Felsig, karg und hoffnungsgrün. Hildi Hari-Wäfler

Felsig, karg und hoffnungsgrün - Hildi Hari-Wäfler


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eines einfachen Holzhauses zu erhalten. Es wurde dicht neben der bereits bestehenden Scheune errichtet.

      Meine Mutter, Rosina Wäfler, wurde 1909 unter dem Familiennamen Rösti geboren. Sie war die Älteste von sechzehn Kindern. Da es immer wieder schwierig war, eine so große Familie zu ernähren, verließ Rosina schon früh das Elternhaus, um an verschiedenen Orten im Unterland ihre Erfahrungen zu sammeln. Unter anderem verbrachte sie zwei Jahre im Welschland, je ein Jahr in Genf und in Cernier. Sie sprach fließend Französisch. Besonders während ihrer Zeit in Genf litt sie unter so starkem Heimweh, dass sie sich manchmal am Boden wälzte, um den Schmerz zu verarbeiten. Es waren die Berge, die ihr fehlten, und auch ihre Familie. In Genf musste sie während der Mahlzeiten alleine in der Küche bleiben. Wenn dann die Überreste der Speisen aus dem Salon kamen, wurde sie aufgefordert zu essen – aber nur so viel, dass für den nächsten Tag noch übrig bliebe. Dabei kam manchmal von den Köstlichkeiten ohnehin nicht mehr viel zurück. Im ländlichen Cernier fühlte sie sich jedoch wohl und fand dort eine Freundin fürs Leben.

      Nach dieser Zeit kam Rosina wieder nach Hause und versuchte, der Mutter in ihrer großen Aufgabe beizustehen. Es dauerte aber nie lange, bis diese zu ihr sagte: „Rösi, such dir doch wieder eine Stelle, deinem Vater wird angst, wenn so viele zu Hause sind“. In Weggis am Vierwaldstättersee erlernte Rosina den Beruf einer Wäscheschneiderin. Die Gegend gefiel ihr außerordentlich gut. Der See und die Berge hatten es ihr angetan. In der praktischen Abschlussprüfung schloss sie als Beste ab. Zurück in Adelboden, wurde sie dann vom Leinenhaus Maertens angestellt, bediente im Laden, nähte aber zur Hauptsache auf Bestellung der einheimischen Kunden und der Gäste. Außerdem konnte sie junge Frauen im Nähen ausbilden.

      Auch als verheiratete Frau nahm sie Aufträge entgegen, fertigte Kleidungsstücke an oder nähte Aussteuerwäsche für Bräute. Oft saß sie tagelang an ihrer Tretmaschine – neben all der Hausarbeit, die erledigt werden musste. Es war jedoch keine Arbeit, die großen Gewinn einbrachte. Für ein Herrenhemd mit Kragen schnitt sie am Morgen den Stoff zu nach Muster, nähte dann die Teile zusammen und bis zum Abend waren auch die Knopflöcher in feinster Handarbeit ausgeführt. Für ihr Tagewerk erhielt sie dann gerade einmal zwei Franken fünfzig Rappen. Immer wieder musste sie auch anstelle von Bargeld Naturalien annehmen: Käse, Milch, Eier oder ein Stück Fleisch. Dann entsprach ihr Tageslohn etwa acht Litern Milch oder fünf Kilo Brot.

      Nach der Hochzeit meiner Eltern dauerte es keine zwei Jahre, bis aus dem Ehepaar eine Familie wurde. Im Mai 1935 wurde ich geboren, gut ein Jahr später kam mein Bruder Wilhelm Junior, genannt Willi, zur Welt.

      Mitten im Heuet, am 30. Juli 1936, hielt er seinen Einzug in der Oey. Die Hausgeburt verlief nicht ohne Schwierigkeiten und zog sich lange hin. Schließlich konnte auch er freudig begrüßt und willkommen geheißen werden. Ein männlicher Stammhalter zählte damals für bäuerliche Verhältnisse fast doppelt so viel. Der Hausarzt riet meinen Eltern jedoch, in Zukunft besser auf weitere Kinder zu verzichten. Das war ein gut gemeinter Ratschlag, allerdings gab er keine konkreten Hinweise, wie dieser zu befolgen sei. Empfängnisregelung und Familienplanung waren damals noch kaum ein Thema.

      Willi war ein zartes Kind. Leider konnte ihn Mutter nicht stillen und Geld für Babynahrung war auch keines da. So wandte Rosina alle Künste an, um die Kuhmilch einigermaßen erträglich für ihren Sprössling zu machen. Als die Anfangsschwierigkeiten überwunden waren, entwickelte Willi sich allmählich zu einem gesunden, lebhaften Buben.

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      Unser Wohnhaus in der Oey heute – nach mehrmaligem Umbau.

