht auf ihrer Hut war, längst nicht mehr an den unwichtigen Hoboisten dachte, war er eines Abends nah am Ziel seiner gut vorbereiteten Rache.
An diesem Abend war Paulas Mutter über Erwarten früh nach Haus gekommen. Eigentlich stand ein kurzer Besuch von Frau Elfriede bevor, aber was Paula mit ihr besprechen wollte, ging die alte Bernert nichts an. Also galt es, Elfriede auf der Straße abzufangen. Kusche hatte den Jungen, der Frau Gollers Botschaft überbringen sollte, bestochen, Elfriedes Briefchen gelesen. Als er frühzeitig die Alte nach Haus kommen hörte, machte er sich auf Überraschungen gefaßt und bezog in der Flurnische einen Beobachtungsposten. Diesmal lohnte sich’s. Bald ging die Tür, tapp tapp tapp kam es den langen, winklig verbauten Korridor entlang.
Plötzlich wird Paula gepackt, bekommt sie erst mal zwei zünftige Watschen, und dann fängt der gräßliche Kerl an, Paula Stück um Stück auszuziehen. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen, so gut sie kann, schlägt, stößt, beißt, wagt aber keinen Hilfeschrei. Oben war Mama, unten nahte vielleicht schon Frau Elfriede – es war eine peinliche, allerlei unliebsamen Komplikationen ausgesetzte Situation.
Da knarrte wirklich das Haustor. Paula wußte nicht, ob sie vor dem, was da kam, bangen oder sich darauf freuen sollte. Kusche war jedenfalls so in Rage, daß er nichts hörte. Mit einem Mal ergriff ihn jemand am Kragen, beutelte ihn gehörig hin und her, die ehrliche Entrüstung gab dem schmächtigen Klose-Emil außergewöhnliche Kräfte. Paula sah keinen andren Ausweg, als einen Ohnmachtsanfall vorzutäuschen. Sofort war Emil um sie bemüht, und Kusche entwich schleunigst. Paula, in ihrer Kleidung ziemlich außer Rand und Band, präsentierte sich ihrem Retter besinnungslos in möglichst vorteilhafter Position. Er sah ein aufreizend schmales Bein, schwarz bestrumpft, mit rotem Band, darüber eine Handbreit nackten Schenkel, weiße Spitzenhose, dann blickte er erst mal diskret weg, um weiter oben, auf verkümmertem Brustkorb, immerhin zwei niedliche Wölbungen mit keck rosigen Tüpfchen zu bemerken, was ihn, wider seinen Willen, doch in unerklärlicher Weise nervös machte. Paula spürte sofort ihren Eindruck auf den unbekannten Retter, entschloß sich, zu erwachen, und kam mit Seufzern, Augenverdrehen, niedlich erstauntem Ach zu sich. Tat, als entdecke sie nun erst ihre Entblößung, machte übertrieben schamhafte Gesten, bat den Beschützer, sich umzuwenden, und brachte ihre Kleider in Ordnung. Dann schleppte sie sich, auf seinen Arm gestützt, bis zum Haustor, dankte artig für seine Hilfe, aber nun sei sie gänzlich ungefährdet. Er stellte sich förmlich vor: Klose-Emil, wollte eine polizeiliche Anzeige machen. Da lenkte sie ein. Es handle sich um einen armen Irren, der nicht wisse, was er mache, man dürfe das seiner armen alten Mutter nicht antun, deren einziger Ernährer er sei. Emil dachte begeistert: »Engel, Heilige du!« küßte der Geschmeichelten, fast Erschreckten die Hand und wurde für die nächste Mittagspause in die Zerboni-Promenade bestellt. Diese Rettungstat, die ihm selbstverständliches Beispiel gegenseitiger Menschenhilfe schien, verschwieg er zu Hause schamhaft.
Im grellen Sonnenlicht des andern Tages kam Paulas Mißgestalt allerdings so kraß zum Vorschein, daß Emil im ersten Augenblick erschrak. Da er aber unter allen Umständen anständig handeln wollte, und sein vernunftsmäßiger Entschluß dort, wo seine Befolgung schwerfiel, erst recht für ihn galt, zwang er sich, noch liebenswürdiger zu Paula zu sein, als er sich ohnehin vorgenommen hatte.
Paula war allerdings zuerst gar nicht klug daraus geworden, wes Geistes Kind er sei. Er hatte so eine schwülstige Art, von der Ungerechtigkeit in der Welt zu reden, und setzte zuviel Bildung voraus, andrerseits vertrat er über die natürlichsten Dinge gradezu kindliche Vorstellungen. Er war weder Kusche noch Hanke. Aber grade, daß er ein so seltener Vogel war, reizte sie. Und er gab ihr gleich beim ersten, ganz platonischen Zusammensein, die zwei Mark, um die sie ihn mit einem dürftigen Vorwand anpumpte.
