Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger
in ►Combray verbringt. Besonders der Stil Bergottes hat es ihm angetan, der immer wieder Überraschendes, Neues hervorbringt, zugleich aber sich selbst treu bleibt und so als Form einer individuellen, unverwechselbaren Weltsicht erkennbar wird. Dadurch kann der Leser sowohl den Reiz des Unerwarteten als auch die Freude des Wiedererkennens genießen – anhand von Bergottes Schreiben formuliert Proust jene Bedingungen, die beide zusammen erst den Kunstgenuss ermöglichen und ein Werk schaffen: Originalität und Wiederholung. Vinteuil und die ►Berma werden diese Fundamente des Kunstgenusses bestätigen: Erst im Wiedererkennen der sich ständig wandelnden »kleinen Phrase« entsteht der Reiz von Vinteuils ►Musik, und erst bei seinem zweiten Theaterbesuch kann Marcel die Größe im Spiel der Berma erfassen. So wie später Albertines Reiz für Marcel durch ihre Bekanntschaft mit ►Elstir gesteigert wird, entflammt sein Begehren für ►Gilberte noch stärker, als er erfährt, dass Bergotte bei den Swanns verkehrt und sie ihn persönlich kennt. Zu den Reliquien, die Marcel jeden Abend in der Einsamkeit seines Zimmers anbetet, gehören die Briefe Gilbertes, die Achatmurmel, die sie ihm geschenkt hat, und ein kleiner Aufsatz Bergottes, den sie ihm besorgt hat. Der ►Name des Schriftstellers wird zu einem symbolischen Gefäß, das nicht nur die Lektüreerlebnisse Marcels und seine damit verbundenen Phantasien in sich aufnimmt, sondern auch das ganze unerfüllte Begehren nach Gilberte und dem Haus ihrer Eltern.
Kein Wunder also, dass Marcel bei seinem ersten, sehnsüchtig erwarteten Zusammentreffen mit dem Schriftsteller schwer enttäuscht wird: Anstelle des »gefühlvollen Greises«, den er sich vorgestellt hat, findet er einen kleinen Mann mit »Schneckenhausnase« vor, der sich mit monotoner und merkwürdiger►Stimme in belangloser ►Konversation ergeht. Für Marcel bestätigt sich hier auf schmerzliche Weise die von Proust schon in Contre Sainte-Beuve formulierte Einsicht, dass ►Kunst und Künstler, Werk und gesellschaftliche Existenz nichts miteinander zu tun haben, sondern zwei getrennten Seiten ein und derselben Person entsprechen: einer verborgenen, dem Künstler selbst unbewussten Tiefenschicht, die nur im Werk Ausdruck findet, und einer öffentlichen Erscheinung, die von der Gesellschaft oft fälschlicherweise mit dem Werk identifiziert wird. Bergottes Werk wird im Laufe der Zeit für Marcel verblassen; in dem Maße, in dem der Schriftsteller immer berühmter und sein Stil zur literarischen Mode wird, verliert sein Werk die Fähigkeit zu überraschen. Schließlich wird er für Marcel von einem »neuen Autor« mit neuem, revolutionärem Stil verdrängt, der allerdings nur kurz Erwähnung findet.
Proust hatte wohl ursprünglich geplant, Bergotte bis zum Schluss im engeren Kreis der Romanfiguren zu belassen, wie sein Auftreten als Freund der Familie Saint-Loup gegen Ende des Romans belegt. Ein Jahr vor seinem eigenen ►Tod jedoch fügt Proust eine längere Szene in Die Gefangene ein, die das langsame Dahinsiechen und den Tod Bergottes bei einem Ausstellungsbesuch beschreibt. Es gibt zahlreiche mögliche Begründungen für dieses Sterben der einzigen Schriftstellerfigur des Romans: Zum einen geben Krankheit und Tod Bergottes Proust die Gelegenheit, seine eigene schwindende Gesundheit zu schildern und sich gedanklich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Die schrecklichen ►Träume Bergottes, der im Schlaf den Eindruck hat, man zersäge seinen ►Körper oder er sterbe an einem Schlaganfall, seine Zurückgezogenheit, seine Schlaflosigkeit, die ihm als einzige Freude noch das Ausprobieren neuer Schlafmittel und künstlicher Ohnmachten lässt – all das entspricht ziemlich genau den überlieferten Lebensumständen des kranken, aber ständig arbeitenden Proust. Bergottes letzter Gedanke, er wolle nicht Teil der vermischten Nachrichten des folgenden Tages werden, und Bergottes Bücher in den Vitrinen, die in den Augen Marcels ihren Schöpfer »überleben«, zeigen darüber hinaus, dass hier auch der ►Ruhm des Schriftstellers zum Thema wird: Im Überleben der Bücher liegt ein Versprechen, zugleich aber setzt der Nachruhm den Tod des Autors und die Preisgabe seines Werkes an ein unbekanntes Publikum voraus, so dass offenbleibt, ob der Tod als Freund oder als Feind kommt.
