Das Proust-ABC. Ulrike Sprenger

Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger


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mal noch ein Kind zu sein, dann schon ein sexuell ambitionierter Jüngling. Des Weiteren fehlt die bei allen Autobiographien des 19. Jahrhunderts so beliebte Geste der schonungslos ehrlichen Offenlegung aller Lebensumstände, wie sie das Vorbild Augustinus schon im Titel vorgibt (auch Rousseau schreibt Confessions). Im Gegenteil: Der Ich-Erzähler führt sich bei Proust gleich zu Beginn als jemand ein, dem man aufgrund seines Zustands keinen Glauben schenken kann; er ist ein ►Erwachender, noch im Halbschlaf, der selbst nicht genau zu sagen vermag, an welchem Ort und in welchem Zeitabschnitt seines Lebens er sich befindet. Genauso wenig kann man feststellen, in welchem zeitlichen Abstand der Erzähler sich zu dem befindet, was er schildert, aus welcher Position heraus er erzählt oder schreibt. Mit seinem berühmten ersten Satz beginnt der Roman ganz bewusst in der Unschärfe, setzt sich damit ab von einer Tradition der Wahrheitstreue und schafft stattdessen die neue Gattung der fiktiven Autobiographie – eine »Autofiktion«, in der nicht ein Leben erzählt, sondern eines erfunden werden darf. Dabei knüpft er nicht an die Tradition satirischer Schelmen-Autobiographien der frühen Neuzeit an, sondern spielt mit den traditionellen Mustern »authentischer« Autobiographien, um den Weg zur Erkenntnis der subjektiven Wahrnehmung zu erzählen: Der Roman ist ein bisschen Erlösungs- oder Bekehrungsgeschichte (sein Held kommt auf steinigen Wegen über das Offenbarungserlebnis der unwillkürlichen ►Erinnerung zu seiner wahren Berufung, dem Schreiben), ein bisschen Entwicklungsroman (nach vertaner Zeit und Liebesleid findet er eine sinnvolle Aufgabe) und ein bisschen Autobiographie (Proust tauchte einmal Toastbrot in den Tee), eindeutig zu fassen ist er aber mit keiner dieser Kategorien.

       Automobil

      Löst als Mittel der Beschleunigungserfahrung die ►Eisenbahn ab. Sosehr er diese geliebt hat, so skeptisch steht der Erzähler dem die Bewegungsmöglichkeiten in jede Richtung steigernden Automobil gegenüber. Der Zug fährt in festgelegter Abfolge nur die vorgesehenen Bahnhöfe an, er konfrontiert den Reisenden dort nicht mit realen Eindrücken, sondern gibt ihm lediglich über eine Namenstafel symbolisch zu verstehen, wo er sich befindet, und ermöglicht so eine Reise durch die eigene Phantasie, entlang der individuellen und unverwechselbaren, mit jedem ►Namen verbundenen Assoziationen des Reisenden. Das Automobil dagegen löst diese angenehme, die imaginierte Einzigartigkeit eines jeden Ortes respektierende Form der Reise auf: Aus immer anderen Richtungen nähert man sich in rasender Geschwindigkeit den Orten, je nach Blickwinkel scheint ein Ort in mehrere zu zerfallen, oder mehrere Orte fließen durch die Reisegeschwindigkeiten in einen – die Reise im Automobil führt nicht wohlgeordnet von einer Vorstellung zur nächsten, gestützt durch die Assoziationskraft der Namen, sondern hier verschwimmt die Landschaft in einem Rausch namenloser Bilder.

      In ihrer Flüchtigkeit, ihrer Unschärfe und ihren illusionistischen Effekten ähneln die Eindrücke einer Autofahrt den impressionistischen Bildern ►Elstirs; je mehr er diese im Laufe seiner Balbec-Aufenthalte schätzen lernt, desto mehr kann der Erzähler auch den Verlust der in seiner Phantasie so scharf umgrenzten Orte verschmerzen und die Ausflüge im Automobil genießen. In der Aufhebung heiliger, jedoch nur in der inneren Welt des Erzählers existierender Orte und Grenzen gleicht damit die Wirkung einer Autofahrt dem Effekt jener Bemerkung ►Gilbertes gegen Ende des Romans, man könne bei einem Spaziergang in ►Combray leicht über eine Abkürzung von Swanns Welt zur Welt der Guermantes gelangen. So wie durch diese unerhörte Zusammenführung völlig verschiedener Gebiete die Weltordnung von Marcels Kindheit zusammenbricht, löst die Erfahrung des beliebigen Perspektivenwechsels bei einer Autofahrt jede Möglichkeit einer verbindlichen, individuellen Topographie auf. Wie bei seiner Begegnung mit dem ►Impressionismus steht der Erzähler dieser »impressionistischen« Beschleunigung seiner Wahrnehmung durch das Automobil zwiespältig gegenüber: Wenn er auch auf die Dauer ihre ästhetische Faszination genießen lernt, so empfindet er sie doch im Zusammenhang mit Albertine immer als bedrohlich: Wie schon das Fahrrad wird das Automobil zum Symbol ihrer Ungreifbarkeit, Undurchschaubarkeit und Flüchtigkeit. Allein die Vorstellung, zu welchen Eskapaden die untreue und geschwindigkeitsversessene Geliebte das Automobil bequem nutzen oder genutzt haben könnte, steigert die ohnehin ständig am Erzähler zehrende ►Eifersucht. Zwar genießen er und Albertine gerade bei ihren Autofahrten Momente ungewohnter Vertrautheit und Sinnlichkeit, der Erzähler ist sich aber bewusst, dass diese Fahrten nur eine Art ›bewegter‹ Gefangenschaft darstellen – indem er Albertines Bewegungsdrang nachgibt und mit ihr fährt, begeben sie sich gemeinsam auf eine ziellose Flucht; nie gelangen sie an einen Ort, an dem er sie kontrollieren und besitzen könnte, er kann lediglich verhindern, dass sie ihm alleine davonfährt. Diese bis zuletzt zwiespältige Haltung zu einem Gefährt, das einerseits die Topographien von Phantasie und Erinnerung zerstört, andererseits einen rauschhaften, flüchtigen Bildgenuss ermöglicht, einerseits die Geliebte in ihrem eigentlichen Element leben lässt, dabei aber andererseits ihre Flüchtigkeit umso schmerzlicher hervorhebt – dieser Zwiespalt unterscheidet Prousts Haltung zum Automobil von der seiner enthusiastischen und technikoptimistischen Zeitgenossen wie zum Beispiel den Futuristen, die es als Mittel zur Befreiung von räumlichen und zeitlichen Zwängen feiern.