Sie gewöhnten sich aneinander. Paulas natürliche Rudelhaftigkeit fand Wohlgefallen an seinem doktrinären, doch ernsthaften Rebellentum. Sie einverleibte sich papageienhaft den Wortschatz seiner Propaganda – wer wußte, wozu es gut war? Irgendwann konnte man alles einmal gebrauchen. Er aber war sehr froh darüber, daß er eine so willige Zuhörerin und gelehrige Schülerin gefunden hatte.
Zuerst teilte er sein holdes Geheimnis dem Vater mit. Der war gleich Feuer und Flamme: eine proletarische Seele wurde durch seinen Sohn für den revolutionären Glauben gerettet. Emil mußte ihn bald mit ihr bekannt machen. Und Paula und der Kolporteur verstanden sich sofort ausgezeichnet. Diesem lustigen alten Herrn gegenüber war der Ton von vornherein gegeben: sie verwandte die politischen Sprüche, die sie bei Emil aufgeschnappt hatte, sang des Sohnes Lob, plinkte Herrn Klose vertrauenserweckend zweideutig an, daß er einen väterlich tätschelnden Griff riskierte, kam dem mit rausgestrecktem Podex entgegen und schmeichelte seiner Eitelkeit, indem sie mit einer Bemerkung den galanten Fähigkeiten der Generation der Väter den Vorzug vor dem bedenklichen Zustand der Söhne gab.
Eines Nachmittags – während Emil, über die Lupe gebeugt, ins Räderwerk einer Uhr äugte – saß Papa Klose, Lebemann alter Schule, mit Paula im Hinterstübchen des »Preußenhofes«. Er erzählte, um Mitleid werbend, von seiner Frau, die ihn in geistigen Dingen im Stich lasse, unverstanden und einsam sei er, und faßte Paula um die Taille. Da gestand sie, daß es ihr mit ihrer Mutter ganz ähnlich ginge: rückständig sei sie im höchsten Grade, Paula aber natürlich durchaus freiheitlich gesinnt. Worauf sie sich küßten und das elektrische Klavier: »Wer uns getraut« spielen ließen. Von Emil zu reden vermieden beide. An dieser künstlich erleuchteten Stätte schäbiger Gelegenheitsmacherei waren sie, indes draußen über weiten Wiesenfiächen die Sonne schien, zwei mit Vorbehalt und ohne Liebe zum erotischen Handel Bereite. Madame Klapper drückte zwei Augen zu. Bei sich mißbilligte sie des Familienvaters Klose sträfliche Verirrung, denn sie war in ihrem Privatleben eine solide Bürgersfrau, die leider durch ihre geschäftlichen Erfahrungen ihre Überzeugung von der Unzuverlässigkeit des männlichen Geschlechtes immer wieder bestätigt fand. Zimmer sieben beherbergte dreißig Minuten lang ein seltsames Paar, und Papa Klose lernte allerlei hinzu.
Den schwerfälligen Emil verführte sie etliche Zeit später, es war eine mühselige Sache und sie mußte ihn endlich bei seiner Rebellenehre packen. Ob er sich denn vor dem Odium scheue, ohne staatliche Genehmigung ein Mädchen liebzuhaben? Oder liebe er sie etwa nicht mehr, sei er ihrer überdrüssig geworden, hätte er eingesehen, daß sie mordsgarstig wäre? Dieser Appell an sein revolutionäres Kavalierstum schlug ein. Paula lockte ihn in den nämlichen »Preußenhof«. Das Vorspiel mit elektrischem Klavier und Weinspende fiel diesmal aus, Madame Klapper war so taktvoll, ihnen Zimmer fünf anzuweisen, und Paula vergoß hinterher Tränen und ließ sich schwören, daß Emil sie heiraten würde, wenn er nicht aus Prinzip jede Konzession an bürgerliche Bräuche verabscheue.
Er setzte aber durch, daß Paula in die Wohnung seiner Eltern zog. In einem Hause, in dem sie immer den Nachstellungen des Musikus ausgesetzt sei, könne er sie nicht länger lassen. Paula half etwas nach, brach mit ihrer Mutter einen Zank vom Zäune, nahm die bei ähnlicher Gelegenheit oft geäußerte Aufforderung: »Scher dich zum Teufel!« wider Erwarten ernst und erschien bei Kloses als bedauernswertes Opfer, das von einer Rabenmutter grausam verstoßen worden war. Natürlich war Emil mitleidsvoll um seine Braut bemüht, Vater Klose hätte keinen Protest riskieren können, auch wenn er es gewollt hätte, und Frau Klose hatte ja