Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger
das geschieht bei Marcel Proust, wie schon gesagt, in Klausur. Wie ein Hieronymus im Gehäuse sitzt Marcel Proust in seiner kreativen Höhle. Wir Menschen sind Prärietiere, aber auch Höhlentiere. Nur in Verschlossenheit lassen sich Geist, Peripherie und Zentrum einer Zeit gleichzeitig einfangen. Wie Arachne, die Weberin aus Byzanz, die von der neidischen Konkurrentin Athene in eine Spinne verwandelt wurde, weil sie auf Kleidern die Geschichte ihrer Zeit schöner erzählte als die Göttin, »spinnt« Proust – bis zur Erschöpfung, unter Einsatz seines Lebens – in seinen dunklen Räumen.
Ein im positivsten Sinne »dienender« Text wie das PROUST- ABC, das uns diese erzählende Quelle auffindbar macht und in ihr navigiert, ist ein Geschenk. Er ist ein Lustgenerator für die Wissensbegierde. Ein solches ABC ergänzt auf wohltuende Art das, was Literatur von sich aus vermag. Wir erleben heute Literatur im Kontext der Algorithmenwelt von Silicon Valley: einer riesigen Überredungskunst und einer technischen Verfügungsgewalt. Am Gegenalgorithmus zu dieser Algorithmenwelt arbeiten die Patrioten der »Bibliothek von Alexandria«, die Liebhaber der Literatur. Der Gegenalgorithmus ist den allmächtigen Algorithmen nicht feindlich gesinnt, sondern fähig, einzudringen in die gewaltigen Leerräume, die die Algorithmen offenlassen. Algorithmen funktionieren wie die Hofhaltung im Märchen von Dornröschen. Das goldene Geschirr reicht gerade für 12 weise Frauen im Lande. Also wird die 13. Fee ausgeschlossen. Liebhaber der Literatur bleiben Anwälte der 13. Fee.
Ein ABC scheint zunächst ein technisches Instrument unserer Schriftkultur. Als solches ist es komplex, und im Baskischen funktioniert es anders als im Chinesischen. Dem Alphabet verwandt ist aber auch die DNA, die Schrift unseres Genoms. Wir tragen diese SCHRIFT AUS NUR VIER BUCHSTABEN täglich in uns, in unseren Zellen, in unserem Gehirn, in unseren Ohren und auch auf dem größten Organ, das wir besitzen, der Haut. Der Gegenspieler dieser DNA, ein nicht alphabetisierbares, robustes, primitives, aber dennoch intelligentes System, sind die RNA-Partikel, z. B. das die Quarantäne-Schranke setzende Coronavirus. Letztlich sind aber auch die Schreibweisen des Kosmos und der Quanten Schriften und Alphabete. In dieser Vielfalt als einem Ozean der Verständigungen bewegen sich die Flöße der Literatur. Man wünschte sich viele ABCs, viele Rhizome, deren Wurzeln zum Himmel weisen, hin zu den Texten.
Der abgeschottete Raum, in dem Marcel Proust dichtet und lebendig ist, ist wie ein Fernrohr und zugleich wie ein Mikroskop. Wie ein Innenohr verdichtet er die Töne. Wie in der Zelle eines Schreibers im 12. Jahrhundert sitzt der Autor in seinem abgeschlossenen Raum, seinem räumlichen und zeitlichen Erkenntnisinstrument, seiner astronautischen Laube. Ich glaube, dass unsere Zeit uns, auch mit dem Zeichen des Virus, den Gebrauch unserer Sinne und den Gebrauch der Schrift neu lehrt. Ich bin glücklich, das PROUST-ABC hier vorstellen zu dürfen: ein Instrument, so wichtig wie der Bleistift, wie ein Inhaltsverzeichnis, wie ein Notizblock für neue Einfälle.
Alexander Kluge, im Juni 2020
Abraham
Als der ►Erzähler im »Drama seines Zubettgehens« zu Beginn von Combray versucht, sich den ►Kuss der Mutter zu erzwingen, erscheint der drohend herannahende Vater in der Gestalt Abrahams: »Er stand noch vor uns, […] mit der Geste in dem Stich nach Benozzo Gozzoli, den mir Swann geschenkt hatte, als Abraham Sarah befiehlt, von Isaaks Seite zu weichen.« Es zeigt sich deutlich die zwiespältige Rolle, die der Vater im Roman spielt: Zwar erlaubt er Sohn und Mutter, den versäumten Gutenachtkuss nachzuholen, ja sogar die Nacht gemeinsam zu verbringen; seine willkürliche Entscheidung aber fördert die nervöse Schwäche des Sohnes und untergräbt die Erziehungsprinzipien von Mutter und Großmutter, die keine Ausnahmen dulden. Insofern opfert hier der Vater tatsächlich wie Abraham den eigenen Sohn: Er verschafft ihm augenblickliche Erleichterung und beendet seine Angst, leistet aber auch jener Schwäche Vorschub, die Marcel immer wieder an der Verwirklichung seines Romanprojekts hindern wird: »Von jenem Abend her, an dem meine Mutter einen Rückzug angetreten hatte, rührte, zugleich mit dem langsamen Tod meiner Großmutter, der Niedergang meines Willens, meiner Gesundheit. Alles hatte sich in dem Augenblick entschieden …«
Provokant wirkt diese Rollenverteilung im Drama des Zubettgehens auch, weil sie die religiöse Konstellation der Familie Proust umkehrt: Die geliebte jüdische Mutter wird im Roman zur Christin, der christliche Vater dagegen erscheint als bedrohliche alttestamentarische Figur. Hier findet die Tatsache Niederschlag, dass Proust sich zeit seines Lebens immer wieder damit auseinandersetzen musste, gleich zwei gesellschaftlich verachteten Minderheiten anzugehören: den Juden und den Homosexuellen. Der Roman hält das von Proust persönlich ungelöste Problem in der Schwebe, indem sich der Erzähler nie explizit zu ►Judentum oder ►Homosexualität bekennt, aber anhand zahlreicher Figuren sowohl den zeitgenössischen ►Antisemitismus als auch die Homophobie reflektiert.