Damit ist noch nicht erklärt, warum Bergotte schon in Die Gefangene stirbt und nicht erst am Ende des Romans, wie zum Beispiel die Berma. Die Platzierung innerhalb des Werkes macht es möglich, den Tod des Schriftstellers auch als eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen literarischen Stilen zu lesen. So stilbildend Bergotte in seiner besten Zeit war, stirbt er im Gefühl seines Versagens und kann offenbar auch nicht als Modell für jene Art des Schreibens dienen, wie sie Marcel oder Proust selbst vorschweben. Seine neuen Vorbilder findet Marcel nicht unter den Schriftstellern, sondern im Musiker Vinteuil und vor allem im Maler Elstir. Nicht ein Schriftsteller lehrt ihn die Kunst der ►Metapher und der Perspektive, sondern ein impressionistischer Maler. So wird der Tod Bergottes, den keine neue Schriftstellerfigur ersetzt, zum Zeichen für Prousts Versuche, mit den Traditionen der Literatur zu brechen und deren herkömmliche Erzählverfahren durch Techniken zu ersetzen, für die es zu seiner Zeit kaum literarische Vorbilder gibt. Und gerade von Bergottes Tod an setzt er diese Techniken auch verstärkt ein, die insbesondere auf das Erzählen einer »objektiven« Geschichte verzichten, zugunsten der Abfolge einander ständig widersprechender, flüchtiger und radikal subjektiver Eindrücke. Auf diese Weise erfüllt Proust das Vermächtnis Bergottes, der noch im Sterben bedauert hatte, nicht genug an den einzelnen Facetten seines Werks gefeilt zu haben, dem einzelnen Satz, dem einzelnen Bild, der einzelnen kostbaren Impression nicht genügend Gewicht auf Kosten des Ganzen gegeben zu haben. Insgesamt dient Bergotte weniger dazu, Anspielungen auf reale Autoren unterzubringen (unter anderen sollen Ruskin, Bourget, Bergson, Daudet, Barrès, Renan und France Vorbilder sein); die Schriftstellerfigur illustriert vielmehr, dass Kunst und literarischer Stil keinem überzeitlichen Ideal folgen, sondern dem Wandel sowohl der Vorstellungen des Autors als auch der seines Publikums unterworfen sind.
Bergson, Henri (1859–1941)
Französischer Philosoph und Schriftsteller, der am berühmten Collège de France lehrte und 1927 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Proust war mit ihm verschwägert, kannte ihn jedoch nicht. Für seine Theorie der unwillkürlichen Erinnerung inspirierte ihn unter anderem Bergsons Werk Matière et mémoire (1896), in dem dieser unterscheidet zwischen einem »reinen« Gedächtnis, das vergangene Bilder und Ereignisse in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit bewahrt, und einem zweckgebundenen, das sich an wiederholten Handlungen orientiert und ►Gewohnheiten speichert.
Berma
In der Welt des Romans berühmte Theaterschauspielerin. Marcel erwartet sich von einem Auftritt der Berma ähnlichen ästhetischen Genuss wie von einer Reise nach ►Venedig oder ►Balbec. Die Ankündigung, er werde tatsächlich nach Venedig fahren, ruft bei ihm ein nervöses Fieber hervor, das sowohl die Reise als auch einen Theaterbesuch vereitelt, bei dem er die Berma sehen sollte. Als Marcel schließlich später im Theater sitzt, wiederholt sich die Enttäuschung auf andere Weise: Zwar verhindert jetzt keine Krankheit seine körperliche Anwesenheit, aber durch die Aufregung entgleitet ihm der so ersehnte Eindruck unaufhörlich. Er kann die Aufführung nicht genießen, ja er kann sie kaum wahrnehmen, da er in jeder neu auftretenden Darstellerin die Berma vermutet. Als sie endlich erscheint, ist seine Auffassungsgabe bereits erschöpft. Auch das Besondere an ihrem Spiel vermag er nicht zu erkennen, in seiner befremdlichen Monotonie scheint es ihm so schlecht wie das einer Lyzeumsschülerin. Erst sehr viel später wird er die Gründe für seine Enttäuschung verstehen: Dadurch, dass er bereits ein festes Bild von der Berühmtheit und der außergewöhnlichen Bedeutung der Berma in die Vorstellung mitbrachte, konnte er keine eigene, subjektive Perspektive mehr einnehmen, sich nicht mehr überraschen lassen – nach Proust eine der wichtigsten Bedingungen für den Kunstgenuss. Sich selbst entfremdet, weiß Marcel erst, dass es schön war, kann er erst Emotionen aufbringen, als er mit der Masse applaudiert. Fast fühlt er sich schuldig ob seiner inneren Gleichgültigkeit dem anerkannten Star gegenüber und versucht im Nachhinein durch das Gespräch mit dem Berma-Bewunderer Norpois oder die Lektüre einer Zeitungsrezension pflichtgemäß an der allgemeinen Berma-Begeisterung teilzunehmen, was jedoch nur in klischeehafte Formulierungen mündet (»die reinste und höchste Verwirklichung von Kunst darstellte, der beizuwohnen unserer Zeit jemals vergönnt war«).
Neben der Übernahme einer Feuilletonperspektive besteht der zweite Fehler Marcels darin, das bewegte und bewegende Spiel der Berma festhalten zu wollen, um es zu verstehen: »Um ihn ausloten zu können, um herausfinden zu können, was an Schönheit in ihm steckte, hätte