Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger

Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger


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im Roman zu erhalten und sie nicht neben einer durch Alkohol herbeigeführten Euphorie verblassen zu lassen. Im Gegensatz zur unwillkürlichen Erinnerung führt nämlich vom Alkoholrausch kein Weg zur Erkenntnis der Vergangenheit und damit auch kein Weg zum künftigen ►Roman, der die verlorene ►Zeit wieder einfangen will. Die »vom Rausch übersteigerten Empfindungen« stehen unter dem »flüchtigen und machtvollen Einfluss des Augenblicks«: »ich war in die Gegenwart eingeschlossen wie Helden, wie Berauschte; vorübergehend verfinstert, warf meine Vergangenheit nicht mehr jenen Schatten ihrer selbst vor mich, den wir die Zukunft nennen; da ich meinem Leben nicht mehr die Verwirklichung der Träume dieser Vergangenheit als Ziel setzte, sondern die Seligkeit der gegenwärtigen Minute, sah ich auch nicht mehr über diese hinaus.« Im Unterschied zu Baudelaire und anderen Zeitgenossen, die provokant die sündhafte Droge an die Stelle göttlicher Inspiration setzen, sieht Proust die subjektive Wahrnehmung als Mittel der Offenbarung.

       Allegorie

      In bildender Kunst und Literatur die Darstellung eines abstrakten Begriffs durch eine Figur, zum Beispiel die der Gerechtigkeit durch eine Frau mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand. Vom Mittelalter bis zum Barock war die Allegorie sehr beliebt bei der Verbildlichung christlicher Tugenden und Laster, geriet aber später als künstlerisches Verfahren in Misskredit. Baudelaire entdeckt sie für die französische Dichtung wieder, und auch Proust schätzt die antiquierte, aber reizvoll verschlüsselte Art der allegorischen Darstellung, die viele Anspielungen aufnehmen kann. Im Roman vergleicht Swann das blasse Küchenmädchen aus Combray mit der Figur der Nächstenliebe (Caritas) auf den mittelalterlichen Fresken der Arena-Kapelle in Padua. Auf den ersten Blick scheint er damit nur dem Mädchen zu schmeicheln und ein altehrwürdiges Bild zu zitieren, auf den zweiten verbirgt sich aber in diesem Vergleich zusätzlich noch eine raffinierte Gegenallegorie: Françoise nämlich erweist sich als das genaue Gegenteil christlicher Nächstenliebe, da sie das Mädchen zum Spargelschälen zwingt, obwohl es eine schwere Allergie auf ►Spargel entwickelt und mit Asthmaanfällen reagiert. Wie bei den mittelalterlichen Kirchenfenstern in Combray oder den Legenden der Merowinger entlockt Proust hier der Allegorie neben einer archaischen Schönheit und Einfachheit einen verborgenen Unterton von Gewalt und Grausamkeit.

       Allergie

      Prousts heftige Asthmaanfälle wurden durch bestimmte Pflanzen und Düfte ausgelöst. Er selbst pflegte den Ruf seiner Anfälligkeit, so dass Anekdoten kursierten, er bekomme bereits einen Anfall, wenn er nur das Gemälde einer Rose betrachte, oder er habe einem Freund vorgeworfen, dieser habe zuvor einer Dame die Hand gegeben, welche ein Rose berührt hatte, oder er verwehre bestimmten Damen wegen ihres starken Parfums den Zutritt zu seiner Wohnung. In späteren Jahren war seine Lichtempfindlichkeit legendär, wegen der er erst nach Einbruch der Dämmerung das Haus verließ. Im Roman erscheinen die Empfindlichkeit äußeren Reizen gegenüber und die Notwendigkeit, diese im ►Zimmer abzuschirmen, als wesentliche Bestandteile poetischer Schöpfungskraft.

       Alter

      Das Alter ist neben dem sozialen Auf- und Abstieg die wichtigste Triebkraft der erstaunlichen Verwandlungen, denen Prousts Figuren immer wieder unterliegen. Die Personen scheinen sich im Alter nicht bloß zu verbrauchen oder dahinzuschwinden, ihr Verfall ist vielmehr mit einem körperlichen oder moralischen Identitätswechsel verbunden; charakteristische Eigenschaften verschwinden und neue, ungeahnte bahnen sich ihren Weg. Der elegante, weltgewandte Charlus wird dick, unansehnlich und zuletzt gesellschaftlich geächtet, Saint-Loup wird homosexuell, Odette doch noch wahrhaft elegant, bei Swann schälen sich durch Alter und Krankheit jene jüdischen Gesichtszüge heraus, die sein Leben lang unauffällig waren, und der Erzähler stellt an sich selbst plötzlich Ähnlichkeiten mit seinem ►Vater fest, mit dem ihn kaum etwas verband. Am Ende des Romans treffen sich alle gealterten Figuren zu einem makabren Maskenball; die Spuren der Zeit haben sie zu grotesken Gestalten gemacht, die der Erzähler kaum wiedererkennt: »Bloch war in Sprüngen hereingekommen, wie eine Hyäne.«

