Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger
gegenüber: Er muss sich von Bloch als Snob entlarven lassen und seine eigenen Vorstellungen eines literarischen Stils von dessen so blumiger wie unverblümter Sprache in Frage stellen lassen; viel später gesteht er, sie jahrelang imitiert zu haben.
Der Antisemitismus erweist sich, analog zur Homophobie, als stets von eigennützigen Interessen gesteuert; die antisemitischen Ausfälle von Charlus sind eine Pose, mit der er den Erzähler provozieren will, ihm Blochs Adresse zu verraten, da er sich in Wahrheit für ihn interessiert. Werden die Wahrnehmungen des Jüdischen bei Marcels Familie von provinzieller Sorge um den eigenen Ruf und beim Erzähler von Unsicherheit, Eifersucht und Konkurrenz getrieben, gründen sie bei Charlus im verbotenen sexuellen Begehren; der Antisemitismus wehrt weniger das Andere ab als jenes Ähnliche, welches die uneingestandene eigene soziale Angst offenlegt.
Innerhalb der Familie Bloch verkörpern sich die Reaktionen auf die ständige gesellschaftliche Ausgrenzung in zwei Extrempolen: Bloch assimiliert sich im letzten Teil des Romans bis zur Unkenntlichkeit; er legt seinen jüdischen Namen ab und wandelt auch seine Erscheinung so, dass – wie der Erzähler bemerkt – nicht einmal der Großvater mehr Hinweise auf seine Herkunft hätte finden können; er gibt sich als englischer Dandy, glättet seine Locken, und die Krümmung seiner Nase verschwindet hinter einem »furchterregenden« ►Monokel, mit dem er seine Zugehörigkeit zur mondänen Welt signalisiert. Blochs Onkel Nissim Bernard hingegen, dessen ►Name allein für den Erzähler die gesamte orientalisch-alttestamentarische Kultur heraufbeschwört, verbirgt weder seine Homosexualität noch sein Judentum und genießt in diesem doppelten, offenen Außenseitertum die Freiheit seines persönlichen Babylon.
Die jüngste Forschung hat belegt, dass schon Prousts jüdische Zeitgenossen seine präzise analysierende Darstellung des Antisemitismus mit Aufmerksamkeit und Zustimmung gelesen haben; Hannah Arendt nennt ihn nach der Shoa rückblickend »den größten Schilderer der Assimilation« und ihres Scheiterns. Hundert Jahre nach Proust dokumentiert Edmund de Waals aufsehenerregender historischer Roman Der Hase mit den Bernsteinaugen die Vertreibung der Juden aus der tonangebenden Gesellschaft europäischer Metropolen am Beispiel seiner eigenen, damals einflussreichen Familie Ephrussi. Charles Ephrussi diente neben anderen als Vorbild für die Figur Swanns.
Apfelbäume
Als direkte thematische Verwandte der ►Weißdornhecke bescheren in Sodom und Gomorrha auch blühende Apfelbäume dem Erzähler eine unverhoffte Begegnung mit dem Schönen. Das Erlebnis hat alle Merkmale einer ekstatischen Offenbarung wie sonst nur eine unwillkürliche Erinnerung: eine plötzliche, unerwartete Begegnung, die nicht bewusst herbeigeführt werden kann, ein Augenblick, der die Essenz eines bestimmten Zeitabschnitts – hier des Frühlings – festhält. Damit gehört der Anblick der Apfelbäume zu jenen Begebenheiten, die eine indirekte Aufforderung an Marcel enthalten, Schriftsteller zu werden und die Schönheit schreibend festzuhalten. Erst sehr viel später jedoch versteht er diese Botschaft, die von den Apfelbäumen genauso wie von der Weißdornhecke, Unwettern oder►Venedig an ihn ergeht.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Apfelbäumen und Weißdornbüschen wäre jedoch hervorzuheben: Zwar erinnern auch die Apfelbäume an entzückende junge Mädchen in Ballkleidern, aber es regnet und sie stehen mit den Füßen im Schlamm: Wie in seiner Kindheit erlebt der Erzähler einen Augenblick vollkommener Schönheit, er erlebt ihn jetzt indes vor einem düsteren Hintergrund, vor dem Hintergrund des gerade erst in einer ►»Unstetigkeit des Herzens« erfahrenen Verlusts der Großmutter und in Vorwegnahme des künftigen Schmerzes, den Albertine ihm noch bereiten soll. Sehr viel später im Roman, nach Albertines Tod, wird er seinen immer wieder unerwartet aufwallenden Schmerz vergleichen mit einem »kalten Wind wie jener, der in Balbec über die schon rosigen Apfelbäume gestrichen war«. Waren die Weißdornbüsche noch vornehmlich aus der Perspektive eines von der natürlichen Schönheit überwältigten Kindes beschrieben, so sehen wir die Apfelbäume durch die Augen eines Erzählers, der den Schmerz kennt und die Qualen der ►Eifersucht erfahren hat.