       Badeanzug

      Peinliches Kleidungsstück des kindlichen Erzählers, das den Spott von ►Charlus herausfordert, als Marcel auf seine Avancen nicht so reagiert, wie Charlus sich dies wünscht, sondern stattdessen die Liebe zu seiner Großmutter beschwört: »›Mein Herr‹, sagte er mit eisiger Miene und trat einen Schritt zurück, ›Sie sind noch jung, Sie sollten die Gelegenheit nutzen, zwei Dinge zu lernen: zum ersten sollten Sie davon Abstand nehmen, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die zu natürlich sind, als dass sie sich nicht von selbst verstünden; zum anderen, nicht hitzig auf Dinge, die man Ihnen sagt, zu antworten, bevor Sie deren Bedeutung erfasst haben. Wenn Sie eben gerade diese Vorsicht hätten walten lassen, hätten Sie sich erspart, den Eindruck zu erwecken, Sie redeten ungereimtes Zeug daher wie ein Gehörloser, und damit eine zweite Albernheit zu der ersten hinzuzufügen, nämlich den gestickten Ankern auf Ihrem Badeanzug.‹« Dieser Spott wirkt zunächst nur wie ein beliebiger Hieb unter die Gürtellinie, mit dem Charlus seinem Ärger darüber Luft macht, dass Marcel den »tieferen Sinn« seiner Scherze, nämlich deren erotischen Charakter, nicht begriffen hat. Auf den zweiten Blick jedoch greift der zurückgewiesene Charlus mit seiner Häme nicht nur Marcel an, sondern in einem verbitterten autoaggressiven Akt wendet sich seine Enttäuschung hier gegen ihn selbst. An vielen anderen Stellen des Romans erscheint gerade der Baron als ein Liebhaber diskreter Stickereien auf Taschentuchrändern, Socken, Kragen usw. Während er nach außen hin rigorose Männlichkeit vertritt, jeden hübschen Jüngling für eine verweichlichte »Kanaille« hält und einem Mann »nicht einmal das Tragen auch nur eines Ringes zugestehen« will, blitzt in den Stickereien, den Farbrändern, den Socken unter seiner elegant schlichten Kleidung eine geheime, von ihm selbst als unmännlich verdrängte Identität auf, im Verborgenen der Wäsche knospt seine ganz persönliche Mädchenblüte: »In diesem Augenblick bemerkte er, dass ein besticktes Taschentuch seinen farbigen Rand aus seiner Tasche hervorlugen ließ, und schob es rasch mit der erschreckten Miene einer schamhaften, aber keineswegs unschuldigen Frau zurück, die Reize verbirgt, die sie in übertriebener Bedenklichkeit für anstößig hält.«

      Die Schmähung der kleinen gestickten Anker offenbart also eine wichtige Grundregel im scheinbar so unberechenbaren Verhalten des Barons: Jede Grausamkeit, jede Aggression seinerseits ist immer auch eine Aggression gegen ihn selbst, in der der konventionelle, zwanghaft angepasste Teil seiner Persönlichkeit den anderen, verborgenen straft und sich die geheimen Lüste verbietet. Gegen Ende des Romans wird die Selbstbestrafung von Charlus sehr viel krassere Formen annehmen als die Verdammung hübscher Ornamente – nur indem er sich in Ketten gelegt auspeitschen lässt, kann der stets Zurückgewiesene und nun auch gesellschaftlich Geächtete noch sexuelle Befriedigung finden. Diese Entwicklung ist für Marcel umso bestürzender, als gerade Charlus’ Beobachtungsgabe, seine Liebe zum Detail, sein Formensinn und sein unübertreffliches Gedächtnis für Stile und Moden ein Vorbild für künstlerische und insbesondere schriftstellerische Tätigkeit sein können. Charlus trägt in der Gesellschaft den Spitznamen »die Schneiderin«, und Proust wird in Die wiedergefundene Zeit die Arbeit an seinen Manuskripten, an deren Rändern er Teile anstückt, mit ►Françoises Näharbeiten vergleichen. Letztlich ist es also auch die Verdrängung


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