      Das Altern der Figuren und ihre Metamorphosen weisen nicht nur auf die Vergänglichkeit des Lebens hin, sondern auf die grundsätzliche Inkonstanz und Flüchtigkeit dessen, was man eine Person nennt. Diese besteht eigentlich nur aus wenigen, willkürlich herausgegriffenen und unverlässlichen Eindrücken, die man unter einem ►Namen zusammenfasst: »Ein Name, das ist oft alles, was für uns von einem Menschen bleibt, und zwar nicht erst, wenn er tot ist, sondern auch schon zu seinen Lebzeiten. Und unsere Vorstellungen von ihm sind so undeutlich, oder so absonderlich, und entsprechen so wenig denjenigen, die wir von ihm gehabt hatten, dass wir völlig vergessen haben, dass wir uns um ein Haar mit ihm duelliert hätten, uns aber daran erinnern, dass er als Kind eigenartige gelbe Gamaschen in den Champs-Élysées trug, während er sich umgekehrt trotz aller unserer Beteuerungen nicht erinnern kann, jemals dort mit uns gespielt zu haben.«

      Auch dem Entschluss des Erzählers, seinen lange geplanten Roman zu schreiben, geben erst die erschreckenden Spuren des Alters echte Dringlichkeit. Der Erzähler wird sich bewusst, dass er jetzt gegen sein eigenes Altern und den ►Tod anschreiben muss, aber auch, dass er die ►Zeit und ihre Wirkung zum eigentlichen Hauptthema seines Romans machen kann: »Da kam mir plötzlich der Gedanke, dass in meinem Werk, so ich noch die Kraft hatte, es zu vollenden, diese Matinee – wie auch bestimmte Tage in Combray, die einst ihre Wirkung auf mich gehabt hatten –, die mir gerade heute zugleich die Idee für mein Werk eingegeben als auch die Furcht eingeflößt hatte, es nicht verwirklichen zu können, vor allem anderen in diesem Werk jene Gestalt kennzeichnen würde, von der ich schon damals in der Kirche in Combray eine Vorahnung hatte und die für uns gemeinhin unsichtbar bleibt, nämlich die der Zeit.«

       Andrée

      In den ersten Skizzen zum Roman hieß Albertine noch so, später wird eine Andrée dann Anführerin der kleinen Bande junger Mädchen, die dem Erzähler in ►Balbec begegnet. Gleich bei ihrem ersten Auftreten führt sie ein übermütiges Akrobatenstück vor, das die Mädchen als gesellschaftliche und sexuelle Aufrührerinnen darstellt und jene Probleme vorwegnimmt, die später der Erzähler mit der unbändigen Albertine haben wird. Andrée setzt mit einem Sprung über einen alten Bankier hinweg, der sich auf der Mole sonnt, und setzt sich mit dieser Geste stellvertretend für die anderen Mädchen über alle Regeln hinweg: über die Ehrfurcht vor ►Alter, Reichtum und Macht und über die guten Sitten, die es verbieten, den weiblichen Körper so zur Schau zu stellen.

      Nachdem der Erzähler Albertine aus der kleinen Bande zu seiner Geliebten erkoren hat, wird Andrée zu seiner Rivalin und immer wieder Anlass seiner obsessiven ►Eifersucht. Erste Quelle dieser Eifersucht ist der Tanz im Casino von Incarville, wo Cottard den Erzähler darauf aufmerksam macht, dass Andrée und Albertine sehr eng tanzen und ihre Brüste aneinander reiben; das hier gesäte Misstrauen beginnt zu gedeihen und bringt den Erzähler dazu, auch ursprünglich unverdächtige Szenen als Beweise für ein Verhältnis zwischen den Mädchen zu deuten. Wie bei allen anderen hetero- oder homosexuellen Verhältnissen, derer er Albertine verdächtigt, erfahren wir nie zweifelsfrei, ob Andrée und Albertine tatsächlich mehr als nur Freundschaft verbindet. Nicht die lesbischen Neigungen der Freundinnen sind das eigentliche Thema, sondern die Unmöglichkeit, die wirkliche Identität eines geliebten Menschen vollständig zu erfassen, und die andauernde Qual, die diese Unmöglichkeit dem Liebenden beschert. Andrée verkörpert diese grundsätzliche Qual, die das Liebesverhältnis des Erzählers zu Albertine ständig begleitet, so dass nach deren Tod der Name Andrée zum Synonym der Liebe zu Albertine werden kann. Andrée wird zur besten Erinnerung an Albertine – nicht weil sie deren Freundin war, sondern weil sie den Erzähler an jenes quälende Gefühl erinnert, dass ein Verhältnis zu Albertine bestimmt hat. In einer für den Roman charakteristischen Wiederholung von Personenkonstellationen macht Proust Andrée zuletzt zur besten Freundin von ►Gilberte, einer weiteren verlorenen * Liebe des Erzählers.

       Angst

      Nahezu jede Veränderung im Leben des Erzählers – sei sie nun positiv oder


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