Aquarium
Zur Entstehungszeit von Prousts Roman herrschte in Paris eine regelrechte Unterwasser-Manie, welche von Architektur über Inneneinrichtung, Theater, Malerei, Literatur, Fotografie bis zum frühen ►Film und Mode nahezu alle kulturellen Bereiche erfasste. Der Jugendstil fand in den zunehmend auch wissenschaftlich erforschten Meereskreaturen ein unerschöpfliches Repertoire organischer Formen und Farben. Für die Weltausstellung im Jahr 1900 wurde in Paris das damals weltgrößte Aquarium gebaut, an dessen Wänden man unterirdisch entlangging; der Eingangsbereich war als rundum bewachsene Unterwasser-Grotte gestaltet. Die beliebte (auch von Proust erwähnte) Theaterform der Feerie, deren Hauptattraktion im furiosen Wechsel überreicher Bühnenbilder und Kostüme bestand, ließ ihre märchenhaften Verwandlungen ebenfalls in imaginären untermeerischen Reichen spielen. Proust folgt dieser Mode und wendet sie zugleich in charakteristischer Weise: Die Unterwasser-Szenerie ist im ►Roman nicht bloß eine jener zeittypischen Kulissen, über die ►Bergotte klagt, sie seien zwar hübsch, verkitschten aber die Leidenschaften der klassischen Tragödien (wie Racines Phädra) zu einer »Liebesaffäre zwischen Seeigeln«. Proust gestaltet die mondäne Welt des Faubourg Saint-Germain in fortgesetzten ►Metaphern zu Unterwasser-Bühnen, ihre ►Salons zu Aquarien, durch die der Erzähler gespült wird: Die ►Farben dieser Räume schillern grünlich oder bläulich, bevölkert sind sie von so pracht- wie geheimnisvollen, merkwürdig undefinierten »Kreaturen«, deren Kleidung und Wohnstätten schillern wie »Schalen aus Perlmutt«. Damit bietet zum einen die mondäne Welt für den Erzähler eine Welt voller überraschender Schönheit, zum anderen aber zeigt sie sich als eine Welt der Zweideutigkeiten und Geheimnisse: Die Kreaturen dieser Feenreiche wandeln ständig ihre soziale oder auch geschlechtliche Identität, ihr wahres Gesicht ist hinter ihren vielgestaltigen Erscheinungen nicht zu erkennen. Die bizarre Unterwasserwelt wird so zur Metapher für die Unergründlichkeit und Scheinhaftigkeit der Salongesellschaft. Die eigentümliche Zwittrigkeit der Meereskreaturen führt den Erzähler zugleich auf die Spur von ►Hermaphrodismus und ►Homosexualität. Das Wogen und Werden des mondänen Ozeans ist getrieben von uneingestandenen, ja verbotenen und damit immer auch potentiell vernichtenden Leidenschaften.
Prousts Salonbeschreibungen überblenden die zeitgenössische Unterwasser-Mode mit der viel älteren Wasser-Symbolik der ►Moralistik, dem »Ozean der Leidenschaften«, wie ihn die klassische französische Tragödie des 17. Jahrhunderts, insbesondere die in Sodom und Gomorrha oft erwähnte Phädra Racines, in Szene setzt. Auf diese Weise gibt Proust seinen Salon-Aquarien jene abgründige Tiefe zurück, die Bergotte in den modischen aquatischen Inszenierungen vermisst: Wenn er das mondäne Aquarium mit seinen reizenden Nereiden und Okeaniden zugleich als Palast des Neptun beschreibt, ist auf Prousts Bühne jene rächende, strafende Gottheit präsent, jene Verkörperung rasender Leidenschaft, die bei Racine Phädra vernichtet; als ihre Inkarnation im Roman erscheint immer wieder der unberechenbar in schäumenden Zornessturm ausbrechende ►Charlus. Bei Marcels zweitem Balbec-Aufenthalt wirkt der »Speisesaal […], der gefüllt war mit grüner Sonne« wie ein Aquarium, dessen Bild Proust hier eine sozialkritische Note abgewinnt: Der Erzähler bemerkt, wie die arbeitende Bevölkerung sich die Nase an den Scheiben plattdrückt, und fragt sich, »ob die gläserne Wand auf Dauer das Gelage der wundersamen Bestien schützen wird und ob nicht die Schattengestalten, die gierig in der Nacht zuschauen, kommen werden, um sie in ihrem Aquarium einzufangen und aufzuessen«.
Auf dem mondänen Aquarium lässt der Erzähler mal einen faszinierten, selbst von mondänen Ambitionen und Leidenschaften getriebenen Blick ruhen, mal den eines an ►Balzac geschulten ›Zoologen‹, der den letzten Zufluchtsraum einer aussterbenden Spezies beobachtet.
Aristokratie
Schon in Combray ist Marcel angetan von den Kirchenfenstern, die in bunten Bildern die ruhmreiche Geschichte ihrer adeligen Stifter, der Guermantes, erzählen. Hier bildet sich in ihm, dem Kind gehobener Bürger, die Vorstellung, hinter den prächtigen Farben und den wohlklingenden Namen des örtlichen Adels verberge sich eine allgegenwärtige, mythische Macht, angesiedelt irgendwo zwischen