       Nicht aufgeben

      In den ersten Jahren waren die finanziellen Verhältnisse unserer Familie prekär. Oft sahen meine Eltern mit Bangen den Tagen entgegen, an denen der Pachtzins fällig wurde. Auch die Bank forderte pünktlich ihre Raten. So nutzte mein Vater jede Gelegenheit, um bei Straßenarbeiten, Baustellen, Bachverbauungen oder anderswo zusätzlich etwas zu verdienen. Er trotzte jedem Wetter, war ein beliebter Arbeiter, lernte schnell und begriff Zusammenhänge. Man merkte, dass er sich hier mit genau den Arbeiten beschäftigte, von denen er einst geträumt hatte. Das wirkte sich auch zu Hause positiv aus, indem er fortan sämtliche Reparaturen und kleineren Ausbauten selbst ausführen konnte.

      Mein Vater war ein typischer „Rucksäcklibauer“. So nannte man damals alle jene Bergbauern, deren Familien nicht allein vom Ertrag der Landwirtschaft leben konnten. Sobald der Winter vorbei war, packten sie ihre Verpflegung in den Rucksack und nahmen für kürzere oder längere Zeit jede Tätigkeit an, die sich ihnen bot. Natürlich war das nicht immer einfach. Gerade in der Zeit der Rezession in den 1930er-Jahren war es nicht selbstverständlich, eine Anstellung zu finden.

      Wenn die Männer im Tal oder auswärts unterwegs waren und Geld verdienten, lag die Hauptverantwortung für den bäuerlichen Betrieb auf den Frauen. Die schwersten Arbeiten wurden auf den Feierabend verlegt oder auf den freien Samstagnachmittag. Der Sonntag war dafür da, um für die kommende Woche aufzutanken und neue Kraft zu schöpfen für Körper und Seele.

      Meiner Mutter fiel die Umstellung von der feinen Arbeit am Nähtisch auf das Bauern nicht leicht. So musste sie, die junge Schneiderin, von einem Tag auf den anderen das Melken erlernen. Zu der Zeit betreute Wilhelm während des Winters zusammen mit einigen anderen Männern die Eisbahn des Hotels National und kam deshalb nachts nicht heim. Fast jedes Hotel hatte damals seine eigene Eisbahn. Diese musste bei gewissen Minustemperaturen gespritzt und bei Schneefällen geräumt werden. Natürlich war Mutter sehr aufgeregt, denn von Hand melken will geübt sein. Es braucht nicht nur Kraft in den Händen, sondern auch Geschicklichkeit, eine gewisse Technik und vor allem Ausdauer. Nicht jede Kuh hält still – und schon gar nicht bei einer Anfängerin. Das erfuhr auch Mutter. So konnte es leicht geschehen, dass der Melkstuhl, auf dem sie saß, durch eine ungeschickte Bewegung der Kuh ins Wanken geriet und der Kessel mit der Milch umkippte. Oder Sie musste inkauf nehmen, dass der nasse Schwanz einer Kuh sie mitten ins Gesicht traf. Es verging einige Zeit, bis Rosina auf das gewohnte Quantum Milch kam. Durch Melkfett, das den Kühen an die Euter gestrichen wurde, heilten schließlich auch ihre rissigen Hände wieder.

      Während einiger Jahre hatten meine Eltern jedoch noch ganz andere Sorgen mit den Tieren im Stall. Auf unerklärliche Weise und ohne triftigen Grund wurde immer wieder eines der Tiere krank oder verlor eine Kuh ihr Kalb. Der Tierarzt hatte öfter in unserem Stall zu tun. Manchmal blieb nichts anderes übrig, als ein Tier zu schlachten. Das legte sich belastend auf die Gemüter. In diesen harten Jahren musste Mutter oft mit Tränen in den Augen die nötigsten Lebensmittel für den Haushalt beschaffen. Der Krämer schrieb geduldig auf, bis er irgendwann zu seinem Betrag kam. Später, als alles besser wurde, nahm sich Rosina vor: „Gerate nur nie wieder in eine solche Lage.“

      Die Schwierigkeiten dauerten einige Jahre und hörten dann plötzlich auf mit einer Kuh namens „Freude“. Sie war durch Kauf in den Stall gekommen und sorgte für gesunden, meist weiblichen Nachwuchs mit großer Milchleistung. Die Nachkommen der „Freude“ waren bei den Viehhändlern sehr begehrt.

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      Rosina Wäfler-Rösti mit Willi und Hildi (stehend).

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      Hildis erster Geburtstag am 4. Mai 1936.

       Scheune in Flammen

      An einem Vormittag im Juni kam Bewegung in die Bevölkerung von Adelboden. Das Feuerhorn ertönte an allen Ecken. „Es brennt! Es brennt!“, riefen die einen den anderen zu. „Ja, wo brennt es denn? Hier im Dorf kann es nicht sein, das müssten wir sehen.“ „Unten in der Oey, direkt unter dem Hotel Nevada Palace, steht ein Haus oder eine Scheune oder beides in Flammen. Genaues wissen wir nicht. Es muss bei Wäflers sein – nicht das alte Bauernhaus der Witwe, sondern die Gebäude des Sohnes Wilhelm, ganz in der Nähe.“ Auf dem Risetensträßli, nahe dem Dorf, sammelten sich bereits


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