Académie française
Die Académie française wurde 1635 unter Louis XIII von Kardinal Richelieu gegründet, mit der Absicht, die schon länger üblichen Zusammenkünfte berühmter Schriftsteller in eine feste Institution zu binden und dieser die Aufgabe zu übertragen, die Regeln der französischen Sprache verbindlich festzuhalten und ihre Einhaltung zu überwachen. Zu Prousts Zeiten bedeutete es – wie noch heute – die höchstmögliche Ehrung für einen Schriftsteller, Mitglied der Académie zu werden. Proust selbst hat gegen Ende seines Lebens Freunden gegenüber die Hoffnung formuliert, unter die 40 »Unsterblichen« – wie die Mitglieder sich nennen – aufgenommen zu werden. Das hindert ihn aber nicht daran, in seinem ►Roman die Académie als intrigante Institution zu entlarven, die ihre Mitglieder weniger nach literarischem Talent als nach korrekter politischer Orientierung und gesellschaftlichen Beziehungen auswählt. Einer der ehrfürchtigsten Bewunderer der Académie ist Norpois, der sich, ähnlich dem ►Vater des Erzählers, durch politischen Opportunismus und mangelndes Kunstverständnis auszeichnet: Er erkennt weder das Talent Bergottes noch das des künftigen Erzählers. In Bergottes Haltung zur Académie spiegelt sich Prousts eigene, die zeigt, dass auch das größte literarische Genie nicht vor Eitelkeit und ►Snobismus gefeit ist: »Ihm war deutlich geworden, dass er über Genie verfügte, aber er glaubte es nicht, denn er fuhr fort, Ehrerbietung gegenüber mittelmäßigen Schriftstellern zu heucheln, um bald Akademiemitglied zu werden, obwohl die Akademie oder der Faubourg Saint-Germain ebenso wenig mit jenem Teil des unsterblichen Geistes zu tun haben, der Bergottes Bücher geschrieben hat, wie mit dem Kausalitätsprinzip oder dem Gottesgedanken.« Die neuere Forschung zeigt, dass diese skeptische Haltung gegenüber dem künstlerischen Karrierestreben von Proust erst in der endgültigen Fassung des Romans stark betont wird, die frühen Texte und Entwürfe sich dagegen durchaus strategisch mit den Möglichkeiten einer Karriere als Autor beschäftigen.
Agostinelli, Alfred (1888–1914)
Zunächst Chauffeur Prousts (1907–08) und später sein Geliebter (1913–14); in dieser Zeit stellt Proust ihn als Sekretär ein und besorgt seiner Frau eine Arbeitsstelle. Die Begegnung mit Agostinelli führt zu einer radikalen Umstrukturierung des ganzen Romans, da Proust nach dem Tod des Geliebten in das ursprünglich dreiteilig geplante Werk neue, unter dem Namen »roman d’Albertine« bekannt gewordene Teile einfügt, nämlich Sodom und Gomorrha, Die Gefangene und Die Entflohene. Agostinelli wird zum Vorbild für die Geliebte des Erzählers, ►Albertine, in deren Eigenschaften sich das wiedererkennen lässt, was Proust an Alfred zugleich reizt und beängstigt: Wie Albertine ist Agostinelli sportlich und fasziniert von der Geschwindigkeit. Als Chauffeur ermöglicht er Proust das völlig neue Erlebnis, die Welt aus der Perspektive eines fahrenden ►Automobils zu sehen, aus der sie sich in eine flüchtige Abfolge ständig wechselnder Bilder verwandelt. Diese ästhetisch reizvolle Flüchtigkeit überträgt sich aber – wiederum wie bei Albertine – auch auf die Person Agostinellis und wird dann zur Bedrohung des Liebesverhältnisses: Sportlichkeit und Lebenslust entziehen Agostinelli der Kontrolle und den Besitzansprüchen Prousts; es kommt zu Eifersuchtsszenen, zur Flucht Agostinellis und schließlich zum endgültigen Zerwürfnis, als Proust ihn davon abbringen will, Pilot zu werden. Am 30. Mai 1914 stürzt Agostinelli unmittelbar nach Erwerb der Pilotenlizenz bei seinem ersten Flug ins Meer und ertrinkt. Noch über den ►Tod hinaus setzen sich die ständigen Missverständnisse und die Unkontrollierbarkeit des Verhältnisses