Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger
Balbec
Fiktiver Badeort an der Kanalküste zwischen der Bretagne und der Normandie, den Marcel zunächst mit seiner ►Großmutter und später alleine aufsucht. Die Reise nach Balbec besiegelt das Ende seiner Liebe zu ►Gilberte und lässt ihn mit ►Albertine und dem ►Impressionismus zusammentreffen. Anhand der Vorstellungen und Phantasien, die Marcel immer wieder mit dem Namen Balbec verbindet, lassen sich die Mechanismen von Illusion und Desillusion subjektiver Wahrnehmung nachvollziehen, die den Roman auf allen Ebenen bewegen: Zunächst verbindet der OrtsnameOrtsname in der Vorstellung des Erzählers archaische Kunst und gewaltige Natur. Bei der Ankunft ist er enttäuscht, statt der erwarteten sturmumtosten keltischen Kirche einen mondänen Badeort vorzufinden, bald aber füllt sich der vorübergehend entzauberte Name Balbec mit neuen Assoziationen, die das Meer und den Ort jetzt in zartfarbigen, »impressionistischen« Bildern untrennbar an das Begehren nach Albertine knüpfen. In dem Maße jedoch, in dem die Eifersucht des Erzählers zunimmt und er immer neue Hinweise zu entdecken vermeint, dass Albertine in der Umgebung von Balbec ein ganzes Netz sexueller Beziehungen unterhält, wird ihm der Aufenthalt an diesem Ort zur Qual – gerade jene Bilder, die ihn zunächst bezaubern, verheißen ihm nun unendliche Leiden: »Ich hatte nicht einmal daran gedacht, die Läden zu schließen, denn in diesem Augenblick sah ich, als ich die Augen hob, direkt vor mir am Himmel dasselbe schwache Glühen eines verlöschenden Rot, das man im Restaurant von Rivebelle in einer Studie ►Elstirs sah, die er von einem Sonnenuntergang gemacht hatte. Mir fiel die Aufregung ein, in die mich am Tag meiner ersten Ankunft in Balbec dieses gleiche Bild, als ich es vom Eisenbahnzug aus sah, eines Abends versetzt hatte, der nicht der Nacht vorausging, sondern einem neuen Tag. Doch kein einziger Tag würde jetzt mehr neu für mich sein und das Verlangen nach einem ungekannten Glück erwecken, er würde lediglich mein Leiden verlängern, bis ich nicht mehr die Kraft hätte, es zu ertragen.« Durch das ausweglose Verhältnis zu Albertine haben die Namen, Orte und Impressionen ihre Fähigkeit verloren, zu Trägern von Sehnsüchten zu werden – sie können keine Glückserwartungen mehr aufnehmen, da sie bereits mit dem Leid des Gegenwärtigen angefüllt sind. Erst in der Erinnerung wird das Balbec der Bilder und der Sehnsüchte – sei es das der keltischen Kirche vor dem Meer oder das der impressionistischen Sonnenauf- und -untergänge – wieder zum Leben erweckt werden, allerdings müssen dafür die Erinnerungen an die Leiden der ►Eifersucht und damit die Person Albertines verdrängt werden.
Vorbilder für die Beschreibungen Balbecs waren die Badeorte in der Normandie und der Bretagne, die Proust mit seiner Großmutter und seinen Eltern wiederholt besuchte: Trouville, Dieppe, Cabourg (wo das von ihm frequentierte Grand-Hotel heute noch unverändert steht) und Beg Meil, in das ihn eine Bretagne-Reise mit Reynaldo Hahn führte.
Balzac, Honoré de (1799–1850)
Proust schätzte Balzacs Werke sehr, kritisierte aber auch seinen nachlässigen Stil, seinen Hang zum Melodram und seine vulgäre Ausdrucksweise. In ►Contre Sainte-Beuve, den ersten, essayistischen Entwürfen zum Roman, ist der Herzog von Guermantes ein passionierter Balzac-Leser; er kann sich kaum zwischen einer Balzac-Lektüre und seiner zweiten Leidenschaft entscheiden, der Benutzung des ►Stereoskops. Diese analog gesetzten Leidenschaften des Herzogs geben Aufschluss darüber, was Proust an Balzac schätzt: In seinem Romanzyklus der Comédie humaine erzielt Balzac einen der optischen Wirkung des Stereoskops vergleichbaren Effekt eines mehrschichtigen Raums, indem er in den ansonsten voneinander völlig unabhängigen Teilen die gleichen Personen wiederkehren lässt. Dieser Kunstgriff, den Balzac selbst nicht von vornherein geplant hatte, gibt dem Werk im Nachhinein den Charakter eines in sich geschlossenen, umfassenden Universums, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Episoden und Romane zu beeinträchtigen. Eine ähnliche künstlerische Einheit, welche »nicht die Vielfalt beengt«, eine solche Geschlossenheit, die gleichzeitig einen Eindruck von Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit vermitteln kann, da sie nachträglich ist, erzielt für Proust auch Wagners ►Musik durch die Technik der Leitmotive: »Wagner, der aus seinen Schubladen ein hinreißendes Stück zog, um es als ein im Rückblick unverzichtbares Thema in eine Oper einzufügen, an die er noch gar nicht gedacht hatte, als er es komponierte, der nach der ersten mythologischen Oper eine zweite und dann noch weitere komponierte, bis er plötzlich merkte, dass er dabei war, eine Tetralogie zu schaffen, muss etwa der gleiche Schwindel ergriffen haben wie Balzac, als er auf seine Werke den Blick zugleich eines Außenstehenden wie auch eines Vaters warf und […] sich plötzlich im Licht dieser rückwärtsgewandten Betrachtung darüber klar wurde, dass sie noch schöner wären, wenn er sie zu einem Zyklus, in dem die gleichen Personen wiederkehren, vereinigen würde und durch diesen Zusammenschluss seinem Werk den letzten und erhabensten Pinselstrich hinzufügte.« Das Prinzip einer nachträglichen Einheit, die nicht willkürlich aufgesetzt wirkt, da sie sich aus der Betrachtung der bereits vorhandenen Teile erst ergibt, begeistert Proust auch deshalb so, weil es der Entstehungsgeschichte seines eigenen Romans entspricht: Die Geschichten, Beschreibungen, Reflexionen und Themen aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – von den Natureindrücken über die verschrobenen Personen bis zu einzelnen Episoden – trägt er bereits seit seinen allerersten Schreibversuchen in sich, aber erst das Thema der Erinnerung ermöglicht es ihm, sie locker und doch im Innersten zusammengehörig zu verbinden.
