Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger
studierte und beschrieb Proust genauestens die verschiedenen Formen der Fremd- und Selbstbestäubung bei Orchideen, vor allem zog er dazu L’intelligence des fleurs von Maurice Maeterlinck zu Rate. Die durchgängige, wissenschaftlich genaue botanische Metaphorik ermöglicht Proust hier mehrerlei: Erstens kann er ohne Zensurgefahr einen Sexualakt in ziemlich expliziten Worten schildern (weibliche Pflanzen scheiden Nektar aus, Blüten nehmen mit Freuden lange Griffel in sich auf …), zweitens entschärft er die voyeuristische Perspektive seines Erzählers, wenn dieser eine wissenschaftliche Pose in der Tradition ►Balzacs einnimmt, sich selbst als »menschlichen Pflanzenkundler« bezeichnet, und drittens enthebt ein solcher wissenschaftlich-neutraler Standpunkt den Erzähler (und damit auch Proust) der Notwendigkeit, moralische Bewertungen zu treffen. Der Blütenreichtum des Romans ist damit sehr viel mehr als ein zeittypischer literarischer Jugendstilschmuck – er trägt ein ganzes Netz von Leitmotiven und macht Proust tatsächlich zu einem »Botaniker der Seele«.
Bruder
Die Bruderlosigkeit des Erzählers im Roman beschäftigt die Proustforschung, seit sie besteht, hat doch Proust seine ganze übrige Familie und deren Haushalt mehr oder weniger getreu abgebildet. Die biographischen Erklärungen für die Eliminierung des Bruders reichen von der angeblichen Eifersucht des älteren Marcel auf den Nachgeborenen, der ihm den Platz bei der geliebten Mutter streitig machen könnte, bis zur Annahme einer tiefgehenden Abneigung zwischen den charakterlich ungleichen Brüdern. Die inzwischen weitgehend veröffentlichten Briefe Prousts lassen zwar keine allzu große Liebe Marcels für Robert erkennen, die weitaus beste Erklärung für die Abwesenheit des Bruders liegt aber in der perspektivischen Anlage des Romans: In ►Jean Santeuil, einem frühen unvollendeten Roman Prousts, der die meisten Themen, Motive und Episoden von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorwegnimmt, sich aber nicht als Erinnerung eines Ich-Erzählers präsentiert, hat der Held Jean noch einen Bruder. Das Verschwinden des Bruders geht also offenbar einher mit dem Erscheinen der Erinnerung als strukturierendem Leitmotiv des Romans und dem Auftreten einer Ich-Figur, die zugleich erlebender Held und rückblickender ►Erzähler ist. Dass eine solche Ich-Instanz, aus der sich das ganze subjektive Universum des Romans wie aus einer Quelle, einem Keim (oder auch jener berühmten Tasse Tee) entfaltet, keine gleichaltrige, gleichgeschlechtliche Figur gleicher sozialer Herkunft neben sich dulden kann, scheint auf Anhieb einsichtig – jede Möglichkeit, dass ein Zweiter die Perspektive und die Erinnerungen Marcels (vor allem die der Kindheit) teilen könnte, müsste die großangelegte Suche nach der verlorenen Zeit entwerten.
Camembert
Der Liftpage im Grand-Hotel in Balbec nennt die Marquise de Cambremer wiederholt »Marquise de Camembert« – als Marcel ihn liebenswürdig über seinen Irrtum aufklärt, zeigt der Page sich fest davon überzeugt, die Marquise habe sich ihm unter diesem Namen vorgestellt. Der Erzähler überlegt anschließend, dass es in der Welt des Pagen durchaus folgerichtig und keineswegs abwertend erscheinen mag, wenn ein »allgemein bekannter Käse« seinen Namen mit einer Grafschaft teilt, ja vielleicht am Ursprung eines Adelsgeschlechts steht. Die hartnäckige Fehlwahrnehmung des Pagen illustriert zum Ersten, wie in sich geschlossen und unverbunden die subjektiven »Universen« sind, in welche unsere Wahrnehmungen eingebettet sind, und macht dabei zum Zweiten deutlich, dass unter ihnen das eine nicht »wahrer«, logischer oder wirklicher als das andere ist. In diesem Licht erscheint der Stolz der snobistischen Marquise auf ihren »uralten« Titel, in den sie in Wahrheit eingeheiratet hat, genauso willkürlich wie der soziale »Hörfehler« des Pagen. Marcels eigene Unfähigkeit, die Ursache der Bedrückung des Pagen darin zu erkennen, dass er ihm kein Trinkgeld gegeben hat, bestätigt abermals die Inkompatibilität der Welten, ihren je eigenen ►Snobismus und die bei allem Wohlwollen eingeschränkten Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Und natürlich ergötzt sich Proust hier nicht zuletzt am eigenen Spiel mit Namens-Assoziationen, wenn er die Marquise des »sich bäumenden Meeres« zur Herrscherin über einen Weichkäse abstürzen lässt.
Cattleya
Gattung aus der Familie der Orchideen, prachtvolle Gewächse im tropischen Amerika, auf Bäumen und Felsen wachsend, mit steifen, konsistenten Blättern und prächtig gefärbten Blüten, deren sehr große, kapuzenförmige, an den Rändern wellig gekräuselte Lippe nach oben gerichtet ist. Die Cattleya-Arten blühen leicht und lassen sich selbst im ►Zimmer kultivieren, so Meyers Konversationslexikon von 1899.
Cattleya-Blüten ermöglichen Swann die erste Berührung der begehrten Odette: Als das Gespann der Kutsche scheut, in der sie beide sitzen, gerät Odettes Blumenschmuck durcheinander, und unter dem Vorwand, das Gesteck in ihrem Ausschnitt wieder zurechtzurücken, liebkost Swann ihren Hals, ihre Schultern und ihre Brüste. Für beide ist diese Form der indirekten Annäherung etwas Besonderes: für Swann, weil er auf diese Weise bis in die erotische Berührung hinein die begehrte Frau als Kunstwerk empfinden kann – die prächtigen, aber geruchlosen und künstlichen Blüten verleihen ihr den Charakter eines kostbaren Blumenarrangements –, und für Odette, weil sie es nicht gewohnt ist, dass Männer viele Umstände machen. So bleibt die erste Berührung deswegen reizvoll, weil sie den Umweg »durch die Blume« nimmt, noch keinen endgültigen Besitz bedeutet – weil die Blumen den individuellen Phantasien und Sehnsüchten der Liebenden eine Projektionsfläche bieten. Als die Liebe zwischen Swann und Odette erkaltet und Sex längst zur körperlichen Routine geworden ist, bewahren zwei Dinge noch die Erinnerung an eine einzigartige Leidenschaft: Die kleine Phrase aus der ►Musik Vinteuils und der Ausdruck »Cattleya machen«, den Odette und Swann seit der ersten Berührung für die körperliche Liebe verwenden. Weit mehr als bloß prüde Metapher für einen obszönen Vorgang, bezeichnet der Ausdruck jenen Augenblick, in dem die Liebe nicht mehr nur Phantasie, aber noch kein Besitz ist, jenen kurzen Augenblick, in dem das Begehren seinen ureigenen Gegenstand zu finden scheint: »Zitternd hatte er an jenem Abend gehofft […], dass es der Besitz dieser Frau sein würde, was aus den großen malvenfarbenen Blütenblättern hervorginge; und die Lust, die er bereits verspürte und die Odette, so dachte er, vielleicht nur duldete, weil sie sie noch nicht bemerkt hatte, erschien ihm gerade deswegen […] wie eine Lust, die es zuvor noch nicht gegeben hatte, die er zu erschaffen versuchte, eine Lust – deren besonderer Name, den er ihr gab, eine Spur davon bewahrte –, die ganz und gar einzigartig und neu war.«
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