Der Auftakt von Sodom und Gomorrha, also jenem Romanteil, den Proust erst spät in das ursprüngliche Romankonzept einfügte, entspringt nicht mehr einer Erinnerungssituation (wie der Auftakt von Combray), sondern er entwirft eine Beobachtungsposition des Erzählers: Von der Treppe des Stadthauses der Guermantes blickt er auf die Hügel und Dächer von Paris, die ihm wie geologische Formationen erscheinen, auf denen sich als winzige Lebewesen die zu ihren Arbeitsstellen strebenden Dienstboten bewegen. Kurz darauf wird der Erzähler auf seinem Beobachtungsposten geheimer Zeuge des Liebesspiels zwischen Jupien und Charlus, das er mit der Befruchtung einer Orchidee durch eine Hummel vergleicht. Der neuere Romanteil zitiert damit erkennbar jenen »naturwissenschaftlichen« Blick auf das Panorama der Gesellschaft, den Balzac als die eigentliche Aufgabe des Romans formulierte. Selbst der sich hier ankündigende Einbezug der ►Homosexualität in die gesellschaftliche ►›Botanik‹ findet seine literarischen Vorbilder bereits bei Balzac, wie dessen Leser Charlus an anderer Stelle ausdrücklich bemerkt.
Bäume
Meist erhebend schön und damit in Prousts Universum ein Gegenpol zum Schmerz. Der Anblick blühender Büsche und Bäume, seien es ►Weißdornhecken, ►Apfel- oder ►Birnbäume, versetzt den Erzähler immer wieder in Entzücken und befördert seinen Entschluss, das Schöne festzuhalten und Schriftsteller zu werden. Je häufiger er jedoch Leid und Schmerz erfährt und sich mit der Unmöglichkeit konfrontiert sieht, das, was er begehrt, auch besitzen zu können (z. B. seine Mutter oder Albertine), desto mehr verblasst die Bedeutung der Bäume. Nach und nach begreift der Erzähler, dass nicht nur die zeitlose und erfassbare Schönheit der pflanzlichen und unbelebten Natur der Gegenstand seines Romans sein kann, sondern dass er sich auch der unwägbaren und leidbringenden menschlichen Natur widmen muss. In Die wiedergefundene Zeit geben ►Krieg und Sanatoriumsaufenthalt den letzten Anstoß zu diesem Kunstkonzept, das Schönheit und Schmerz vereinen soll; bei seiner Rückkehr bemerkt der Erzähler, dass die Bäume verstummt sind, dass sie nicht mehr wie die Weißdornhecke oder die Apfelbäume eine Botschaft an ihn zu richten scheinen: »›Bäume‹, dachte ich, ›ihr habt mir nichts mehr zu sagen, mein erkaltetes Herz hört euch nicht mehr. Ich befinde mich hier zwar in der freien Natur, schön, doch meine Augen nehmen nur kühl und gelangweilt die Linie wahr, die eure leuchtende Stirn von eurem schattigen Rumpf trennt. Wenn ich mich jemals für einen Dichter habe halten können, so weiß ich jetzt, dass ich keiner bin. Vielleicht könnte mich ja in dem neuen, dem gefühlskalten Teil meines Lebens, der sich vor mir auftut, der Mensch mit dem inspirieren, was mir die Natur nicht mehr sagen kann.‹« Auch die Menschen allein können die Inspiration nicht leisten, aber in ihrer Betrachtung erschließt sich dem Erzähler die Bedeutung von ►Alter und ►Zeit und führt ihn über den Umweg der Erinnerung zur Natur zurück.
Bergotte
Von